Stefan Scheil: 707. Infanteriedivision. Strafverfolgung, Forschung und Polemik um einen Wehrmachtsverband in Weißrußland, Aachen: Helios Verlag 2016, 120 S., ISBN 978-3-86933-156-0, EUR 19,80
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Jeder, der sich mit dem Thema "Wehrmacht und Holocaust" beschäftigt, kennt sie: die 707. Infanterie Division. Sie spielte in den beiden so genannten Wehrmachtsausstellungen eine zentrale Rolle, war sie doch von Sommer 1941 bis Frühjahr 1942 als Besatzungsdivision im "Generalkommissariat Weißruthenien" stationiert und dort in die Ermordung der örtlichen jüdischen Bevölkerung verwickelt bzw. direkt daran beteiligt. Hannes Heer, Christian Gerlach sowie der Rezensent haben sich mit verschiedenen Fragestellungen diesem Verband genähert und kamen dabei zu unterschiedlichen Ergebnissen: Heer stellte die 707. als eine gewöhnliche Division dar und somit als pars pro toto für die Beteiligung der Wehrmacht am Holocaust. [1] Gerlach hingegen betonte die Sonderrolle der 707. Infanterie Division, war sie doch in der besetzten Sowjetunion die einzige Division der Wehrmacht, die selbständig und systematisch große Massaker an Juden organisierte und durchführte. [2] Lieb schließlich entdeckte das persönliche Tagebuch des Obersten Carl von Andrian, eines Regimentskommandeurs in dieser Division. Er wies auf die unterschiedliche Beteiligung der beiden Infanterie Regimenter dieser Division bei der Erschießung von Juden hin. [3]
Auch wenn die 707. Infanterie Division in Darstellungen zu den Verbrechen der Wehrmacht im "Unternehmen Barbarossa" immer wieder zitiert wird, so hat doch seither kein Historiker mehr Primärforschung zu diesem Verband betrieben. Nun liegen fast zeitgleich zwei neue Studien zur 707. Infanterie Division vor und bieten eine Neuinterpretation: Die eine Arbeit stammt aus der Feder von Walter Post [4], die andere - hier besprochene - von Stefan Scheil. Beide gelten unter Historikern als Außenseiter, sind sie doch in der Vergangenheit bereits mehrfach durch dezidierten Geschichtsrevisionismus aufgefallen.
Im Kern ging und geht es bei der Diskussion um die 707. Infanterie Division um zwei Fragen: Erstens, in welchem Ausmaß organisierte die Division eigenständig Massenerschießungen von Juden und führte diese auch aus? Zweitens, war das Reserve Polizeibataillon 11 im Oktober 1941 der Division unterstellt? Dieses Bataillon ermordete im Oktober knapp 6000 Juden im Raum südlich von Minsk. Die Quellenlage ist so disparat, dass weltweit nur eine Handvoll Historiker diese Spezialdiskussion über die 707. Infanterie Division führen kann. Von der Division - oder besser gesagt: dem Stab - sind lediglich einige Monatsberichte und Befehle überliefert. Als weitere Quellen kommen hinzu: das Tagebuch des Obersten Andrian sowie eine vergleichsweise große Anzahl von Akten der deutschen Nachkriegsjustiz, die sich mit den Massenmorden in Weißrussland 1941 beschäftigte.
So weit zu den Ausgangsvoraussetzungen in der Forschung zur 707. Infanterie Division. Wie zuvor schon Post tritt nun auch Scheil den Versuch an, die bisherigen Forschungsergebnisse zu dieser Division vollkommen auf den Kopf zu stellen. Bereits in der Einleitung setzt Scheil zu einem wütenden Rundumschlag gegen die bisherige Wehrmachtsforschung an. Der Tenor: Alles falsch bisher! Auf den anschließenden 100 Seiten kommt er schließlich zu dem Ergebnis, die Division habe versucht, "die eigene Truppe aus den Massenerschießungen möglichst herauszuhalten" (105); auch sei ihr das Reserve Polizeibataillon 11 nicht unterstellt gewesen. Folglich seien die bisherigen Thesen zur 707. Infanterie Division auf Sand gebaut.
Was ist von Scheils Thesen zu halten? Neue Quellen kann der Autor hierfür nicht vorlegen, sondern er interpretiert die bisher bekannten neu. Er weist auf Unstimmigkeiten in den Quellen hin. Einige Verbrechenskomplexe der Division lassen sich aufgrund der schwierigen Quellenlage durchaus auch anders deuten oder um es anders zu sagen: Manche Sachverhalte zum Komplex "707. Infanterie Division und Holocaust" lassen sich nicht mehr zweifelsfrei klären. Als abwägender Historiker sollte man dies auch klar so ausdrücken und darstellen. Nur: Scheil ist kein abwägender Historiker. Er reitet mit eng angelegten Scheuklappen auf einem erinnerungspolitischen Revisionisten-Trip.
Scheil versucht Schritt für Schritt, sämtliche bisherige Thesen zur 707. Infanterie Division zu widerlegen. Dabei verliert sich der Autor immer wieder in einer wirren Argumentation um Details und vergisst dabei die großen Linien. In seinem Eifer marginalisiert er alles, was nicht in sein Weltbild passt. Stattdessen zitiert er lange und ausführlich aus Zeugenaussagen der bundesdeutschen Nachkriegsjustiz, ohne sich der Problematik dieser Quellengattung voll bewusst zu sein. Solange die Aussagen in seinem Sinne stimmen, geben sie für Scheil die Wahrheit wieder. Wenn nicht, dann sind die Aussagen gelogen oder erpresst worden. Historische Quellenkritik geht anders.
Immer wieder bezichtigt Scheil andere Historiker der "Recherchepanne" (59/60) und "fehlender Quellenkenntnis" (85). Peinlich ist es aber, wenn er selbst mehrfach die Forschungsliteratur oder die Quellen falsch zitiert bzw. interpretiert. So behauptet er mehrmals, der Rezensent habe in seinem Aufsatz wichtige Aussagen im Andrian-Tagebuch unterschlagen (73f.). In Wahrheit hat der Rezensent aber genau diese Stellen angeführt - sogar wörtlich. [5] Scheil arbeitet also mit falschen Unterstellungen. Auch spricht es nicht unbedingt für den selbsternannten "Retter der Wehrmacht" Scheil, wenn ihm sein eigentlicher Untersuchungsgestand, das Militär, fremd ist. So wird der Divisionskommandeur schnell mal zu einem "Oberkommandeur über beide Divisionsteile" (70), oder der Autor führt eine neue militärische Terminologie ein: das "rechtliche Unterstellungsverhältnis" (103). Entgangen ist Scheil hingegen die Sonder- und Doppelfunktion des Stabs als Divisionsstab einerseits sowie als Kommandant in Weißruthenien andererseits. Der Stab war somit gleichzeitig für die Truppe (also die 707. Infanterie Division) zuständig und in Territorialfragen für die militärische Sicherung des Generalkommissariats Weißruthenien. Gerade dies ist für das Verständnis der Massenmorde entscheidend.
Scheil versucht hingegen durchgehend, die Aussagekraft der zahlreichen den Divisionskommandeur und Kommandanten in Weißruthenien, Generalmajor Gustav von Bechtolsheim, belastenden Quellen zu widerlegen. Man kann zwar durchaus in Frage stellen, ob Bechtolsheim wirklich ein "Organisator des Holocausts" war und selbst initiativ handelte, wie Hannes Heer meint. Dennoch strotzen die überlieferten Befehle und Berichte Bechtolsheims nur so von übelster antisemitischer Hetze und sind auch in der sonstigen Diktion von einer Schärfe, die sich für andere Wehrmachtsdivisionen nicht in dieser Häufung finden lassen. Folgende Beispiele machen dies nur allzu deutlich: "Ihre Vernichtung [d.h. der Juden, Anm. P.L.] ist daher rücksichtslos durchzuführen." Oder: "Wie in vorstehenden Befehlen angeordnet, müssen die Juden vom flachen Lande verschwinden und auch die Zigeuner vernichtet werden." [6] An anderer Stelle lautet es in einem Monatsbericht von Oktober/November 1941: "Anzahl der Gefangenen: 10.940, davon 10.431 erschossen." [7] Viele weitere Beispiele ließen sich anführen. Kurz: Es geht nicht um ein oder zwei scharfe Befehle, sondern die Radikalität zieht sich wie ein roter Faden durch die Akten. Dies zeigt deutlich, welch unheilvoller Geist im Stab des Kommandanten in Weißruthenien herrschte. Nicht jedoch für Scheil. Geradezu grotesk ist es, wie er diese Befehle und Berichte konsequent herunterspielt. Er geht sogar so weit, die Authentizität einzelner Quellen anzuzweifeln (88).
Dabei gäbe es über die 707. Infanterie Division bzw. den Kommandanten in Weißruthenien und den Holocaust so viele Ansatzpunkte für weitere Recherchen: das Innenleben des Stabs mit einem schwachen und leicht beeinflussbaren Kommandeur; die hohe Anzahl von SA- und SS-Führern im Stab; die unterschiedliche Haltung zur Ermordung örtlicher Juden einerseits sowie reichsdeutscher Juden andererseits; die Gründe für das Ende der Teilnahme an den Judenmorden zum Jahreswechsel 1941/42; der mögliche Lernprozess der Division im Partisanenkampf 1942. Von all dem erfahren wir bei Scheil aber nichts.
Es besteht kein Zweifel, dass sich für die Zukunft viele Entwicklungsmöglichkeiten und neue Ansätze zum Thema "Wehrmacht und Vernichtungskrieg" bieten. Das vorliegende Buch kann hierfür aber keinesfalls neue Impulse geben. Es ist schlecht geschrieben, von Druckfehlern durchzogen, schlampig recherchiert und in seinen Thesen unhaltbar. Bei Scheil stand ganz offensichtlich das (erinnerungspolitische) Ergebnis schon fest, bevor er überhaupt zum Schreiben ansetzte. Professionelle und seriöse Geschichtswissenschaft sieht anders aus.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Hannes Heer: Killing Fields. Die Wehrmacht und der Holocaust, in: Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944, hg. von Hannes Heer / Klaus Naumann, Hamburg 1995, 57-77. Ders.: Extreme Normalität. Generalmajor Gustav Freiherr von Mauchenheim gen. Bechtolsheim. Umfeld, Motive und Entschlussbildung eines Holocaust-Täters, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 51 (2003), 729-753.
[2] Vgl. Christian Gerlach: Kalkulierte Morde. Die deutschen Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weißrußland 1941-1944, Hamburg 1999.
[3] Vgl. Peter Lieb: Täter aus Überzeugung? Oberst Carl von Andrian und die Judenmorde der 707. Infanteriedivision 1941/42, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 50 (2002), 523-557.
[4] Vgl. Walter Post: Wehrmacht und Holocaust. War das Heer 1941 an "Judenaktionen" beteiligt?, Selent 2016.
[5] Vgl. Lieb: Täter, jeweils 540.
[6] Staatsarchiv Minsk, 378-1-698. Der Kommandant in Weißruthenien des Wehrmachtbefehlshabers Ostland, Abt. Ia, Befehle vom 16.10. und 24.11.1941.
[7] Bundesarchiv, Abteilung Militärarchiv, RH 26-707/2, Monatsbericht des Kommandanten von Weißruthenien 11.10.-10.11.1941.
Peter Lieb