Ernst Müller / Falko Schmieder: Begriffsgeschichte und historische Semantik. Ein kritisches Kompendium (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft; 2117), Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag 2016, 1027 S., ISBN 978-3-518-29717-9, EUR 30,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Nichts Geringeres als "Pyramiden des Geistes" hat laut Hans Ulrich Gumbrecht die Begriffsgeschichte im 20. Jahrhundert hervorgebracht. Es wundert deshalb nicht, dass das vorliegende "kritische Kompendium" von Ernst Müller und Falko Schmieder (beide Zentrum für Literatur- und Kulturforschung, Berlin) ebenfalls monumentale Ausmaße hat. Eine beeindruckende Anzahl historisch-semantischer bzw. begriffsgeschichtlicher Zugriffe aus den Bereichen der Philosophie, der Philologie bis hin zur Kunst- und Kulturwissenschaft sind in dieser "Kollektivmonographie" (10) zusammengetragen. Auf über 1000 Seiten werden diese detailliert anhand ihrer Protagonisten und nach Disziplinen gesondert diskutiert, kritisiert und auf ihre heutige Verwendbarkeit geprüft. Der Frage nach Genese und Geltung historisch-semantischer Methoden in dieser Weise gebündelt nachzugehen, darf ohne Zweifel als Pionierleistung gelten.
Die bis zur Aufklärung zurückverfolgte Genese der westeuropäischen und amerikanischen Varianten der Historischen Semantik im Allgemeinen und der spezifisch deutschsprachigen Begriffsgeschichte im Besonderen werden dabei vor allem unter zwei Gesichtspunkten betrachtet: Einerseits fragen Müller und Schmieder nach dem Umgang mit dem Problem des "Historismus" bzw. der "Historisierung" und andererseits nach der "Interdisziplinarität" der einzelnen begriffsgeschichtlichen Ansätze (21). Die Geschichte der historischen Semantik aus diesen beiden Blickwinkeln heraus zu beschreiben, hat eine lange Tradition. So prophezeite etwa Hans-Ulrich Wehler bereits im Jahr 1979 seinem Bielefelder Kollegen Reinhart Koselleck, dass dessen Begriffsgeschichte schon "auf mittlere Sicht in die historistische Sackgasse" führen werde und ihre Existenz allenfalls als interdisziplinäre Hilfswissenschaft für die Sozial- und Kulturwissenschaften legitimiert werden könne. [1]
Entsprechend bevorzugen die Autoren anti-historistische, anti-hermeneutische, materialistische und holistische Formen der Begriffsgeschichte und richten ihre Kritik vor allem auf historistisch-hermeneutische und geschichtstheoretisch ambitionierte Varianten der Historischen Semantik, die allerdings die Mehrheit der besprochenen Beispiele bilden. Da letztere besonders für die Geschichtswissenschaft interessant sind, stehen diese im Fokus der Rezension.
Viel Aufmerksamkeit wird dem als konservativ eingeschätzten "Utopiekritiker" (326) Reinhart Koselleck zuteil, dessen Bemühungen um eine Erneuerung der Geschichtstheorie und Historik letztlich der "Verewigung" (327) gesellschaftlicher Ungleichheit gedient hätten. Zudem wird Koselleck eine große Inkonsequenz in der Verknüpfung seiner methodischen und theoretischen Überlegungen attestiert. Denn Müller und Schmieder zufolge setze Kosellecks begriffsgeschichtliche Methode die Nachrangigkeit und Abhängigkeit der semantischen Reflexionsebene gegenüber der gesellschaftlichen Basis notwendig voraus. Dies stehe jedoch im Widerspruch dazu, dass Koselleck in seiner Historik eine Kluft, einen Hiatus zwischen Welt und Sprache behaupte und damit die relative Autonomie und Eigenzeitlichkeit beider Sphären. Mit Niklas Luhmann ließe sich allerdings zeigen, dass strukturelle Abhängigkeit und systemische Autopoiesis sich keineswegs logisch ausschließen müssen. Doch auch Luhmann musste einräumen, dass bei Koselleck der "gesellschaftliche Bedingungszusammenhang" letztlich "unterbelichtet" bleibe (338).
Diskutieren ließe sich auch ein weiterer Kritikpunkt der Autoren, wonach Kosellecks "(vermeintlich) anthropologische Konstanten" (327) - also die Behauptung prinzipieller Wiederholbarkeit von basalen Formen sozialer, sachlicher und zeitlicher Differenzierung - ebenfalls im Widerspruch stünden zu seiner These der unaufhebbaren Geschichtlichkeit allen Seins. Kosellecks Rede von rein formalen Wiederholungsstrukturen, wie etwa die Unterscheidungen von Oben/Unten, Innen/Außen und Früher/Später, wird von Müller und Schmieder als Postulat "überzeitlicher" und "essentialistischer" Gesetzmäßigkeiten verstanden. Doch waren diese geradezu ironisch minimalistisch formulierten Differentialen letztlich nie anders als zu heuristischen Zwecken bestimmt, zumal Koselleck stets skeptisch blieb, ob aus der Geschichte generelle Lehren gezogen werden könnten. [2] Im Vergleich zu Foucault erscheint Kosellecks Historik jedenfalls als klare Absage gegenüber allzu dogmatischen metaphysischen Festlegungen. Letzteres war übrigens eine historistische Grundüberzeugung fast aller begriffsgeschichtlicher Forscher. So erklärte etwa Richard Koebner bereits 1924 in Anlehnung an Max Weber, der "Erkenntniswert" geschichtswissenschaftlicher Forschung hänge davon ab, "daß sie des Abschlusses in einer historischen Weltanschauung nicht bedarf". [3]
Müller und Schmieder verbinden ihre Kritik mit der Forderung nach einem iconic turn (753ff.), practical turn und material turn (586ff.) der Begriffsgeschichte, was für sich genommen zweifellos berechtigt ist. Doch ihre gleichzeitige Ablehnung einer "starke[n] Subjektivierung von geschichtlichen Prozessen und [der] Sprachbezogenheit ihrer Erfassung" (283) - mit anderen Worten: des Kontingenzbewusstseins, des Konstruktivismus' und des linguistic turn - verwundert: Waren nicht gerade diese Punkte die eigentlichen Innovationen der Begriffsgeschichte?
Es scheint, dass vor allem zwei Momente Müllers und Schmieders Darstellung leiten, die der begriffsgeschichtlichen Tradition eher entgegenstehen: einerseits jene überkommenen Dichotomien von Materialismus versus Idealismus, Erklären versus Verstehen, Macht versus Interpretation, und interessanterweise damit andererseits immer auch der "fröhliche Positivist" Michel Foucault. Allein drei Kapitel sind Foucault gewidmet, dessen "dezidiert antihermeneutisches Begriffsverständnis" allein die "übliche (geisteswissenschaftliche) Dichotomie zwischen Leben und Geist unterlaufe[n]" (578) könne, um die Historische Semantik zukunftsfähig zu machen. Dass diese Dichotomie jedoch auch eine soziopolitische Funktion hatte, und etwa dem deutsch-jüdischen Kulturphilosophen Ernst Cassirer dazu diente, dem anti-historistischen und völkisch-biologistischen material turn der Zwischenkriegszeit entgegenzutreten, wird dabei in den Hintergrund gedrängt. Hier wünschte man sich ein stärkeres Eingehen auf jenes methodische und theoretische Potential, das dieser heute kaum mehr beachtete Autor in die Entwicklung einer durchaus auch ideologiekritischen Historischen Semantik einbrachte und noch einbringen kann. [4]
Cassirers semantische Methodik ist Müller und Schmieder zufolge "in ihrer Historizität uneindeutig" (92). Doch Cassirers eigentliches Anliegen, auf der Grundlage der Historischen Semantik eine genuin kulturgeschichtliche Theorie zu entwickeln, war ein wichtiger Impuls zur Entwicklung eines selbstkritischen Bilds der Moderne. Richard Koebner und Reinhart Koselleck sind ihm darin gefolgt und brachten unabhängig voneinander ein erstaunlich ähnliches Bild einer um 1800 beginnenden und vor allem durch Verzeitlichung geprägten Moderne hervor. Es wäre daher interessant gewesen, der Frage nachzugehen, ob diese Kombination aus genuin historisch-semantischer Methode, Theorie und Neuzeit-Narrativ den eigentlichen Beginn und das zentrale Merkmal jener Tradition markiert, die sich erstmals deutlich abhob von den herkömmlichen hermeneutischen und philologischen Verfahrensweisen der Geisteswissenschaft.
Da Müller und Schmieder sich jedoch fast ausschließlich auf methodische Aspekte konzentrieren, verliert ihre Definition dessen, was man unter Historischer Semantik und Begriffsgeschichte zu verstehen habe, an Trennschärfe. Von Nietzsche über Freud bis hin zur frühen Frankfurter Schule, Ludwik Fleck und Thomas Kuhn werden alle, die aus dem klassischen Kanon der Geisteswissenschaften ausscherten, zum weiteren Kreis der Begriffsgeschichte hinzugezählt. Andere maßgebliche Einflüsse fehlen hingegen: Weder das in der Theologie geschärfte Verständnis für die Umstrittenheit von Begriffen noch rechtswissenschaftliche oder politologische Ansätze werden berücksichtigt.
In der Einleitung finden sich wichtige Überlegungen, um einen solch breiten Zugriff auf das Thema durch einen "problemgeschichtlichen" Zugang klar strukturiert darzulegen (22f.), doch der tatsächliche Aufbau des Kompendiums kann dies nicht einlösen. Vielmehr wird jede Methode eingeordnet in schwer voneinander unterscheidbare "Disziplinen" wie etwa "Geschichtswissenschaft - Politische Ideengeschichte - Sozialwissenschaft" oder "Kulturwissenschaft - Cultural History - Cultural Studies". In werk- bzw. personenzentrierten Abschnitten werden diese dann unabhängig voneinander besprochen, ohne dass sich zwischen den einzelnen Unterkapiteln ein problemgeschichtlich-inhaltlicher roter Faden auffinden ließe. So werden Mehrfachnennungen und Wiederholungen unausweichlich, und gerade der von Müller und Schmieder so stark betonte Aspekt der "Interdisziplinarität" ist nicht immer nachvollziehbar.
Dabei könnte eine problemgeschichtliche Zugangsweise durchaus jenes innovative Potential der Historischen Semantik offenlegen, das vielleicht gerade darin besteht, die überkommene Dichotomie von dialektischem Materialismus versus hermeneutischem Historismus zu überwinden. Müller und Schmieder betonen mehrfach in Anlehnung an Foucault die Notwendigkeit, die Diskontinuität in der Geschichte herauszustellen, denn nur so könne man der geschichtlichen Kontingenz gerecht werden. Von Koebner und Koselleck kann man jedoch lernen, dass derlei ontologische Festlegungen selbst wiederum nur Teil einer spezifisch modernen "Ideologie der Zeitwende" (Koebner) sind. Der von beiden beschriebene Wandel der politisch-sozialen Semantik um 1800 ist deshalb nicht als absoluter Bruch mit der Vergangenheit zu verstehen, sondern als ein heuristisches Mittel im Dienst einer konkreten Fragestellung. Die in diesem konstruktivistischen Sinne verstandene Frage nach Kontinuität und Diskontinuität muss somit nicht, wie von Müller und Schmieder impliziert, mit der ontologischen Frage der Kontingenz in Konflikt geraten, sondern ist vielmehr eine notwenige Voraussetzung für den Konstruktivismus (ein kulturwissenschaftlicher Grundbegriff übrigens, den man im Index des "kritischen Kompendiums" vergebens sucht).
Trotz dieser Kritikpunkte fällt die Bilanz positiv aus. Müller und Schmieder präsentieren eine enorme Fülle von geschichtlich bedeutenden Ansätzen und weiterhin hochaktuellen Varianten der Historischen Semantik. Um diese Vielfalt an Zugriffen zu ordnen, haben die Autoren sich für die Form eines Kompendiums entschieden und so ein unverzichtbares Nachschlagewerk geschaffen. Darüber hinaus bietet das Werk wichtige Einblicke in die Genese der Historischen Semantik, weshalb es zugleich als hervorragender Ausgangspunkt für zukünftige Forschungsarbeiten zu empfehlen ist.
Anmerkungen:
[1] Hans-Ulrich Wehler: Geschichtswissenschaft heute, in: Stichworte zur "Geistigen Situation der Zeit", Bd. 2: Politik und Kultur, hg. von Jürgen Habermas, Frankfurt a.M. 1979, 709-753, hier 725.
[2] Vgl. Reinhart Koselleck: Historia Magistra Vitae. Über die Auflösung des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte, in: ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a.M. 1989, 38-66.
[3] Richard Koebner: Geschichtsphilosophie. Methodologie. Historiographie, in: Jahresberichte der deutschen Geschichte 5 (1922), 2-17, hier 3.
[4] Vgl. hierzu pars pro toto Ralf Konersmann: Komödien des Geistes. Historische Semantik als philosophische Bedeutungsgeschichte, Frankfurt a.M. 1999.
Peter Tietze