Mathilde von Bülow: West Germany, Cold War Europe and the Algerian War (= New Studies in European History), Cambridge: Cambridge University Press 2016, XVI + 466 S., ISBN 978-1-107-08859-7, GBP 84,99
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Acht spektakuläre Anschläge forderten Ende der 1950er Jahre in Hamburg, Bonn, Köln und Frankfurt mindestens sechs Todesopfer. Praktisch alle Fälle wurden damals als ungelöst zu den Akten gelegt. Mittlerweile ist erwiesen, dass es sich um die Auswüchse des Algerienkriegs (1954-1962) handelte. In diesen Konflikt war die Bundesrepublik Deutschland tiefer verstrickt, als bisher angenommen. Erstmals klar zu belegen, wie weit die Involvierung ging, das ist das Verdienst des hier zu besprechenden Buchs der Historikerin Mathilde von Bülow. Auf der Basis von Primärquellen aus deutschen und französischen Archiven hat sie eine beeindruckende Fallstudie vorgelegt, die viel Neuland erschließt - sowohl im Hinblick auf die 1950er und frühen 1960er Jahre, als auch im Bereich der Terrorism and Intelligence Studies.
Bülow konstatiert, dass die Bundesrepublik Deutschland von einem neutralen Gebiet nicht nur zum "Schutzhafen" (sanctuary) für die Front de Libération Nationale (FLN), sondern auch zum Kampfplatz zwischen den algerischen Rebellen und den französischen Nachrichtendiensten wurde. (11) Grundsätzlich sind auswärtige Basen und Rückzugsgebiete ein zentraler strategischer Bestandteil der klassischen Guerillakriegs-Doktrin: Hier verfügt man über die notwendige Bewegungsfreiheit und relative Sicherheit für diplomatische Initiativen, Propagandaaktivitäten, Fundraising, Rekrutierung und Beschaffung von Kriegsmaterial. Ohne diese Lebenslinien ist es praktisch unmöglich, eine Aufstandsbewegung aufrechtzuerhalten. (12ff.) Im Falle des Algerienkriegs stellten Ägypten und die benachbarten Maghreb-Staaten Tunesien und Marokko mit ihren antikolonialen Regierungen die primären Schutzhäfen dar. In Westeuropa wiederum waren in der Schweiz und Belgien kleinere Basen in der Nähe zu Festland-Frankreich mit seiner großen algerischen Community etabliert worden. Doch in relativ kurzer Zeit sollte die Bundesrepublik Deutschland zum logistischen und operativen Hauptquartier für die FLN in Westeuropa werden. (18f.)
Etabliert hatte sich der Schutzhafen zwischen 1954 und 1958, als die wachsende Repression in Frankreich und die geographische Nähe einen Zufluss von algerischen Exilanten und folglich eine Steigerung von FLN-Aktivitäten in der Bundesrepublik Deutschland mit sich brachten. Die Organisation betrieb hier effektive Propaganda und vernetzte sich mit verschiedenen Exponenten der Zivilgesellschaft. Geduldet durch den tunesischen Botschafter, hatten FLN-Vertreter die Möglichkeit, in der Bonner Mission einen Stützpunkt einzurichten. Zu den Hauptaufgaben dieser "Parallel-Botschaft" gehörte der Ausbau des Nachschub-Netzwerks. Die Waffen aus den Maghreb-Staaten waren nämlich überwiegend veraltet, und die FLN strebte eine Modernisierung des Arsenals an. Dafür war die Bundesrepublik spätestens ab 1960 der zentrale Umschlagplatz - auch weil die damalige Gesetzgebung Waffenschieberei keinen effektiven Riegel vorschob.
Diese Entwicklung bedingte, dass die Bundesrepublik Deutschland ebenso zum Operationsgebiet der französischen Nachrichtendienste wurde. Diese waren entsprechend den Leitlinien von Counterinsurgency (Aufstandsbekämpfung) bestrebt, die auswärtigen Verbindungen der FLN zu kappen und die Schutzhäfen zu neutralisieren. Prioritär war dies auch deswegen, weil bei Entscheidungsträgern die Ansicht vorherrschte, der Aufstand sei das Werk ausländischer Einmischung und kommunistischer Verschwörung. Man griff daher zu einer Kombination aus diplomatischem Druck, "psychologischer Kriegsführung" und ökonomischen Maßnahmen, die darauf abzielten, den Fluss von Geldern oder Material ins eigentliche Kriegsgebiet zum Stillstand zu bringen. Vor allem aber gerieten die ausländischen Netzwerke der FLN ins Fadenkreuz des "guerre d'action" - selbst wenn dies eine Verletzung der territorialen Integrität anderer Staaten und des internationalen Rechts bedeutete. (53)
So wurden zwischen 1956 und 1960 zahlreiche Waffenhändler, aber auch unbeteiligte Zivilisten, bei Anschlägen getötet oder verletzt. Die Mehrzahl der Attentate fand in der Bundesrepublik Deutschland statt und wurde mysteriösen Organisationen der Ultrarechten wie Main Rouge (Rote Hand) oder Catena zugeschrieben. Wie Bülow überzeugend darlegt, konnte man so von der Verantwortung des französischen Auslandsgeheimdienstes und seines Service d'Action ablenken. Der Gegenterror richtete sich ferner gegen FLN-Repräsentanten - allen voran gegen Ameziane Aït Ahcène, den inoffiziellen Vertreter der algerischen Auslandsregierung, der 1958 in Bonn aus einem fahrenden Auto heraus angeschossen wurde. Außerdem führte die französische Marine auf zahlreichen deutschen Handelsschiffen wegen Verdachts auf Waffenschmuggel illegale Inspektionen durch und beschlagnahmte mitunter Fracht. Es kam auch zu Sabotageakten. Aber im Endeffekt war der "guerre d'action" kontraproduktiv. Die FLN wich einfach auf Waffenlieferungen aus dem chinesischen und sowjetischen Machtbereich aus, die nicht so leicht vereitelt werden konnten. Auch nahm Frankreich Schaden an der Propagandafront. Die auf Gangster-Art durchgeführten Anschläge ließen sich von der FLN für ihre Zwecke ausschlachten und schwächten den Rückhalt der französischen Regierung in der Öffentlichkeit.
Die Bundesrepublik Deutschland war also beides gleichzeitig - Schauplatz von Insurgency und Counterinsurgency. Und genauso paradox war die Situation in anderen Bereichen: Das wichtige Hinterland für die Rebellen war für die gesamte Dauer des Algerienkriegs auch der Hauptverbündete Frankreichs. Im Gegenzug für diese diplomatische, moralische und finanzielle Hilfe wurden westdeutsche Sicherheitsinteressen gegenüber dem Ostblock bekräftigt. Eben weil der "Imperativ der deutsch-französischen Aussöhnung" für die Regierung von Bundeskanzler Konrad Adenauer Priorität hatte, verstummte jeglicher Protest gegen die Verletzung westdeutscher Souveränität oder gegen das Abfangen der Handelsschiffe. (329) Die so demonstrierte Loyalität zementierte die Achse Paris-Bonn und ebnete den Weg zum Élysée-Vertrag von 1963, einem Meilenstein der von Adenauer angestrebten Westbindung, so Bülow.
Aber auch gegenüber der arabischen Welt schaffte es die Bundesrepublik Deutschland, sich aus dem Dilemma zu befreien. Die Aktivitäten der FLN waren lange toleriert worden, sofern sie sich im Verborgenen abspielten. Erst 1961 ging Generalbundesanwalt Max Güde gegen drei führende FLN-Vertreter in Westdeutschland vor, die jedoch aufgrund von politischem Druck das Land kurze Zeit später verlassen konnten. Wegen des in der sogenannten Hallstein-Doktrin festgelegten Alleinvertretungsanspruchs für ganz Deutschland war die Bundesrepublik an guten Beziehungen zu einem unabhängigen Algerien interessiert. Hier gelang es, den Wettstreit mit der DDR um Anerkennung und Legitimität zu gewinnen. Algerien nahm 1962 diplomatische Beziehungen mit der Bundesrepublik auf, aber erst 1970 im vollen Umfang mit der DDR.
Der Algerienkrieg und die Rolle der Bundesrepublik Deutschland sind für Bülow Anlass, dafür zu plädieren, das Klischee der provinziellen 1950er Jahre aufzugeben. Lange vor dem Vietnamkrieg seien verschiedene zivilgesellschaftliche Akteure zusammengekommen, um die FLN in ihrem Kampf für Selbstbestimmung zu unterstützen. Die Vorgänge rund um den "Schutzhafen" hätten dazu beigetragen, dass die junge Bundesrepublik ihren Platz in der internationalen Gemeinschaft neu bestimmen konnte. (404) Bülows Buch bietet eine spannende Lektüre. Nicht zuletzt wird deutlich, dass jüngere Entwicklungen wie der US-amerikanische War on Terror mit seinen außergerichtlichen Tötungen oder dem Entführen bzw. Überstellen von Verdächtigen (rendition) in einer längeren Tradition extralegaler staatlicher Terrorismus- und Aufstandsbekämpfung stehen.
Thomas Riegler