Gerhard Wettig (Hg.): Chruschtschows Westpolitik 1955 bis 1964. Gespräche, Aufzeichnungen und Stellungnahmen. Band 1: Außenpolitik vor Ausbruch der Berlin-Krise (Sommer 1955 bis Herbst 1958) (= Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte; Bd. 88/1), Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2016, X + 364 S., ISBN 978-3-11-043756-0, EUR 49,95
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Grundlagenforschung zur internationalen Politik kann aufreibend sein, wenn Dokumente im Hinblick auf aktuelle Interessen nicht zugänglich gemacht werden und Umwege gefunden werden müssen. Für sowjetische Unterlagen gilt dies in besonderem Maße. Daher ist prinzipiell jede Veröffentlichung und Edition zu begrüßen. Die vierbändige Ausgabe zu Chruschtschows Westpolitik hat die Leitung des Russländischen Staatlichen Archivs für Neueste Geschichte (RGANI) selbst initiiert. Sie hat die Publikation bei der Gemeinsamen Kommission zur Erforschung der jüngeren Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen angeregt. Nachdem zunächst 2011 und 2015 die beiden Bände zur Berlin-Krise erschienen, folgten 2016 die chronologisch umrahmenden Bände 1 und 4.
Der hier zu besprechende Band 1 versammelt 27 ins Deutsche übersetzte Dokumente aus dem Bestand 52 des RGANI in Moskau, einem der Kernbestände zur Politik der Chruschtschow-Zeit. Ein Vorwort, eine kurze Einleitung, eine recht umfangreiche Chronologie und ein Personenregister runden den Band ab; ebenso ein Verzeichnis weiterführender Literatur sowie zu veröffentlichten, aber auch zu rund 50 unveröffentlichten Dokumenten aus dem RGANI, aus dem korrespondierenden Parteiarchiv für Unterlagen der Zeit bis 1952 (RGASPI), aus dem Russländischen Archiv für Außenpolitik (AVP RF) sowie dem Bundesarchiv und dem Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes.
Der Schwerpunkt liegt auf Gesprächen mit französischen Regierungsvertretern im Mai 1956 (sieben Dokumente), mit Vertretern der Labour Party (fünf Dokumente) sowie auf Beratungen der Vertreter der kommunistischen und Arbeiterparteien der sozialistischen Länder (1956, 1957, 1958; drei Dokumente). Die übrigen verteilen sich unter anderem auf Zusammenkünfte mit Mitgliedern linker Parteien Italiens, des Folketings Dänemarks, einer Regierungsdelegation Bulgariens, Geschäftsleuten aus Kanada, einem US-amerikanischen Juristen und Vertretern aus beiden Teilen Deutschlands.
Angesprochen werden außen-, innenpolitische, wirtschaftliche, militärische und gesellschaftliche Fragen, die jeweiligen bilateralen Beziehungen sowie weltpolitische Themen wie die Entwicklung der NATO, des Nahen Ostens, die Bewegung der Blockfreien Staaten, die Beziehungen zu den USA, zu Jugoslawien und nicht zuletzt die Deutschlandpolitik. In den Beratungen der kommunistischen und Arbeiterparteien werden auch die Abwicklung der Kominform, die zwischenstaatliche Arbeitsteilung sowie manche Fehler stalinscher Planung für die sozialistischen Staaten verhandelt.
Zur Deutschlandfrage betonte Chruschtschow einerseits gebetsmühlenartig, sie sei in erster Linie eine deutsche Angelegenheit. Die Einigung müsse dort bilateral erfolgen, nicht durch Verhandlungen zwischen den Siegermächten. Andererseits ließ er keinen Zweifel an der globalen Bedeutung: Die DDR sei "unsere offene, entblößte Front im Feuer des Kampfes mit dem Kapitalismus" (53). Nicht zufällig gegenüber einer Delegation gerade der sozialistischen Partei Frankreichs hoben Mikojan und Schepilow zudem das Bedrohungspotential der Bundesrepublik hervor. Es sind solche Passagen, die auf das Thema Berlin-Krise der Folgebände verweisen.
Ein weiteres wiederkehrendes Thema ist die Sicherheitspolitik. Die Bedrohung durch die NATO, der Umbau der sowjetischen Streitkräfte von einer Massenarmee zu einer mit modernen Waffen ausgerüsteten reduzierten Truppe, die Verfügbarkeit der Wasserstoffbombe und die vehemente Ablehnung von Eisenhowers Vorschlag einer Open-Skies-Politik zum Zweck der Rüstungskontrolle kennzeichneten Chruschtschows Gespräche.
Häufig überwiegt Chruschtschows Redeanteil den der Gesprächspartner deutlich. Die für Chruschtschows Reden typischen humoristischen und zum Teil sarkastischen Bemerkungen kommen zum Tragen, wenn er als Kommentar auf ein früheres Gespräch mit Adenauer gegenüber einer Regierungsdelegation der DDR bemerkte "Folglich ist die NATO keine Sportorganisation [...]." (31) Seine derbe Sprache, auf die der Herausgeber in der Einleitung hinweist, schlägt nur selten durch, zum Beispiel als Chruschtschow von der Zeit berichtete "als wir [...] den Imperialisten [...] in die Fresse gehauen haben" (48).
Viele Dokumente werden ungekürzt wiedergegeben. Die Hinweise zu Auslassungen sind dort erhellend, wo sie Kürzungen konkret benennen (64) und lassen den Leser etwas ratlos zurück, wo pauschal auf "politisch unwichtige Fragen" verwiesen wird (172). Hilfreich für alle, die mit russländischen Archivbeständen nicht vertraut sind, wäre noch eine Beschreibung des Bestandes 52 gewesen, aus dem sämtliche Dokumente stammen.
Auch zu den Kriterien der Dokumentenauswahl hätte man gern mehr gelesen. Explizit ausgeschlossen sind bereits in anderen Sammlungen auf Russisch und/oder Deutsch publizierte Dokumente. Das betrifft insbesondere die in diese Zeit fallenden Verhandlungen zum österreichischen Staatsvertrag und Adenauers Moskaureise (1). Neben diesem eher erfreulichen Umstand verweist der Herausgeber auf organisatorische Einschränkungen: Viele Unterlagen, die insbesondere Verhandlungen mit der amerikanischen Regierung betreffen, seien weder für die Auswahl noch für die Einsichtnahme zur Verfügung gestellt worden (1). Vereinzelt gilt das ebenso für Anlagen der im Band veröffentlichten Dokumente (Dokument 7, Anm. 145).
Trotz dieser Einschränkungen ist es begrüßenswert, die Gelegenheit zu nutzen und zunächst die angebotenen Materialien zu publizieren. Da es sich um einen internationalen Kontext handelt, wäre es zum Zweck der Nutzung auch durch nichtdeutschsprachige Forscher/innen sinnvoll, eine englische, möglichst online verfügbare Version folgen zu lassen, idealerweise (dieser Appell geht an die russische Adresse) mit einer Gegenüberstellung des Textes in der Originalsprache, transkribiert und als Scan. Auf diese Weise würde der deutsch-russische Beitrag zur internationalen Forschung gerade im Bereich der internationalen Politik des 20. Jahrhunderts deutlicher sichtbar und breiter rezipierbar.
Für alle, die bei ihren Forschungen zur internationalen Politik nicht auf Quellen verzichten möchten, liegt nun eine sehr nützliche Sammlung vor. Sie ergänzt nicht zuletzt die bisherigen offiziösen und meist russischsprachigen Ausgaben noch aus der Sowjetzeit ebenso wie die Auswahl der "100(0) Schlüsseldokumente" zur russischen und sowjetischen Geschichte (http://www.1000dokumente.de/index.html?c=1000_dokumente_ru&l=de), in der für solche Dokumente kaum Platz ist. Russlands Außenpolitik auf der Basis seiner jüngeren Geschichte zu verstehen ist nun, anhand der Dokumente, etwas leichter geworden.
Ragna Boden