Manfred Clemenz: Der Mythos Paul Klee. Eine biographische und kulturgeschichtliche Studie, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2016, 408 S., 43 Farb-, 82 s/w-Abb., ISBN 978-3-412-50186-0, EUR 45,00
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Stellungnahme von Manfred Clemenz mit einer Replik von Tobias Lander
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[Zu diesem Beitrag liegt eine
Stellungnahme von Manfred Clemenz und
eine Replik von Tobias Lander vor.]
"Über Paul Klee, mehr als siebzig Jahre nach seinem allzu frühen Tod, etwas Neues zu schreiben, ist ein gewagtes Unterfangen", räumt Manfred Clemenz in seiner Klee-Biografie gleich zu Anfang ein (9). Zumal es sich der Autor methodisch nicht einfach macht, da er einerseits verschiedenste Herangehensweisen wählt - Textkritik steht neben Bildinterpretation, Exkurse in die Kunstphilosophie neben psychologischen Analysen - und andererseits den Aufbau des Buches seltsam indifferent zwischen chronologischer Künstlervita und der kapitellangen Beleuchtung von Einzelaspekten oszillieren lässt, was der Stringenz des Textes durchaus Abbruch tut.
Dennoch ist es gelungen, Neues zu präsentieren oder zumindest nicht zur Gänze Erforschtes offenzulegen. In seinem umfangreichen Werk misst Clemenz den Mythos Paul Klee an Selbstzeugnissen des Künstlers und zum Teil unveröffentlichten Tagebüchern seiner Weggefährten und Weggefährtinnen. Dadurch belegt er, dass die frühen Klee-Biografen wie Wilhelm Hausenstein (1921), Werner Haftmann (1950) oder Will Grohmann (1954) die Selbststilisierungen des Künstlers als Autodidakten, als wortwörtlich welt-fernes Wesen - "Diesseitig bin ich gar nicht fassbar" (154) - oder demiurgisch Schöpfenden - "Ich bin Gott" (13) - willfährig übernahmen und fortschrieben.
Sicher, die höchst subjektive "Klee-Interpretationslyrik" (175) dieser Autoren mag auch heute noch rezipiert werden, doch erscheint es allzu taktisch, "einige neuere Arbeiten" (12) kritischerer Klee-Forscher und Klee-Forscherinnen zugunsten der "harmonisierenden Darstellungen der bisherigen Klee-Biographik" (Klappentext) in den Hintergrund zu drängen. In gewisser Weise muss man Clemenz zum Vorwurf machen, dass er die Metaebene einer historischen Einordnung von Kunstrezeption und -interpretation als elementaren Bestandteil kunstwissenschaftlicher Forschung zugunsten der Zuspitzung seiner Thesen ignoriert. Schließlich ist es Usus, die Texte der älteren Autoren hinsichtlich der Gepflogenheiten ihrer Zeit, ihrer Intentionen und Abhängigkeiten kritisch zu hinterfragen, und problemlos lässt sich die Künstlerlegende des "Selbstlehrlings" (20) als Variante des tradierten kunsthistorischen Topos des Künstlergenies begreifen.
Mit seiner textkritischen Aufarbeitung des vorliegenden biografischen Materials, der theoretischen Schriften und der hinterlassenen Manuskripte hat Clemenz "auf die Lücken der bisherigen Klee-Forschung" reagiert (12) und diese auch unbestreitbar bereichert. Allerdings erkennt beispielsweise Monika Goedl bereits in einem in Clemenz' Literaturverzeichnis unerwähnten Aufsatz von 1996, dass Klees Interpreten "eher zu verklärenden als zu kritischen Analysen" tendierten, ebenso, dass die Ursachen hierfür "sicher auch in Paul Klee selbst zu suchen [seien], der sich als Künstler und Mensch idealisierte". [1]
Es ist zuweilen bestechend, wie Clemenz die Äußerungen des Klee-Umkreises an den zeitgeschichtlichen Begebenheiten misst, etwa wenn er Klees angebliche Beliebtheit bei seinen Bauhausschülern und Bauhausschülerinnen anzweifelt, da ein "von der gesellschaftlichen Realität abgehobene[r], 'weltferne[r]' und metaphysisch" orientierter Lehrer kaum als Vorbild für eine hochpolitisierte, in weiten Teilen 'linke' Studierendenschaft hätte taugen können (182): Obwohl diese Feststellung bereits früher in der Klee-Forschung getroffen wurde, blitzt hier die Möglichkeit eines Erkenntnisgewinns durch die konsequente Überprüfung der biografischen Quellen an den herrschenden Zeitläuften auf.
Doch allzu selten sind die Interpretationen zwingend: Wenn der Autor - der nicht nur Kunsthistoriker, sondern auch Psychotherapeut ist - einen gedoppelten und widersprüchlich datierten Tagebucheintrag Lily Klees über eine gemeinsame Reise des Ehepaars als Exempel für die psychologische Verfasstheit der Urheberin heranzieht und als Reminiszenz an glücklichere Tage und somit als "Hinweis auf die schwieriger gewordene Beziehung zwischen Paul und Lily" wertet, scheint dies pure Spekulation (187) - was umso stärker ins Gewicht fällt, als der Autor an anderer Stelle vielen Kunsthistorikern "intuitive Küchenpsychologie" unterstellt. [2]
Sobald sich Clemenz an vergleichende Bildanalysen wagt, beispielsweise zur Verifizierung der künstlerischen Vorbilder Klees, überzeugen seine Ergebnisse ebenfalls nicht immer: Mit dem bloßen Verweis auf eine in Zeichnungen von Rodin und Klee erscheinende "doppellinige Konturierung" auf eine "nahezu sicher" erscheinende Orientierung an Rodin zu schließen, scheint mehr als gewagt (57).
Dies mögen nur Details sein, das eigentliche Problem der ganzen Abhandlung ist ein anderes: Entgegen der nach der Veröffentlichung der Publikation geäußerten Meinung des Autors, er habe "eine Biographie in ihrem kulturgeschichtlichen Kontext geschrieben, keine Werkmonographie" [3], untermauert er viele Argumente mittels Werkbeispielen, da bei Klee "Leben und Werk untrennbar miteinander verbunden" seien (9). Sicherlich kann sich 'Biografisches' im Werk niederschlagen, doch ist dies eben nicht zwingend, man denke nur an das beschwingte collagierte Spätwerk des schwer erkrankten Matisse. Dass Klees Arbeiten der späten Jahre, in denen er ein vergleichbares Schicksal zu erleiden hatte, Ausdruck elementarer Krisen seien, greift ebenfalls zu kurz, sprechen Werke wie z.B. Ein Kinderspiel (1939) in seiner lockeren Melange aus Abstraktion, Abbildhaftigkeit und allgemein verständlicher Symbolik - ein kleines blaues Herz schwebt neben dem Kindergesicht - doch eine andere Sprache.
Kurzum: Manfred Clemenz' Arbeit ist dort überzeugend, wo er die Selbstäußerungen des Künstlers und seines Umfelds kritisch hinterfragt und zeit- und ideengeschichtlich einordnet. So präzisiert das Kapitel über Klees Kunstphilosophie den in der Klee-Literatur häufig postulierten aber selten begründeten Romantikbezug Klees. Ebenso faszinierend wie bereichernd sind die beiden Schlusskapitel des Bandes, die sich mit der physischen und psychischen Verfasstheit - der "innere[n] Biographie" (275) Paul Klees beschäftigen: Der Künstler erscheint dort als Leidender hinter der Maske des sich vollkommen der Kunst unterordnenden Asketen, was später auch zur Sakralisierung des Künstlers durch einige seiner Biografen führte. Hinter dem Mythos seien "Gefühle der Isolation, Einsamkeit und Depression, Suizidphantasien, Ängste vor dem Scheitern als Mensch und Künstler, frustrierende sexuelle Erfahrungen und Ängste vor unzulänglicher und schwindender Vitalität" zu erkennen (279f.). Gegen diese "Angriffe des Schicksals" habe sich Klee mit einer "grandiose[n] Selbstüberhöhung und Selbstmythisierung" zum weltentrückten, 'jenseitigen' Künstler gewappnet (319).
Problematisch erscheint Clemenz' Untersuchung dort, wo er Biografie und Werk in eins fallen lässt, beispielsweise in der Behauptung, "die Tagebücher Klees dürften als in der Tendenz authentisch betrachtet werden", da die Modifikationen der Notizen durch den Künstler im Kern gleich blieben (276): "In der handgeschriebenen Fassung heißt es: 'Mir fehlt jegliche Art leidenschaftlicher Menschlichkeit'. In der redigierten Fassung dagegen liest man: 'Meiner Kunst fehlt leidenschaftliche Art der Menschlichkeit'" (276). Es ist jedoch ein großer Unterschied, ob ein empathiebefreiter Mensch gute Kunst oder ob ein guter Mensch empathiebefreite Kunst schafft. Es ist diese von Clemenz tolerierte Unschärfe der Begrifflichkeiten und Kategorien, die beinahe durchgängig aufscheint und im 'Kristallbegriff' Klees kulminiert: Das Kristalline taucht als Charakteristikum des Kubismus auf (117), als Symbol des auf den sinnlichen Teil verzichtenden, vergeistigten Künstlers als "Neutralgeschöpf" (123f.) und schließlich als Analogie dieser geistigen Verwandlung und Klees Sklerodermie, einer tödlich verlaufenden Erkrankung, welche Haut und letztlich auch die inneren Organe verkrusten lässt (282). "Das Körper- und Selbstbild der Verhärtung und Erstarrung wird auf der Haut real", schließt Clemenz (317): Kunst, Mythos und Künstlerkörper sind hier endlich eins geworden und spätestens mit dieser Bemerkung hat der Autor die Grenzen wissenschaftlicher Nachvollziehbarkeit überschritten.
Es ist das unbestreitbare Verdienst des Autors, die Reste der 'Weihrauchschwaden' hinweggepustet zu haben, die noch über Paul Klee waberten. Doch zu welchem Preis! Bei Clemenz erscheint der Meister der Abstraktion, der Schöpfer der farbenfrohen Tunis-Darstellungen und zauberhaften Fantasiegärten als egozentrischer, misogyner Unsympath mit autistischen Zügen. Das besprochene Buch liest sich durchaus mit Gewinn, wird die Klee-Forschung doch durch solide Textkritik weitergebracht oder - wo die Hypothese allzu dominant wird - zumindest der Diskurs befeuert. Es mag dem Rezensenten jedoch gestattet sein, weiterhin das Werk eines herausragenden Künstlers im Zentrum wissenschaftlicher Betrachtung wissen zu wollen: Der Kristall erschiene sonst doch allzu trübe ...
Anmerkungen:
[1] Monika Goedl: Diesseits nicht fassbar?, in: Paul Klee. Die Zeit der Reife (Ausstellungskatalog Mannheim / Städtische Kunsthalle 1996), hg. v. Manfred Fath, München 1996, 13.
[2] Georgios Chatzoudis: Der Mythos Paul Klee. Interview mit Manfred Clemenz über Paul Klee als Künstler seiner Zeit, in: L.I.S.A. Das Wissenschaftsportal der Gerda Henkel Stiftung, 04.04.2017, URL: https://lisa.gerda-henkel-stiftung.de/der_mythos_paul_klee?nav_id=6889https://lisa.gerda-henkel-stiftung.de/der_mythos_paul_klee?nav_id=6889 [10.09.2017].
[3] Siehe Anm. 2.
Tobias Lander