Nilgün Bayraktar: Mobility and Migration in Film and Moving-Image Art. Cinema Beyond Europe (= Routledge Advances in Film Studies; 45), London / New York: Routledge 2016, XVIII + 213 S., 39 s/w-Abb., ISBN 978-1-138-85883-1, GBP 95,00
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Die Diskussion zum sogenannten Migrationskino ist mittlerweile in die Jahre gekommen, seit sie sich in den 1990ern zu einem eigenständigen Problemfeld konstituiert hat. Gleichzeitig drängt sich der Eindruck auf, dass konzeptionell seit dieser Zeit nicht allzu viel geschehen ist; die Monografie von Hamid Naficy [1] bleibt für weite Teile der Forschung maßgebend, ebenso wie die kanonische Version der historischen Entwicklung dieses Quasi-Genres im Großen und Ganzen unhinterfragt geblieben ist. [2] In jüngerer Zeit formiert sich jedoch ein gewisses Unbehagen angesichts sowohl theoretischer als auch politischer Unzulänglichkeiten dieser Modelle. [3] Nilgün Bayraktars Buch ist in dieser Hinsicht ein interessanter Fall: Zum einen formuliert sie eine zuweilen deutliche Kritik an den hergebrachten Ansätzen, zum anderen vermag sie sich von diesen Ansätzen nicht in letzter Konsequenz zu lösen.
Das Buch ist in zwei große Teile unterteilt: Der erste (bestehend aus zwei Kapiteln) widmet sich dem Spielfilm, der zweite (aus drei Kapiteln) der Videokunst, jeweils seit den 1990er Jahren. Das verbindende Charakteristikum der untersuchten Werke liegt darin, dass sie sich alle an der Idee Europas als einem soziopolitischen Gebilde abarbeiten und dieses in verschiedener Weise zu hinterfragen suchen - eine willkommene Alternative zu jenen Ansätzen, welche den Korpus des Migrationskinos durch die Ethnizität von Filmemachern oder Figuren bestimmen.
Gegenstand der Arbeit sind Migration und Mobilität als Problem bewegter Bilder. Bayraktar geht von einem mehrfach besetzten Begriff von Mobilität aus, der sich sowohl auf den Gehalt der Bilder bezieht, als auch auf die mediale Zirkulation der Bilder selbst, als auch auf die Beweglichkeit von Vorstellungen und Ideen. Die politische Infragestellung Europas seit dem Fall der Berliner Mauer (die einhergehe mit Bemühungen um Restauration) laufe dabei parallel zu den künstlerischen Projekten, bzw. zu den formalen Entwicklungen (vom Film hin zur Installation, zum Video-Essay), die Bayraktar untersucht: In beiden Fällen würden Grenzen aufgeweicht und unterminiert (3-6). Diese Behauptung - der "Turn" zur Installation in den 1990er Jahren antworte der politischen Situation im Zuge der Rekonfiguration Europas, bzw. sei ihr eher angemessen - weicht allerdings der theoretischen Frage aus, was das Kino selbst zu einer öffentlichen Sphäre macht, worin also die politische Bedeutung audiovisueller Bewegungsbilder bestehe.
Letztlich bleibt somit unklar, wie sich der Ansatz der mobility studies zur Perspektive der Filmanalyse verhält und auf welcher Ebene sie miteinander kommunizieren. Zu dieser Frage findet sich lediglich eine knappe Reiteration des Repräsentationsparadigmas: "[...] the representation of migratory spaces and subjects is conditioned by [...] economic, political, and social histories and practices of migration" (5). Dass Bayraktar diese theoretische Grundlage unreflektiert lässt, kehrt bei ihren Analysen als Problem zurück.
Im ersten von insgesamt fünf Kapiteln widmet sich Bayraktar dem sogenannten deutsch-türkischen Kino anhand zweier Beispiele: Ayşe Polats Kurzfilm Gräfin Sophia Hatun (1997) und Fatih Akıns Auf der anderen Seite (2007). Obwohl insbesondere letzterer bereits Gegenstand ausführlicher Untersuchung gewesen ist, vermag es Bayraktar, ihm einige neue Facetten abzugewinnen. An beiden Filmen weist sie überzeugend einen Grad an formaler und narrativer Komplexität nach, der es verbiete, sie umstandslos in die alten Kategorien einzusortieren. Demgegenüber betont sie die Vermischung von Genres und die Unterwanderung kritischer Grenzziehungen.
So sehr dieser Einschätzung im individuellen Fall zuzustimmen ist, so sehr verlagert sie die Diskussion weg von der eigentlichen, grundsätzlichen Schwierigkeit: Es kann nicht die Aufgabe besonders progressiver Filme sein, aus dem "diskursiven Ghetto" (8-9) auszubrechen; vielmehr wäre es Sache des wissenschaftlichen Diskurses, die identitätspolitisch basierte Gettoisierung zu beenden. Doch dazu bedürfte es einer theoretischen Reflexion dieses Diskurses, die Bayraktar nicht leisten kann oder nicht leisten will. Wenn sie etwa davon spricht, Kutluğ Atamans Videoinstallation Küba (2005) unterlaufe essentialistische identitätspolitische Vorstellungen durch "embodied spectatorship" (101), dann gilt diese verkörperte Zuschauerschaft für jeden Film und sollte Anlass sein für eine phänomenologisch fundierte Kritik des Repräsentationsdenkens. Dieser Schritt bleibt jedoch aus. Die von Bayraktar präzise herausgearbeitete Vermischung der Genres in Gräfin Sophia Hatun hindert sie an keiner Stelle, unterschiedslos von einer dem Film vorgängigen Wirklichkeit auszugehen, welche, von der generischen Verflechtung unberührt, auf der Leinwand abgebildet wird (25-38). Ihre Beschreibung fixiert zwangsläufig den Status des Migranten als "Anderer" (29) - eine Fixierung, die ihr zufolge die Filme gerade unterlaufen.
Dieses Vorgehen fällt besonders ins Auge, wenn sie sich im zweiten Kapitel Michael Hanekes Caché (2005) widmet und unproblematisch vom Vorhandensein psychologisch verfasster, ethnisch klar definierter Subjekte ausgeht, wo doch die - von ihr ausführlich diskutierte - komplexe perspektivische Konstruktion des Films permanent in Frage stellt, wie sich das filmische Bild konstituiert, wessen Blick zu sehen ist und was dem Zuschauer überhaupt zugänglich werden kann (75-92).
Die Stärke von Bayraktars Buch liegt durchgehend in den Analysen, besonders auch im zweiten Teil, der sich Videoarbeiten widmet - neben Küba geht es um Raphaël Cuomos und Maria Iorios Dokumentation Sudeuropa (2005-2007) sowie um Ursula Biemanns Installation Sahara Chronicle (2006-2009). Wiederholt demonstrieren diese Analysen eine Gründlichkeit der Auseinandersetzung, die man sich auch in systematischer Hinsicht gewünscht hätte. Es ist bezeichnend für dieses Ungleichgewicht, dass die Analysen der Videoarbeiten die Rolle des Publikums in einem weit höheren Maße thematisieren als die Filmanalysen (gerade die Untersuchung zu Küba besticht mit einer detaillierten Erörterung zu grundsätzlichen Fragen von Installationskunst) - als ließe sich das Bewegungsbild leichter objektivieren, wenn es in einem Kinosaal gezeigt wird. So scheint die Arbeit auf der Suche nach einem übergreifenden (medien-) theoretischen Paradigma, mit dem sich die Erkenntnisse der Analysen in Einklang bringen ließen. Die Tatsache, dass Bayraktar die von ihr zu Recht kritisierten Ansätze letztlich nicht überzeugend zurückzuweisen vermag, kennzeichnet das Buch als Ausdruck einer konzeptuellen Krise im gegenwärtigen Diskurs zum sogenannten Migrationskino - mit all den Möglichkeiten, die durch eine Krise eröffnet werden und die in diesem Buch zum Teil bereits angelegt sind. Unter anderem darin liegt sein Wert.
Anmerkungen:
[1] Hamid Naficy: An Accented Cinema. Exilic and Diasporic Filmmaking, Princeton 2001.
[2] Vgl. Sarita Malik: Beyond "The Cinema of Duty"? The Pleasures of Hybridity. Black British Film of the 1980s and 1990s, in: Andrew Higson (ed.): Dissolving Views. Key Writings on British Cinema, Cassell 1996, 202-215.
[3] Vgl. Ömer Alkın: Ist das Gerede um den deutsch-türkischen Film postkolonial? Zum Status des deutsch-türkischen Migrationskinos, seiner wissenschaftlichen Bewertung und den "verstummten" türkischen Emigrationsfilmen, in: Philipp Blum / Monika Weiß (Hgg.): An- und Aussichten. Dokumentation des 26. Film- und Fernsehwissenschaftlichen Kolloquiums, Marburg 2016, 59-77.
Hauke Lehmann