Michaela Scheibe / Christiane Caemmerer / Katja Dühlmeyer u.a. (Red.): Bibel, Thesen, Propaganda. Die Reformation erzählt in 95 Objekten, Berlin: Staatsbibliothek zu Berlin 2017, 239 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-88053-217-5, EUR 25,00
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Vom 3.2.-4.4.2017 zeigte die Staatsbibliothek Berlin Unter den Linden eine Reformationsausstellung unter dem Titel "Bibel Thesen Propaganda". Sie wurde anlässlich des Deutschen Evangelischen Kirchentags vom 23.-28.5. ein weiteres Mal präsentiert. Der quartformatige Begleitkatalog erschien in der hauseigenen Reihe der Ausstellungskataloge. Für die französische Broschur in Klebebindung wählte man ungestrichenes Naturpapier, das dem Produkt eine angenehme Dezenz verleiht.
Die Reformation an 95 Exponaten entlang zu erzählen, war der Anspruch, den das Redaktionsteam aus Michaela Scheibe, Christiane Caemmerer, Katja Dühlmeyer und Annette Wehmeyer dieser Schau zugrunde legte. Vorangeschickt ist ein Geleitwort der Generaldirektion, das Wachstum und Schicksale des Lutherana-Sammelschwerpunkts skizziert, vom Gründungsbestand im 16. Jahrhundert, den Zeiten intensiver Erwerbungstätigkeit in der Blütezeit der Königlichen Bibliothek über das Desaster des Zweiten Weltkriegs bis zur nachfolgenden Sammlungstätigkeit mit sowohl Rückergänzungen als auch erweiternden Ankäufen von Spitzenstücken.
Der "sich wandelnde Blick der Zeit verändert auch unsere Sicht auf die Zeugnisse der Reformation" betont Michaela Scheibe, die kommissarische stellvertretende Leiterin der Abteilung Historische Drucke (9). Nach 450. bzw. 500. Geburtstag und 450. Todestag Martin Luthers ist es nun der 500. Jahrestag des Thesenanschlags, der das Jahr 2017 zum Höhepunkt der Lutherdekade hat werden lassen. Scheibes Ausführungen schließt sich eine chronologische Übersicht ("Reformation und Konfessionelles Zeitalter") an, die wie die beiden Eingangstexte parallel deutsch und englisch abgefasst ist.
Das Gerüst für die 95 Ausstellungsstücke bilden sechs Themenblöcke, die jeweils durch 13-20 Objekte repräsentiert und mit einem namentlich gezeichneten, bewusst kurz gehaltenen zweisprachigen Text zur Kontextualisierung eingeleitet werden. Da die meisten zeitgenössischen Drucke auch in den digitalen Sammlungen verfügbar sind, ermöglicht der QR-Code am Fuß der jeweiligen Beschreibung das virtuelle Blättern. Charakter und Anspruch der einzelnen Texte variieren zwischen gänzlichem Verzicht auf inhaltliche Bezugnahme zu den jeweiligen Abbildungen bis zu Erläuterungen kunsthistorischer, theologischer und buchwissenschaftlicher Natur.
Die "Schlüsselereignisse" im ersten Block werden mit dem zum UNESCO-Weltdokumentenerbe zählenden Nürnberger Plakatdruck der Thesen Luthers aus dem Jahr 1517 eröffnet. Er wird erstmals zusammen mit der einzigen Leihgabe der Ausstellung überhaupt, dem Leipziger Druck aus dem Besitz des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz, präsentiert, ergänzt um die Baseler Ausgabe im Buchformat. Der Katalog räumt diesen drei Stücken anlassbezogen breiten Raum ein und ermöglicht durch die Gegenüberstellung zweier ausklappbarer Doppelseiten den unmittelbaren Vergleich der beiden Plakatdrucke.
Prominente Exponate schließen sich an - so die Bannandrohungsbulle Papst Leos X. von 1520, Luthers reformatorische zentrale reformatorische Schriften der Jahre 1520/21 oder der lateinische Text der Confessio Augustana.
Block II ("Die Heilige Schrift") eröffnet einen weiten Reigen von der Pariser Studienbibel des frühen 13. Jahrhunderts über die erste gedruckte niederdeutsche Bibel-Übersetzung, Luthers September- und Dezembertestament, einen fragmentarisch erhaltenen autografen Bibelkommentar Luthers, das handkolorierte Prachtexemplar der Cranachbibel von 1541, die Familienbibel des zweitjüngsten Sohns Johann Sebastian Bachs bis hin zu Übersetzungen der Lutherbibel ins Sorbische, Arabische, Hindustani und Chinesische. Insbesondere in diesem Teil des Katalogs vermisst man exemplarische Transkriptionen von Partien der handschriftlichen Texte und Anmerkungen als unerlässliche Orientierungs- und Verständnishilfe.
Im dritten Block "Theologie und Propaganda" wird der Zusammenhang zwischen Buchdruck und Reformation thematisiert und ins Bild gesetzt. Zu nennen sind etwa das Flugblatt zur Illustration eines Lutherlieds, Einblattdrucke und Flugblätter der antilutherischen Seite, Luthers Großer und Kleiner Katechismus sowie andere Lehrschriften des Reformators. Seine berühmten Bilderzyklen gegen das Papsttum, die heute in keinem Geschichtsbuch fehlen, werden ausführlich und mit zahlreichen Illustrationen vorgestellt.
Unter dem Dachthema "Streit und Krieg" lenkt der vierte Block den Leser auf die Zeit der Bauernkriege, die Auseinandersetzungen und Annäherungen zwischen den verschiedenen konfessionellen Strömungen, die Wiedertäufer und die katholische Propaganda des Dreißigjährigen Kriegs. Luthers viel diskutierte Kampfschrift von 1525 gegen die Bauernaufstände gehört ebenso in diesen Kontext wie der franziskanische Protest gegen Luthers doppelzüngige Position im Bauernkrieg oder ein Flugblatt, das die Nachricht von Zerstörungen und Plünderungen durch die aufständischen Bauern gattungstypisch schnell und massenhaft verbreitet.
Block V ("Kirchenmusik"), trägt der zentralen Bedeutung des Kirchenlieds im Protestantismus Rechnung. Hier reicht das Spektrum von dem Entwurf eines autografen Vaterunser-Lieds Martin Luthers über die Zeugnisse der protestantischen Kantoren und Gesangbuchdichter, Zeitgenossen Luthers und Gesangbuchdichter des 17. Jahrhunderts, das Bach-Autograf zum Reformationsfest bis zu Mendelssohns Bearbeitung von Luthers Weihnachtschoral.
Recht heterogen sind die Objekte, die im sechsten Block ("Rezeption") aus Literatur, Musik und bildender Kunst ausgewählt wurden: vom Wittenberger Prachteinband mit kolorierten Ganzfiguren Luthers und Melanchthons auf Vorder- und Rückdeckel über ein Gedicht des Hans Sachs, bis hin zu einer Radierung des frühen 18. Jahrhunderts zum Ablasshandel. Das folgende Jahrhundert, in dem Luther als Nationalheld verehrt wurde, ist durch Lieder-Textsammlungen, Kinderbuch und Zeitung und einen Pressendruck von 1921 repräsentiert. Interessant wären auch Dokumente zur Instrumentalisierung Luthers während der beiden Weltkriege und in der DDR-Geschichtsschreibung gewesen. Der Aufarbeitung des Themas im buchkünstlerischen Kinderbuch und im Comic der letzten fünf Jahre widmen sich einige weitere Exponate. Der Katalog schließt mit dem 2016 erschienenen Kindersachbuch aus dem Hildesheimer Gerstenberg-Verlag, kommentiert von Margot Käßmann, der Botschafterin des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland für das Reformationsjubiläum 2017.
Ausstellungsmacher und Autoren im Umkreis der Reformationsdekade tun gut daran, sich eines bewusst zu machen: Luther ist in aller Munde, doch die 500 Jahre zurückliegende spätmittelalterliche Welt des Augustinereremiten mit seinem existentiellen Ringen um den gerechten Gott ist dem Durchschnittsbürger unendlich fern und fremd. Mit seiner üppigen Farb-Bebilderung begegnet der Ausstellungskatalog dieser Fremdheit, visualisiert, bringt näher, veranschaulicht. Um einen wirklichen Mehrwert aus der Visualisierung zu ziehen, hätte es jedoch mehr gebraucht als Bilderfülle. Denn auch die Bilder stammen aus einer fernen Zeit und sprechen nicht in jedem Fall für sich. Dies gilt insbesondere für eine Leserschaft, die weder kunstgeschichtlich oder theologisch spezialisiert ist noch eingeübt in den Umgang mit historischen Drucken und in das Lesen frühneuzeitlicher Handschriften.
Abbildungen von Buchseiten oder Detailaufnahmen von Marginalien erschließen sich ohne Transkriptionen und inhaltliche Erläuterungen kaum. Damit werden sie zwangsläufig auf ästhetisch-ansprechende Illustrationen reduziert; ihr eigentliches Aussagepotential als Rezeptionszeugnisse des Buchs im Gebrauch bleibt unvollständig genutzt.
Dass die Herausgeber Einführungstexte und Katalognummern ohne Bezugs- oder weiterführende Literatur vorgesehen haben, schmälert den bleibenden Referenzwert des prächtigen Werks erheblich. Eine andere Entscheidung hätte den allgemein interessierten Lesern eine Brücke in das fremde Spätmittelalter gebaut und es den spezieller Interessierten ermöglicht, an Vorhandenes anzuknüpfen.
Es gilt trotz dieser Einschränkungen: Der Katalog ermöglicht nicht nur eine "anregende Entdeckungsreise" (8) durch den Reichtum der Bibliotheksbestände, sondern zugleich eine beeindruckende kirchen- und kulturgeschichtliche Reise entlang der Reformation mit ihren wichtigsten Phasen. Genügend Fachleute, die geübt sind, diesem Weg auch ohne die monierten fehlenden 'Geh-Hilfen' zu folgen, wird es geben - beispielsweise unter den Handschriften- und Altbibliothekaren, den Buchhistorikern und den Fachwissenschaftlern. Ihnen kann der Katalog sehr zur Lektüre empfohlen werden. Er sollte in keiner Bibliothek fehlen.
Annelen Ottermann