Patrick Reinard: Kommunikation und Ökonomie. Untersuchungen zu den privaten Papyrusbriefen aus dem kaiserzeitlichen Ägypten (= Pharos. Studien zur griechisch-römischen Antike; Bd. 32), Rahden/Westf.: Verlag Marie Leidorf 2016, 2 Bde, 1160 S., 3 Kt., 29 s/w-Abb., ISBN 978-3-86757-260-6, EUR 74,80
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Das zu rezensierende Werk ist aus einer 2014 von Patrick Reinard in Marburg eingereichten Dissertation entstanden und wahrlich von monumentalem Ausmaß. Auf beinahe genau 1000 Seiten (ohne Anhänge und Literatur) verspricht der Autor eine umfassende Darstellung zur Kommunikation und Ökonomie anhand der Papyrusbriefe aus dem kaiserzeitlichen Ägypten. Reinard möchte mit seiner Arbeit die "Quellengruppe der Briefe für die Wirtschaftsgeschichte erschließen" (54) und wagt sich mit diesem Vorhaben auf neues Terrain. Konkret zielt er auf die Frage ab, ob es im römischen Reich marktwirtschaftliches Verhalten gegeben hat. Dieses Problem wird schon seit geraumer Zeit diskutiert und von den wissenschaftlich einflussreichen Primivisten verneint. [1] Auch wenn Peter Temin [2] bereits 2001 und erneut 2013 auf marktwirtschaftliche Phänomene hinwies, wurden seine Beobachtungen 2015 durch Sitta von Reden wieder relativiert, indem sie auf seine relativ dürftige Quellenbasis hinwies, die keine allgemeine Aussage ermögliche. [3] Reinard liefert mit seiner Arbeit einen innovativen Beitrag zu dieser Forschungsfrage, da er mit den Papyrusbriefen eine neue Quellengattung heranzieht. Diese erwies sich als äußerst fruchtbar, da rund 65% der 3600 Briefe Informationen über Warensendungen enthielten. Reinard konzentrierte sich bei seiner Analyse auf die zirka 2000 Briefe aus dem ersten bis dritten Jahrhundert (26 f.). Dem Vorwurf, seine Ergebnisse können aufgrund der Herkunft der Papyri nur für Ägypten Gültigkeit beanspruchen, entgegnet er vorsorglich mit einem gesonderten Kapitel (947-1002), was den Wert seiner Darstellung noch steigert. Sein innovativer Ansatz bringt jedoch die Notwendigkeit längerer Vorbetrachtungen mit sich, deren Nutzen sich dem Leser nicht immer zu erschließen vermag, wie im Falle der "textlinguistischen Betrachtung" (62-66) oder der 69 Seiten langen Ausführungen zum Brief (57-126).
Reinards Untersuchung ist in zwölf Kapitel gegliedert, wobei das erste in vorbildlicher Weise die Relevanz des Themas, die Zielsetzung und den Forschungsstand beinhaltet. Die bisherige Forschungsgeschichte der Papyrusbriefe ist auf fünf, die der antiken Wirtschaftsgeschichte auf 18 Seiten zusammengefasst. Das zweite Kapitel widmet sich dem antiken Brief und beginnt mit der bereits erwähnten textlinguistischen Betrachtung. Es folgen Darstellungen unterschiedlicher Brieftypen sowie des Briefmaterials und das Kapitel schließt mit der Darlegung des "verkannten Potential[s]" der Briefe als Quelle für die antike Wirtschaftsgeschichte. Kapitel drei liefert bereits einen Teil der Ergebnisse der empirischen Studie. In einer 200 Seiten langen Liste sind alle Belege von Waren mit Datierungen und Lokalisierungen aufgeführt. Alle genannten Produkte sind in alphabetischer Reihenfolge in griechischer und lateinischer Sprache aufgeführt. In einer 24 Seiten langen Zusammenfassung werden die Begriffe zu Warengruppen geordnet und einzeln erläutert. Hier sind die ersten neuen Informationen zum Handel zu finden, wie die ausgesprochene Seltenheit von Luxus- oder Kunstobjekten und die Dominanz von Kleinmengenversandt. Das nachfolgende Kapitel vier widmet sich dem Brief- und Warenverkehr in der Antike. In 13 teilweise nochmals unterteilten Abschnitten werden Briefboten, öffentlicher Postdienst, Versandkosten, Zustellungs- und Transferprobleme en detail aufgeführt. In diesem Kapitel verstecken sich auch einige Erläuterungen zu modernen Theorien, die im Laufe der Analyse häufiger herangezogen werden. Am wichtigsten sind die Prinzipal-Agenten-Theorie (439-453), die in der Arbeit auch mehrstufig angewendet wird (523), sowie die Transaktionskostentheorie (461-464). Interessant sind zudem die Ausführungen zur Kontrolle von Boten und Briefinhalt durch Geheimcodes (465-480). Kapitel fünf ist neben der umfangreichen Tabelle aus Kapitel drei der eigentliche Hauptteil, der der Rekonstruktion von Kommunikationsnetzen gewidmet ist. Anders als die Betrachtung des Warenverkehres erfordert diese Fragestellung die Analyse aussagekräftiger Korrespondenz. Entsprechend werden in diesem Kapitel auf 284 Seiten fünf unterschiedlich umfangreiche Briefarchive ausgewertet, die alle in das zweite Jahrhundert datieren. Da der Warenverkehr zuvor schon betrachtet wurde, konzentrieren sich die Ausführungen auf die interpersonellen Beziehungen. Diese legt Reinard für jedes Archiv durch Prosopografien dar, die allerdings wenig zur kontinuierlichen Lektüre taugen. Nachdem jedes Archiv bereits im Kapitel fünf kurz zusammengefasst wurde, erfolgt im Kapitel sechs eine Gesamtwürdigung der "Informationsgesellschaft" (769-771). Die detaillierte Auswertung liefert Reinard im Kapitel sieben, in welchem der Warenverkehr und die Kommunikation unter Zuhilfenahme moderner Theorien untersucht werden. In neun Unterpunkten widmet er sich der Preisentwicklung und -schwankung, dem Qualitätsbewusstsein, dem Markt (welcher entgegen der vorherrschenden Ansicht durchaus als abstraktes Konstrukt bekannt war und mit "Agora" (890 f.) bezeichnet werden konnte) sowie interdependenten Märkten. Kapitel acht beinhaltet die bereits erwähnte Darlegung, dass die Erkenntnisse aus Ägypten durchaus auch in weiteren Regionen des Reiches Gültigkeit haben können. Zur Erläuterung zieht Reinard Briefe heran, die aus Rom nach Ägypten geschickt wurden, Schriftstücke aus Masada, Dura-Europos, Petra, Vindolanda, Vindonissa, Graffiti aus Pompeji sowie Bildquellen aus der Belgica und den germanischen Provinzen. Das Fazit der Arbeit befindet sich im Kapitel neun. Hier legt Reinard dar, dass es im kaiserzeitlichen Ägypten ein starkes Bedürfnis nach aktuellen ökonomischen Informationen gab sowie das Bestreben, ein enges Netzwerk von Bekanntschaften zu bilden. Dieses habe der Senkung der Transaktionskosten von Waren gedient und durch seine geografische Ausdehnung den Raum der wirtschaftlichen Aktivitäten eines Individuums bestimmt. Die Effekte asymmetrischer Informationslagen zwischen den Prinzipalen und Agenten konnten durch bestimmte Mechanismen minimiert werden. Reinard positioniert sich klar innerhalb der Forschungsdebatte, indem er den Primitivisten Polanyi und Finley durch detaillierte Kritik an deren Aussagen widerspricht (1004-1010). Abschließend folgen weitere zusammenfassende Ausführungen zu Warensendungen und Preisvariationen. Die letzten drei Kapitel der Arbeit beinhalten Anhänge mit fragmentarischen Papyri, die auf Warenverkehr schließen lassen, eine Liste typischer Formulierungen in Briefen sowie Literaturverzeichnis und Quellenregister.
Reinards Werk besticht durch Quellennähe und den Umfang des analysierten Materials. Seine Ergebnisse werfen ein vollkommen neues Licht auf die antike Mikroökonomie und das individuelle Wirtschaftsverhalten. Seine Daten legt er offen dar und seine Schlussfolgerungen sind klar nachvollziehbar. Zudem liefert er viele Briefe in Übersetzung und vermag neben der kleinteiligen Analyse der Wirtschaftsbeziehungen zugleich auch ein lebendiges Bild des antiken Alltagslebens zu zeichnen. Die herausragende theoretische Unterfütterung rundet das Bild ab. Einige Schwächen müssen jedoch ebenfalls genannt werden. Die Größte ist hierbei sicherlich die Länge an sich. Hinzu kommen viele Exkurse, deren Umfang nicht im Verhältnis zum Nutzen steht, wie die Betrachtung der unterschiedlichen Briefformen (78-122), die Analysen der Quellen zum jüdischen Aufstand der Jahre 115 bis 117 (548-562), oder Ausführungen zu den Frumentarii im Militär (729-732) und Streckenlängen (805 f.), die beide in Fußnoten besser aufgehoben gewesen wären. Durch Wiederholungen kurz zuvor wörtlich zitierter Briefinhalte und lange Aneinanderreihungen von Quellenbelegen im Fließtext werden viele wichtige Kapitel deutlich länger als nötig. Dies ist dem Verständnis abträglich, da viele bedeutende Einzelinformationen in der Menge untergehen. So ist der Abschnitt über "das briefliche Kommunizieren über Preisvariationen" 65 Seiten lang (773-838). Auf die ermüdenden Listen und Prosopografien wurde bereits hingewiesen, doch sind diese aufgrund des empirischen Charakters der Arbeit unvermeidlich.
Die Weitschweifigkeit ist jedoch durchaus entschuldbar, da Reinards Arbeit nicht als kontinuierlich zu lesende Abhandlung konzipiert ist. Durch die kleinteilige Gliederung ist jeder wichtige Aspekt zur wirtschaftlichen Analyse der ägyptischen Papyri einzeln abgehandelt und kann für sich allein mit großem Gewinn gelesen werden. Die datenbankartigen Listen und Prosopografien liefern die Basis für diese Einzelbetrachtungen. Aufgrund der umfassenden Materialbasis und innovativen, theoretisch unterfütterten Herangehensweise muss Reinards Arbeit als Grundlagenwerk für die Forschung zur antiken Wirtschaftsgeschichte und zum römischen Ägypten gesehen werden.
Anmerkungen:
[1] Karl Polanyi: Ökonomie und Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1979; Helmuth Schneider: Das Imperium Romanum. Subsistenzproduktion-Redistribution-Markt, in: P. Kneissl / V. Losemann (Hgg.): Imperium Romanum. Studien zu Geschichte und Rezeption. Festschrift für Karl Christ, Stuttgart 1998, 654-673; Moses I. Finley: The Ancient Economy. 2. Aufl., Berkeley 1999.
[2] Peter Temin: A Market Economy in the Early Roman Empire, in: JRS 91 (2001), S. 169-181; ders.: The Roman Market Economy, Oxford 2013.
[3] Sitta von Reden: Antike Wirtschaft, Berlin / Boston 2015.
Michael Zerjadtke