André Deschan: Im Schatten von Albert Speer. Der Architekt Rudolf Wolters, Berlin: Gebr. Mann Verlag 2015, 288 S., 17 Farb-, 297 s/w-Abb., ISBN 978-3-7861-2743-7, EUR 79,00
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Rudolf Wolters war bis 1966 der wichtigste Unterstützer von Albert Speer und stand ihm auch persönlich am nächsten. Der 1903 geborene Wolters und der zwei Jahre jüngere Speer kannten sich seit gemeinsamen Studienzeiten in München und Berlin. Beide waren einige Zeit Mitarbeiter ihres Lehrers Heinrich Tessenow. Während Speer sich früh den Nationalsozialisten anschloss, verbrachte Wolters 1932/33 ein Jahr als Architekt und Städteplaner in Sibirien. Über seine Erlebnisse schrieb er ein zeitgenössisch beachtetes Buch, das jüngst neu und aktuell kommentiert herausgegeben wurde. Es war Speer, der Wolters im Sommer 1933 von der Rückkehr in die Sowjetunion abriet, dabei seine Verbindungen zu einflussreichen Nationalsozialisten betonte und ihm eine Stelle in seinem Privatbüro anbot. Wolters blieb in Deutschland, arbeitete für Speer und erhielt, nach einer Zwischenstation bei der Reichsbahn, zum Jahresbeginn 1937 eine herausgehobene Stelle bei seinem nunmehr zum Generalbauinspektor für die Reichshauptstadt aufgestiegenen Studienfreund.
Von nun an arbeitete Wolters nicht nur als Architekt, zu dessen Hauptaufgaben die neue Nord-Süd-Achse der künftigen Metropole Berlin zählte. Wolters übernahm auch jene Aufgaben, die man heute als Presse- und Öffentlichkeitsarbeit bezeichnen würde. Er schrieb Artikel, die unter Speers Namen erschienen und sorgte für Reportagen, die von den Leistungen des jungen Hitler-Freundes künden sollten.
Nach Kriegsbeginn organisierte Wolters eine Ausstellung, die unter dem Titel "Neue Deutsche Baukunst" in ganz Europa für die Architektur des Nationalsozialismus - und das hieß vor allem: für Albert Speer - warb. Als Speer 1942 zum Minister aufstieg, versorgte er Wolters und zahlreiche weitere befreundete Architekten mit einer sicheren Aufgabe fernab der Fronten. Als Chef des "Arbeitsstabes für den Wiederaufbau bombengeschädigter Städte" konnte Wolters 1943 und 1944 nicht nur sein gesichertes Berufsleben weiterführen. Er versammelte um sich zahlreiche Architekten, die nach 1945 ihren Berufsweg beinahe nahtlos fortsetzen konnten.
Auch Wolters setzte seine Karriere fast ohne Unterbrechung fort. Mit einem Büro in seiner Heimatstadt Coesfeld prägte er nicht nur den örtlichen Wiederaufbau sondern zahlreiche weitere Architektur- und Stadtplanungen der Region. Daneben kümmerte sich Wolters unermüdlich um seinen im Spandauer Kriegsverbrechergefängnis einsitzenden Ex-Chef. Seit 1951 konnte er über heimliche Kanäle einen kontinuierlichen Briefwechsel und Warenverkehr organisieren. Wolters sorgte sich mit großer Akribie um Speers Aufzeichnungen und Wünsche. Daneben sammelte er Geld, mit dem er, ganz nach Speers Anweisungen, dessen Familie unterstützte oder andere Gefälligkeiten einkaufte. So kamen über ehemalige Mitarbeiter Speers, die es nun in der bundesrepublikanischen Wirtschaftswunder-Gesellschaft wieder zu Geld und Position gebracht hatten, bis 1966 mehr als 150.000 DM zusammen, von denen Wolters seinem Ex-Dienstherrn nach dessen Entlassung noch 25.000 DM direkt überreichen konnte.
Anders als Speer, der sich nach seiner Entlassung in der Öffentlichkeit vom 'Dritten Reich' distanzierte und so tat, als übe er ehrliche Reue, blieb Wolters sein Leben lang ein überzeugter Nationalsozialist. Verwundert bemerkte er, wie Speer in seinen Erinnerungen, in Interviews und schließlich in den Spandauer Tagebüchern Anekdoten und Fabeln produzierte, von denen Wolters, wie viele andere ehemalige Mitarbeiter, wusste, dass das meiste nicht ihren gemeinsamen Erlebnissen aus der Zeit vor 1945 entsprach. Besonders Speers herablassende Anschwärzungen ehemaliger Mitarbeiter und Kollegen verstörte Wolters. Während er bis Anfang der 1970er Jahre mit Speer zu argumentieren versuchte, wurde er von dessen öffentlichen Erzählungen zusehends frustriert. Wolters war bei weitem nicht der einzige, der sich über Speer wunderte, aber die meisten schwiegen aus einer unausgesprochenen Solidarität und tauschten nur untereinander ihre Eindrücke aus. Öffentliche Kontroversen hätten, so die Befürchtung, möglicherweise zu strafrechtlichen Ermittlungen gegen ehemalige Kollegen führen können, die unbedingt vermieden werden sollten.
Wolters war zugleich entschlossen, seinen Nachlass, namentlich die von ihm produzierte Chronik der Speer-Dienststellen von 1941 bis 1944, aber auch den Briefwechsel mit Speer, in dem dessen Täuschungen und Lügen klar sichtbar wurden, für die Forschung zugänglich zu machen. Diese Dokumente und zahlreiche andere Aufzeichnungen und persönliche Erinnerungen von Wolters sind seit dessen Todesjahr 1983 im Bundesarchiv zugänglich. Im Jahr 2011 hat Wolters' Sohn Friedrich darüber hinaus einen weiteren Teil des Nachlasses mit zusätzlichen Briefen, Plänen und Aufzeichnungen dem Landesarchiv Berlin übergeben. André Deschan hat aus diesen Materialien nun im Rahmen einer von Wolfgang Schäche betreuten Dissertation erstmals Wolters Leben im Detail analysiert und beschrieben.
Deschan gelingt es in anschaulicher Quellenschärfe, die - aus heutiger Perspektive - in hohem Maße verstörenden nationalistischen, von Gewalt und Gefühlsunterdrückung durchtränkten Kinder- und Jugendjahre von Wolters während des Kaiserreiches und im Ersten Weltkrieg plastisch werden zu lassen. So konnte sich Wolters nicht erinnern, ob er jemals einen Kuss der Mutter erhalten hatte, vom Vater ganz zu schweigen. Stattdessen empfing er regelmäßig Prügel, wurde generell körperlich und psychisch "gezüchtigt". Liebe war in der Erziehung reserviert für den deutschen Kaiser, für nationalistischen Revisionismus, Soldatentum, und was dergleichen Ersatzprojektionen mehr waren. Rückblickend erscheint es wenig verwunderlich, wenn aus solcherart Erziehung eine gewaltbereit-gefühlskalte Generation des autoritären Nationalismus heranwuchs. Typisch erscheint auch, wie Wolters selbst diese strenge Gewaltformung rückblickend idealisierte und für sich in eine positive Rationalität zu erzählen suchte. So war der Charakter bestens vorbereitet, um nach 1933 dem nationalsozialistischen Idealbild von Gewaltbereitschaft und Herrenmenschentum zu entsprechen.
Deschan zeigt für die Kriegszeit am Beispiel der Inspektionsreisen von Rudolf Wolters in die eroberten Gebiete des Ostens, die bislang wenig wissenschaftliche Beachtung gefunden haben, wie Speers Männer den nationalsozialistischen Angriff als Stützpfeiler der Front und Teil des Vernichtungskrieges organisierten, wie sie die Menschen vor Ort als Objekte einer in ihren Augen rassisch berechtigten Invasionstour erlebten. Speer und Wolters agieren hier als hätten sie ein naturgegebenes Recht auf Eroberung, Beherrschung, Unterwerfung und Ausbeutung. Sie selbst bewegen sich dabei als Repräsentanten eines neuen Kolonialherrschertums.
Wolters musste mit der Niederlage von 1945 leben, akzeptierte aber nie, jemals Unrecht getan zu haben. Schon seine Kommentare zum Nürnberger Prozess zeigen die Uneinsichtigkeit und Selbstgerechtigkeit, mit der er sein Leben lang die Verbrechen des Nationalsozialismus leugnete und diesen ganz im Sinne der völkischen Tradition des deutschen Nationalismus verteidigte. Bemerkenswert sind hier auch die Notizen zu Wolters Auseinandersetzungen mit Heinrich Lübke, in dessen Ingenieurbüro er einige Zeit arbeitete. In seinem Tagebuch vom April 1945 berichtet Wolters, dass Lübke "aus seinem Hass gegen die Nazis" keinen Hehl mache und "ihnen ganz allgemein für alles eine Verbrecherrolle" zuschiebe. Der Nazi Wolters mochte das nicht hören.
Nach dem Krieg gelang es Wolters, weil er nicht der NSDAP angehört hatte und auch sonst nur den Insidern als scharfer Nationalist und nationalsozialistischer Funktionär bekannt war, als "unbelastet" eingestuft zu werden. Angesichts seiner geistigen Haltung ein Zeichen dafür, wie wertlos viele Bewertungen der Entnazifizierungsverfahren als historische Information sind. Als "unbelasteter" Architekt versorgte Wolters in den folgenden Jahren zahlreiche ehemalige Mitarbeiter mit allen gewünschten, meist frei erfundenen Entlastungserklärungen, damit sie unbehelligt und gut vernetzt neue Karrieren anstreben konnten. Seinen ehemaligen Mitarbeiter Erich Dibbelt ermunterte er: "Und dann schreiben Sie doch ruhig das ein oder andere, was sie besonders als alter Widerstandskämpfer bescheinigt haben möchten." Wolters war überzeugt, die neuen Rechtskategorien ignorieren zu dürfen. Lügen war ebenso erlaubt wie jede Form von Täuschung, Ablenkung und Irreführung des neuen Staates, wenn es um die eigene Karriere und die Förderung von ehemaligen Freunden ging.
Wolters Karriere zeigt exemplarisch, wie Nationalsozialisten in der Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik ihren neuen Platz fanden und sich mit der Demokratie arrangierten. Die ehemaligen und mental bisweilen fortlebenden Nazis machten Karriere und erreichten Wohlstand, ihre Mitarbeit schuf bei aller inneren Reservation die strukturellen Voraussetzungen für den Erfolg des demokratischen Staates. Zugleich hat Rudolf Wolters durch die Überlieferung und Öffnung seiner Materialien der Geschichtswissenschaft einen Dienst erwiesen. Während Speer Distanzierungsgeschichten erfand und als Zeitzeuge weiterhin eine frappierende Täuschungsmacht gegen die Wissenschaft ausübte, gab Wolters durch seine Quellen die Möglichkeit zu weiteren Analysen. Er wusste, dass er darin als Nazi identifiziert würde. Weil er diese Rolle aber ohnehin für richtig hielt, war ihm die Wertung gleichgültig. Speers Lügen jedoch wollte er nach seinem Tod nicht weiter decken. So entstand Anfang der 1980er Jahre die schizophrene Situation, dass ein überlebter Voll-Nazi wie Wolters der Geschichtswissenschaft auf die Sprünge zu helfen suchte, um diese aus der Komfortzone angenehmer Speer-Legenden heraus zu bewegen. Die Geschichtswissenschaft hat diese Chance lange nicht genutzt. Die seit 1983 im Bundesarchiv verwahrten Wolters-Dokumente wurden von der Forschung weitgehend ignoriert. Die seit 2011 im Berliner Landesarchiv verfügbaren Materialien unterstreichen dies.
Es ist Deschans Verdienst, nun vor allem die jüngeren Materialien gründlich analysiert zu haben. Deschans Buch überzeugt durch seine profunde, aus den Quellen geschöpfte Lebens- und Wirkungsbeschreibung. Seine zahlreichen Hinweise auf andere Architekten derselben Generation bieten darüber hinaus reichlich Anregungen für weitere Forschung. Die einzig nennenswerte Kritik muss Deschans "Fazit und Ausblick" gelten. Hier möchte der Autor zu viel auf einmal jenseits seines Themas und verliert sich in historischen Analogien und Perspektiven, zu dem ihm das vorher analysierte Material keine ausreichende Basis und die Literaturverarbeitung nicht genügend Tiefe liefert. Um der Einheitlichkeit dieses ansonsten gelungenen und wichtigen Buches willen, möchte man fast dazu raten, auf die Lektüre dieses letzten Abschnittes zu verzichten. Dies Monitum schmälert nicht Deschans bleibendes Verdienst, mit der Lebensanalyse von Rudolf Wolters erstmals die Biographie eines exemplarisch einflussreichen Architekten aus der Kontinuitätsgeschichte vom 'Dritten Reich' zur Bundesrepublik vorgelegt zu haben.
Magnus Brechtken