Ulrike Sbresny: Sammlungen des Adels. Bedeutung, Kulturgüterschutz und die Entwicklung der Welfensammlung nach 1918 (= Edition Kulturwissenschaft; Bd. 118), Bielefeld: transcript 2016, 748 S., 29 s/w-Abb., ISBN 978-3-8376-3677-2, EUR 54,99
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"Die literarischen und Kunstsammlungen unseres fürstlichen Hauses sind ein Reichtum, den kein Maß bestimmen kann. [...] Alle Werke des Geistes gehören der Nation, gehören der Menschheit an und in diesem Sinne allein krönen sie den Besitzer mit dem Golde ihres Reichtums. - Darum ist das Heiligste ihrer Hallen geöffnet und jeder Auserwählte zum freien Genusse gastfreundlich berufen". [1] Diese frühe Formulierung des Konzepts "Kulturgut" schrieb 1811 der hochadelige Sammler und spätere "Fürst Proletarier" Ludwig von Oettingen-Wallerstein (1791-1870) nieder. Er folgte Ideen der Französischen Revolution, die Kunst nicht mehr als Privileg der feudalen Oberschicht sah, sondern zum Eigentum des Volkes erklärte.
Weit weniger generös mutet der Umgang der in das Frühmittelalter zurückreichenden Dynastie der Welfen mit ihren ererbten Kulturgütern in den letzten Jahrzehnten an. Angesichts der großen Auktion im Welfen-Schloss Marienburg im Oktober 2005 sprachen Kritiker von einem "Ausverkauf des kulturellen Erbes" und einem "Verkauf der Geschichte Niedersachsens" (21). Dieses für mich skandalöse "Entsammeln" wählt Ulrike Sbresny, inzwischen Leiterin des Schlossmuseums Braunschweig, als Einstieg für ihre Dissertation (Hochschule für Bildende Künste Braunschweig), die mit ihrem Focus auf dem Erhalt des kulturellen Erbes des Adels nach 1918 Neuland betritt. Sie verbindet kunstgeschichtliche Ansätze mit Fragestellungen aus der Sammlungs- und Museumsgeschichte, aber auch mit der geschichtswissenschaftlichen Adelsforschung zum 19. und 20. Jahrhundert und dem juristischen Kulturgüterdiskurs.
Nach dem kurzen Blick auf die Versteigerung von 2005 folgt eine umfangreiche Darstellung der rechtlichen Rahmenbedingungen, also des Kulturgut- und Denkmalschutzes (27-190). Kapitel 3 ist überschrieben mit "Die Bedeutung der Dinge - Sammlungen und Gründe des Sammelns. Vom kulturellen Erbe zu Bedeutungsebenen der Objekte in Adelsbesitz" (191-434). Beginnend mit dem Verlust des Königreichs Hannover 1866 stellt das vierte Kapitel chronologisch das Sammeln und Entsammeln der Welfen bis zur unmittelbaren Gegenwart dar (435-658). Exemplarisch werden "Objektbiografien" geboten von fünf Gegenständen, die sich zeitweilig im Welfenbesitz befanden bzw. in einem Fall noch befinden. Im Schlusskapitel werden kulturpolitische Vorschläge für Erhaltungsmöglichkeiten aristokratischer Sammlungen gemacht (659-690).
Meine Lektüre der Arbeit glich rauer See. Nach einem ersten positiven Hoch, das die materialreiche Recherche anerkennt, folgte ein langes Wellental der Verärgerung über unkritische Übernahme adeliger Rechtfertigungsstrategien, worauf es angesichts der abschließenden Anregungen wieder wohlwollend in die Höhe ging. Da ich mich selbst seit 1994, als die Inkunabeln der Fürstlich Fürstenbergischen Hofbibliothek in alle Welt zerstreut wurden, intensiv mit dem Thema befasse, muss ich versuchen, dem doppelten Charakter einer "Erstlingsarbeit" gerecht zu werden: als Dissertation und als erste monografische Aufarbeitung adeliger Kulturgutpflege und von im Bereich dieser Sammlungen eingetretenen Kulturgutverluste am Beispiel der Welfen-Sammlungen. Sbresny hat mit ihrer voluminösen Studie unbestreitbar Pionierarbeit geleistet, auch wenn ich überzeugt bin, dass sie viele wichtige Arbeiten und Aspekte nicht oder kaum berücksichtigt hat.
Zunächst zur Quellengrundlage. Breit wurden normative gedruckte oder im Internet zugängliche Quellen zum Denkmal- und Kulturgüterrecht herangezogen, wobei beim Denkmalrecht Niedersachsen im Vordergrund stand. Einschlägige Rechtsprechung wurde zum Nachteil der Arbeit so gut wie nicht berücksichtigt. Die zentrale Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts zum "Silberzimmer" der Welfen wird nur ganz kurz (588f.) aus zweiter Hand [2] referiert, obwohl die Auseinandersetzung mit diesem Prozess über drei Instanzen einiges Licht auf die Einstellung des klagenden Eigentümers zu seinem Kulturgut hätte werfen können, das er abschätzig als "ein historisch interessantes Kuriosum von vier wackeren Handwerksmeistern" darstellen ließ. (Zu den juristischen Gesichtspunkten sei noch angemerkt, dass die Autorin die beiden faktisch getrennten Rechtsgebiete des Denkmalschutz- und Kulturgüterrechts zu Unrecht zusammenwirft und den normativen Diskurs zu wenig kritisch hinterfragt.)
Während es zur welfischen Sammlungsgeschichte durchaus etliche Sekundärliteratur gibt, stützt sich die Autorin hinsichtlich der diversen Verkäufe in der Gegenwart vor allem auf die Meldungen der Tagespresse. Zu nennen ist aber auch der wichtige Ausstellungsbegleitband "Welfenschätze" (Braunschweig 2007), der ein durchaus kritisches Bild von den Veräußerungen zeichnet. [3] An ungedruckten Quellen stehen an erster Stelle private "Unterlagen aus dem Nachlass Victoria Luises Herzogin zu Braunschweig und Lüneburg" (705-707), die sich ebenso wie die Notizen der Autorin über sieben Interviews mit Beteiligten und Kritikern der Auktion von 2005 wissenschaftlicher Nachprüfbarkeit entziehen. Ein Unding: Das Familienarchiv des Hauses Hannover im niedersächsischen Hauptstaatsarchiv ist nach wie vor nur mit Genehmigung des Chefs des Hauses zugänglich. Diese werde "selten gewährt", bemerkt die Autorin, die auf die Auswertung dieser Bestände unverständlicherweise verzichtet hat (436 Anm. 3). Außer einigen wenigen Inventaren zum Schloss Braunschweig im Niedersächsischen Staatsarchiv Wolfenbüttel ("NStA WF" - ein Abkürzungsverzeichnis fehlt), hat die Autorin die staatliche Überlieferung ebenso ausgeblendet wie Museumsregistraturen und anderes Archivgut. Dabei wäre es außerordentlich wichtig gewesen zu ermitteln, wie sich die niedersächsische Landesregierung intern zu den dubiosen Kulturgutverkäufen der Welfen nach 1945 verhielt. Entscheidende Fragen müssen so offen bleiben.
Über die vormoderne Erinnerungskultur weiß die Autorin, die in der Adelsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts zu Hause ist, zu wenig. Man erfährt nichts über die sogenannten "Hauskleinodien", die den ältesten Kern aristokratischer Sammlungen ausmachten. [4] Sbresny geht der rechtshistorischen Literatur zu den Hausfideikommissen auf den Leim, die sich auf den Güterbesitz konzentrierte und grundlegend verkannte, welche entscheidende Rolle dieses Rechtsinstitut (bis 1918, teilweise bis heute!) für den Zusammenhalt von adeligen Sammlungen spielte. Aus der neueren Literatur zu frühneuzeitlichen Kunst- und Wunderkammern hätte man unschwer erhellende Belege zusammentragen können. Zu den Porträtsammlungen des Adels [5] fehlt ein Hinweis auf die in der Renaissance aufkommenden Ahnengalerien. Nicht rezipiert wurde der Aufsatz von Gerrit Walther über die Rolle der Antikensammlungen für den Adel. [6]
Stattdessen befremdet die beflissene Rezeption allgemeiner museums- und sammlungstheoretischer Literatur inklusive ethnologischer Lesefrüchte, wo man sich konkrete historische Beispiele gewünscht hätte. Dass die Autorin ständig auf den Sammlungskontext (Ding-Ding-Beziehungen) und die bislang zu wenig ausgeleuchtete Rolle der Objekte für die Adeligen und die höfische Gesellschaft (Mensch-Ding-Bindungen) abhebt, ist zu loben, auch wenn mir persönlich die Terminologie manchmal etwas aufgesetzt und hölzern erscheint. Zu kurz kommt das, was man analog zur Begrifflichkeit des Buchs Sammlung-Sammlung-Beziehungen nennen könnte, also die Einbindung der aristokratischen in die allgemeine Erinnerungskultur und die Bezüge zum "bürgerlichen" bzw. patrizischen Sammeln. Sehr gelungen erscheinen die erwähnten Objektbiografien. So wird zum "Mantuanischen Onyxgefäß" (heute im Herzog-Anton-Ulrich-Museum in Braunschweig) zutreffend auf die Zerstörungsrisiken aufmerksam gemacht, denen dieses antike Kunstwerk wiederholt ausgesetzt war. "Darüber hinaus hat das Gefäß zahlreiche menschliche Biografien zum Teil nachhaltig verändert, indem es zu Erbstreitigkeiten führte, Begehrlichkeiten weckte, den Status des Besitzers erhöhte, wissenschaftliches Interesse anregte und möglicherweise im Zweiten Weltkrieg dazu beitrug, weitere Sammlungsbereiche und sogar Menschenleben vor der Zerstörung durch feindlichen Beschuss zu retten" (617).
Leider nur am Rande kommen die von mir wiederholt [7] thematisierten Adelsbibliotheken vor (u.a. 271, 274, 346f., 560f.), obwohl diese integraler Bestandteil aristokratischer Sammlungen waren. So wurde 1970/71 die Königliche Ernst-August-Fideikommissbibliothek mit über 80.000 Bänden in alle Welt zerstreut, offenbar mit Billigung des Landes Niedersachsen (531).
In der sogenannten Domänenfrage und hinsichtlich der Auseinandersetzung mit den ehemals regierenden Häusern in der Weimarer Republik ist die Autorin nicht sattelfest, da sie die maßgeblichen allgemeinen Arbeiten ignoriert. Zur Debatte um die sogenannte "Fürstenenteignung" (gescheiterter Volksentscheid 1926) hätte sie sich beispielsweise in der Wikipedia gut orientieren können. [8] Winfried Kleins Studie zur Domänenfrage [9] wird ebenso vermisst wie das fundamentale Gutachten zum "Karlsruher Kulturgüterstreit". [10] Stattdessen findet man eine parteiische Äußerung aus Adelskreisen (von Cajetan von Aretin 2008) zitiert (473). In dem badischen Gutachten hätte die Autorin eine schlüssige Beweisführung gefunden, dass Säkularisationsgut den Staaten und nicht den Herrscherhäusern gehörte, auch wenn die heutigen Eigentümer das verständlicherweise anders sehen. In für mich unangenehmer Weise schlägt sich Sbresny auf die Seite der Welfen, wenn sie den ehrenwerten Versuch des Hildesheimer Oberbürgermeisters 1980, die Versteigerung (und Zerschlagung) des in der Säkularisation enteigneten Hildesheimer Silberservices zu verhindern, mit dem Hinweis auf die offenkundig von ihr abgelehnte "verbreitete[] Meinung, Adelshäuser seien zu Unrecht Eigentümer von Sammlungsbeständen", abtut (540).
Ob die mutmaßliche Kumpanei der niedersächsischen Ministerialbürokratie mit dem Welfenhaus einmal aufgedeckt werden kann? Die Autorin setzt die unbekannten Umstände der mehr als zweifelhaften Veräußerungen nach 1945 jeweils so an, dass diese legal erscheinen. Geradezu lächerlich wirkt der Hinweis bei dem geheimnisumwitterten Verkauf des Evangeliars Heinrich des Löwen auf die Strafbarkeit einer ungenehmigten Ausfuhr (553). Die ständige Weißwäscherei und das große Verständnis für die "Entsammlungsaktionen" des Adelshauses diskreditiert die Studie. Man kann die Dynamik adeligen Sammelns als Beschreibung durchaus akzeptieren, ohne daraus den Schluss zu ziehen, Museumsverkäufe müssten enttabuisiert werden, wie das die Autorin auch mit Blick auf die öffentlichen Sammlungen tut (432).
Zugleich weiß die Autorin aber auch um den Quellenwert der Adelssammlungen und bedauert die Verluste. "Sammlungen wie historische Schloßinventare sind beziehungsreiche Gesamtheiten, in denen sich die einzelnen Gegenstände in vielfältiger Weise aufeinander und auf die Geschichte der Familie, die sie zusammengetragen hat, beziehen. Wird eine solche Sammlung in einer Auktion aufgeteilt, so wird eine einzigartige Geschichtsquelle unwiderruflich zerstört", schrieb ich 1999 [11] (zustimmend zitiert 580, ebenso 677). Sbresny macht am Ende vernünftige Vorschläge, wie man einen besseren Schutz bewerkstelligen könnte. Wichtig ist der Aufruf zum Dialog mit dem (historischen) Adel (678). Ein Vorkaufsrecht nach englischem Vorbild könnte hilfreich sein, desgleichen eine Orientierung am dortigen National Trust und an der Historic Houses Association. Ohne privates Engagement (689f.) wird es nicht gehen. Allerdings orientieren sich leider Stiftungen weniger an schützenswerten Ensembles als vielmehr an exzellenten Einzelstücken.
Da die Autorin zu wenig vergleichend gearbeitet hat, steht die Chronique scandaleuse, stehen die unerfreulichen Kulturgutverkäufe der Welfen, denen man solche des Hauses Baden und des Hauses Wettin an die Seite stellen könnte, stellvertretend für den Umgang des historischen Adels im 20. Jahrhundert mit seinen Kunstschätzen. Dass es auch anders geht, bewiesen Angehörige der Familie Hiller von Gaertringen, die 2016 einen programmatischen Sammelband "Aufgewacht!" herausgegeben haben, begleitet von einer kleinen Ausstellung im Töpfermuseum Thurnau, zu den in ihrem Eigentum befindlichen Sammlungen der Grafen Giech aus Schloss Thurnau. Diese hatten schon 1857 ein öffentlich zugängliches Familienmuseum in ihrem Schloss eröffnet. Es bleibt zu hoffen, dass das erfreuliche Engagement der Eigentümerfamilie für ihr kostbares Erbe die erwünschte Resonanz findet und auch die wertvolle Adelsbibliothek gerettet werden kann.
Licht und Schatten der Arbeit ist wohl deutlich geworden. Trotz aller Vorbehalte sehe ich sie als wertvollen Beitrag zu einem zu wenig beachteten Thema und wünsche ihr eine möglichst breite Rezeption und Diskussion. Dass eine Arbeit dieses Umfangs kein Register enthält, ist eine Zumutung. Negativ zu vermerken ist auch die Feingliederung von "Quellen und Literatur", wo man beispielsweise recht lang suchen muss, bis man die Seite 386 zitierte Arbeit von Günther 1928 auf Seite 702 entdeckt.
Anmerkungen:
[1] Organisationsplan für die Fürstlichen Sammlungen Oettingen-Wallerstein, zitiert nach Georg Grupp, in: Jahrbuch des Historischen Vereins für Nördlingen 6 (1917), 73f., online: https://commons.wikimedia.org/w/index.php?title=File:Grupp_oettingen_wallerstein.pdf&page=46.
[2] Anette Hipp: Schutz von Kulturgütern in Deutschland, Berlin / New York 2000, 76. Wortlaut der Entscheidung online: https://www.jurion.de/urteile/bverwg/1993-05-27/7-c-33_92/.
[3] Meine polemische Stellungnahme (eine von etlichen zu den Welfen-Verkäufen): Graf Douglas als Roßtäuscher, in: Archivalia vom 2. Juli 2007, online: https://archivalia.hypotheses.org/27462.
[4] Klaus Graf: Fürstliche Erinnerungskultur. Eine Skizze zum neuen Modell des Gedenkens in Deutschland im 15. und 16. Jahrhundert, in: Les princes et l'histoire du XIVe au XVIIIe siècle, Bonn 1998, 1-11, hier 5, online: http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/artdok/523/.
[5] Vgl. jetzt Franz Reitinger: Die Metastasier. Geschmackseliten im 18. Jahrhundert, Salzburg 2016.
[6] Adel und Antike. Zur politischen Bedeutung gelehrter Kultur für die Führungselite der Frühen Neuzeit, in: Historische Zeitschrift 266 (1998), 359-385.
[7] Vgl. nur Klaus Graf: Oberschwäbische Adelsbibliotheken, in: Adel im Wandel 2 (2006), 751-762, online (ungekürzte Autorenfassung): http://hdl.handle.net/10760/7542.
[8] Seite "Fürstenenteignung", in: Wikipedia. Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 3. September 2017, 10:47 UTC, online: https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=F%C3%BCrstenenteignung&oldid=168732786 (von der Wikipedia-Community als "exzellenter Artikel" ausgezeichnet).
[9] Winfried Klein: Die Domänenfrage im deutschen Verfassungsrecht des 19. Jahrhunderts, Berlin 2007; meine Besprechung in der Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 155 (2007), 606-608 ist auch online verfügbar: https://archivalia.hypotheses.org/26311.
[10] Adolf Laufs u.a.: Das Eigentum an Kulturgütern aus badischem Hofbesitz, Stuttgart 2008.
[11] Vom Winde verweht: Schloßausstattungen von Ludwigslust (Mecklenburg) und Niederstotzingen (Ostwürttemberg), in: Kunstchronik 52 (1999), 521-525, hier 522, online: http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/artdok/volltexte/2007/368/; vgl. auch Klaus Graf: Schatzhäuser des Adels in Gefahr, in: Kunstchronik 58 (2005), 181-184, online: http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/artdok/volltexte/2007/370.
Klaus Graf