Nahema Hanafi: Le frisson et le baume. Expériences féminines du corps au Siècle des lumières, Rennes: Presses Universitaires de Rennes 2017, 339 S., ISBN 978-2-7535-5485-6, EUR 61,45
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Wie Frauen ihren Körper erfahren und darüber in Briefen, Tagebüchern und anderen privaten Schriftzeugnissen (écrits du for privé) schreiben - das ist der Stoff, aus dem Nahema Hanafi schöpft für ihren profunden Beitrag zur Kulturgeschichte Frankreichs im Zeitalter der Aufklärung. Nicht normativ ausgerichtete, im Duktus der Wissenschaftlichkeit vorgetragene Diskurse über Frauen will sie in den Fokus rücken. Stattdessen sollen diese selbst zu Wort kommen, im Mittel von ihnen persönlich formulierter Texte, die einen reflektierten, selbstbewussten Umgang mit dem eigenen Leib, mit seiner Verletzlichkeit und Hinfälligkeit, seinen Veränderungen in Folge von Schwangerschaft und Alterungsprozess bezeugen.
Mit dem Schreiben ihrer "biographie médicale" (302) hatten die Frauen Anteil an der Produktion eines Medizinaldiskurses, der im 18. Jahrhundert mehr und mehr institutionalisiert, verwissenschaftlicht und von ausschließlich männlichen Experten geführt wurde. In Anlehnung an entsprechende Studien von Roy Porter, macht Hanafi das Wissen der um ihre Körper besorgten Frauen als ein konkretes, klar situiertes "Wissen von unten" erkennbar. [1] Hier artikuliere sich weibliche Subjektivität in spannungsvoller Auseinandersetzung mit kollektiven Erwartungen an das Geschlecht bzw. den Geschlechtscharakter, würden die Möglichkeiten der Frauen zwischen Anpassung und Widerspruch ausgelotet.
Der Titel, "Le frisson et le baume", ist kein Zitat, sondern verweist auf das breite Spektrum physiologisch-emotionaler Empfindungen, die geäußert oder evoziert werden. Die Frauen formulieren vielfältige, mehr oder minder konventionelle Formen von Zittern oder Erschaudern (frisson) - sei es aus Angst vor einer Krebserkrankung oder einer Fehlgeburt, aus zwiespältigem Schamgefühl vor der Begegnung mit dem untersuchenden Arzt, infolge einer erregenden Roman-Lektüre oder auch zur Demonstration standes- und geschlechtsgemäßer Hypersensibilität. Balsam oder Trost (baume) bezogen sie aus dem Austausch mit Familienangehörigen, der eigenen Schreibtätigkeit oder aus selbständiger Aneignung grundlegender medizinischer respektive pflegerischer Kenntnisse sowie tatsächlichen Fortschritten im Bereich der ärztlichen Diagnose und der therapeutischen Maßnahmen.
Zwanzig bürgerliche und adelige Frauen aus dem französischen und dem helvetischen Raum, deren Lebensläufe in Form biografischer Skizzen als Anhang zur Verfügung stehen, sind Hanafis Informantinnen. Sie ist sich der Tatsache bewusst, dass sie damit soziale Privilegien fortschreibt. Der exklusive Rekurs auf im privaten Bereich entstandene Schriftzeugnisse bedeutet den Ausschluss von Frauen der unteren Bevölkerungsschichten und ihrem Erfahrungswissen. Wie eng Gesellschafts-, Körper- und Medizingeschichte miteinander verwoben sind, tritt auch an solchen forschungstechnisch bedingten Entscheidungen prägnant zutage.
Die als Quellen herangezogenen Briefe und Tagebücher datieren mehrheitlich aus dem Zeitraum um 1740 bis um 1790, zum Teil auch aus den Dekaden um 1800. Außerdem hat Hanafi die Beratungskorrespondenz des renommierten, in Lausanne tätigen Arztes Samuel A. Tissot aus den Jahren 1765 bis 1797 ausgewertet. Auch zu Tissot gibt es eine biografische Skizze im Anhang.
Für das Thema interessante bildliche Zeugnisse der Zeit erwähnt Hanafi zwar gelegentlich, sie sind aber nicht Teil des untersuchten Quellenkorpus. Umso mehr ärgert die Wahl von François Bouchers Gemälde "Jeune fille au repos" (1752) für die Buchdeckel-Gestaltung, die unkommentiert bleibt und in ihrer vermeintlichen Frivolität falsche Erwartungen weckt. Im Mittelpunkt von Hanafis Buch, das auf ihrer 2013 abgeschlossenen, mit zwei Preisauszeichnungen gewürdigten Dissertation basiert, stehen nämlich weniger Praktiken der alltäglichen Körperpflege und der Umgang der Frauen mit geschlechtsspezifischen, auch visuell vermittelten Schönheitsidealen. Fokussiert wird vielmehr die persönliche Erfahrung solcher Belange, die im 18. Jahrhundert der Markierung von sozialer Identität und Zugehörigkeit dienten und die dann auch zur Ausbildung der Gynäkologie, also einer Spezialmedizin für die weibliche Klientel, beitrugen.
Hierbei spielte die schon in der Renaissance greifbare Naturalisierung bzw. Vernatürlichung der Geschlechterrollen und die Perspektivierung der Frau als qua Natur anders und inferior eine wesentliche Rolle. Sowohl die aus der Antike tradierte Temperamentenlehre bzw. Säftetheorie als auch ihre Gebärfähigkeit ließen die Frau der Natur näher erscheinen. Ihre Leib- und Lebenserfahrung war gekennzeichnet von Routinen und Zäsuren, die den Körper als fruchtbar oder eben nicht (mehr) gebärfähig auswiesen.
Als Vehikel gesellschaftlicher Reproduktion, insbesondere der sozialen Eliten, entwickelte sich der weibliche Körper im Zeitalter der Aufklärung zum Politikum, das nach Reglementierung verlangte. Zu dieser gehörte auch die Verdrängung der Hebammen und ihres über Generationen tradierten Wissens durch eine staatlich geförderte Schulmedizin und modern ausgebildete Ärzte. Die diesbezüglich wegweisende Studie von Claudia Honegger scheint Hanafi leider nicht zur Kenntnis genommen zu haben. [2]
"Le frisson et le baume" hat vier große Teile, auf die sich neun Kapitel verteilen. Eine luzide Einleitung und in die Teile jeweils einführende wie auch zusammenfassende Abschnitte erleichtern die Orientierung und machen das Buch gut lesbar. Eine kompakte "Conclusion" (299-306) bringt den Ertrag der Studie auf den Punkt. Kürzere und längere Zitate aus den Egodokumenten der Frauen durchsetzen den gesamten Text und verdichten sich in der zweiten Hälfte des Buches. Sie werden vor allem in den Kapiteln über Schwanger- und Mutterschaft einer vergleichenden Lektüre unterzogen, die die Vielfalt der persönlichen Perspektiven auf das Thema hervortreten lässt.
Im ersten Teil stellt Hanafi das im Untersuchungszeitraum bekannte, gemeinsame Wissen über den menschlichen Körper vor. Interessant, wenngleich nicht neu, sind hier vor allem ihre Hinweise zur diskursiv hervorgebrachten Kontrastierung effeminierter, im Sinne von kulturell raffinierter und besonders sensibler Stadtbevölkerung einerseits und vermeintlich gesünderer, weil der Arbeit in der Natur und der einfachen Lebensart verbundenen Landbewohnerinnen andererseits. Deutlich wird hier zudem, dass das ausgestellte Wissen vom Körper und die Sorge um ihn primär der Abgrenzung und Behauptung der gesellschaftlichen Eliten dienten und das Geschlecht häufig eine nur nachgeordnete Rolle spielte.
Der zweite Teil der Studie ist ganz dem weiblichen Körper, seinen angeblichen Besonderheiten, diagnostisch konturierten 'Frauenkrankheiten' und der Bedeutung seiner Fruchtbarkeit - im Sinne möglichst zahlreicher Geburten - für das Weiterleben von Familie, Volk und Nation gewidmet. Der besonders interessante dritte Teil schildert den Umgang mit Schwangerschaft und mit deren Ausbleiben ebenso wie die von einigen Frauen durchaus zwiespältig erfahrenen Freuden mehrfacher Mutterschaft.
Manche Frauen, wie die Berner femme de lettres Julie Bondelie (1732-78), verweigerten sich offen dem gesellschaftlichen Verheiratungs- und Reproduktionszwang. Die Quadratur des Kreises schiene ihr als Unterfangen weniger "efraiante" (furchterregend) als die Ehefrau des besten Mannes zu sein (179). Auch weniger artikulierten und weniger schillernden Frauen war es - wie Hanafi zeigen kann - ein Anliegen, ihre Körper vor den damals lebensbedrohlichen Schwangerschaften zu schützen und andere Lebensziele als das der Ehefrau und Mutter verfolgen zu dürfen.
Im vierten und letzten Teil ihrer Studie analysiert Hanafi die medizinische Perspektivierung und Behandlung des weiblichen Körpers als ein Ergebnis von Aushandlungsprozessen, an dem die Ärzte und ihre Patientinnen gleichermaßen beteiligt waren und bei denen auch bewährte volkstümliche Praktiken und Arzneien weiterhin eine Rolle spielten. Auch im Zeitalter der Aufklärung konkurrierten somit Schulmedizin und alternative Medizin um die Deutungshoheit auf einem gesellschaftlich und politisch sensiblen Terrain. Und damals wie heute scheinen es vor allem die Patientinnen zu sein, deren immer wieder neu abwägende, selbstbewusste Entscheidungsfindung den Wettstreit in Gang hält.
Wenngleich Hanafi die deutschsprachige Forschung zu ihrem Thema nahezu ignoriert, wünscht man ihrer gründlichen und in vieler Hinsicht aufschlussreichen Untersuchung auch hierzulande eine reiche Leserschaft.
Anmerkungen:
[1] Vgl. von Roy Porter insb.: Patients and Practitioners. Lay Perceptions of Medicine in Pre-Industrial Society, Cambridge 1986, und The Popularization of Medicine, London / New York 1992.
[2] Claudia Honegger: Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaften vom Menschen und das Weib 1750-1850, Frankfurt am Main 1991. Auch die profunden Studien von Barbara Duden und Raingard Eßer zur Medizinalgeschichte des 18. Jahrhunderts werden von Hanafi nicht rezipiert bzw. angeführt.
Sigrid Ruby