Catherine Merridale: Lenins Zug. Die Reise in die Revolution. Aus dem Englischen von Bernd Rullkötter, Frankfurt a.M.: S. Fischer 2017, 384 S., 14 Farb-, 25 s/w-Abb., ISBN 978-3-10-002274-5, EUR 25,00
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"Lenin bleibt bei uns!" [1] Die 1990 geäußerte Hoffnung des damaligen sowjetischen Staatspräsidenten, Michail Gorbačev, eine Rückbesinnung auf den Revolutionsführer könne eine Erneuerung des Systems bewirken, erfüllte sich nicht. Und doch ist Lenin noch immer da. Seine sterblichen Überreste liegen im Mausoleum auf dem Roten Platz, noch immer spukt sein Geist durch Russland und sogar über dessen Grenzen hinaus. Vladimir Lenin bereitet seinem Land erhebliches Kopfzerbrechen darüber, wie mit ihm und seinem geistigen Erbe umzugehen ist. Eines indes ist sicher: Ohne ihn sähen Russland und die Welt heute anders aus.
An sein persönliches revolutionäres Potential glaubten 1917 außer ihm selber nur die Deutschen. Im April schleusten sie ihn mit dem Zug von Zürich durch Deutschland über Schweden nach Russland - "eine Reise, durch die sich die Welt verändert" (15), wie Catherine Merridale zurecht schreibt. Doch auch in diesem Fall lagen Hoffnung und Realität weit auseinander. Zwar erfüllte er die Erwartungen der Deutschen und erklärte den Austritt Russlands aus dem Weltkrieg, allerdings nur, um seine ganze Kraft der Revolution zu widmen. Zu deren Zielen gehörte nicht zuletzt auch der revolutionäre Umsturz in Deutschland. Zwar blieb dieser aus, die durch die Spaltung der internationalen Sozialdemokratie entstandene und infolge der Entwicklung in Russland erstarkte kommunistische Bewegung jedoch blieb eine permanente Herausforderung für die Weimarer Republik. Anders als die Deutschen knüpften viele Russen die Hoffnung an Lenin, die im Februar 1917 begonnene Revolution fortzusetzen und einen sozialistischen Staat zu schaffen. Aber nur die wenigsten vermochten sich auch nur annähernd vorzustellen, mit welcher Konsequenz Lenin dieses Ziel zu verwirklichen gedachte.
Dass es Lenin gelang, seine Position immer wieder gegen neue Widerstände durchzusetzen, ist seiner persönlichen Überzeugungskraft und Energie zuzuschreiben. Wer das nicht glaubt oder je daran gezweifelt hat, der wird durch die Lektüre des neuen Buches der britischen, vielfach ausgezeichneten Historikerin eines Besseren belehrt. Merridale fokussiert ihre Erzählung ganz auf die Person Lenins. Dabei gelingt es ihr, den Führer der Bolschewiki als Motor des Geschehens zu portraitieren, von dessen individuellen Entscheidungen der Verlauf der Geschichte maßgeblich beeinflusst wurde, und sein Handeln zugleich in einen größeren politischen Zusammenhang einzuordnen.
Merridale nimmt die Reise Lenins zum Anlass, ein Panorama der russischen Gesellschaft vor und nach April 1917 zu entwerfen. Das Übereinkommen der unterschiedlichen politischen Kräfte infolge der Revolution von 1905 hatte sich als zunehmend fragil erwiesen. Große Teile der Bevölkerung waren nach wie vor von der politischen Mitbestimmung ausgeschlossen, die Lage der Bauern hatte sich trotz Reformen nicht nachhaltig verbessert, die Lebens- und Arbeitsbedingungen des Industrieproletariats waren desolat, die linke Opposition bedrohte den Staat mit terroristischer Gewalt. Unter den Bedingungen des Krieges, der sowohl der Armee als auch der Bevölkerung das Äußerste abverlangte, verschärften sich diese Konflikte, die wirtschaftliche Lage spitzte sich zu, die Protestbereitschaft der Bevölkerung stieg seit 1915 deutlich an. Zugleich zeigte sich die Unfähigkeit des Zaren und der Regierung, darauf adäquat zu reagieren.
Der Autorin gelingt es, diese Stimmung in gewohnt flüssiger, kenntnisreicher und detailfreudiger Beschreibung einzufangen. Auch wenn der Leser hier wenig substantiell Neues erfährt, wird eines dabei deutlich: Der Verlauf der revolutionären Ereignisse 1917 ist nur vor dem Hintergrund des Krieges zu verstehen. Zum einen war er Motor der revolutionären Bewegung, zum anderen bestimmte die Haltung zur Fortsetzung oder Beendigung des Krieges das Verhalten der politischen Lager. Die damit verbundenen gegensätzlichen Interessen der Deutschen und Alliierten erschließen sich aus der britischen Perspektive der Autorin sowie der Auswertung zahlreicher, für viele deutsche Leser neuer Quellen auf anschauliche Weise.
Während der Lektüre steigert sich die Spannung spürbar: Unweigerlich fragt sich das Publikum, wie Lenins Ankunft am 3./16. April am Finnländischen Bahnhof in Petrograd die Situation beeinflussen wird. Das Verhalten Lenins und seine Reden überraschen gleichermaßen: "Lenins Zug war verspätet [...] Die Kapelle stimmte die Marseillaise an (ein Fehler, denn Lenin zog die Internationale vor)" und "eine Frau - war es Kollontai? - trat heran und überreichte ihm einen Frühlingsstrauß aus einem Blumengeschäft - ein seiner Meinung nach nutzloses Objekt, das er nicht haben wollte" (253). Lenin verkündet seine Aprilthesen und löst damit einen Schock aus. Selbst seine Frau Nadežda Krupskaja ist irritiert: "Leider sieht es so aus, als sei Lenin verrückt geworden" (261). Mit seinen Forderungen nach einem sofortigen Frieden, der Lösung der Landfrage sowie der Umwandlung des Weltkrieges in einen Bürgerkrieg zur Verwirklichung der sozialistischen Weltrevolution fordert er die Provisorische Regierung in ihrer Haltung zur Fortsetzung des Krieges an der Seite der Verbündeten und Vertagung wichtiger politischer Entscheidungen auf die Konstituierende Versammlung heraus.
Seine Parteigenossen stößt er vor den Kopf, indem er jede Form der Zusammenarbeit mit der Regierung ablehnt. Mit unermüdlicher Kraft treibt er sein politisches Programm voran. Dabei sieht er sich mit allseits erhobenen Vorwürfen und Gerüchten gegen ihn konfrontiert, er sei ein deutscher Spion und ließe die Revolution durch das Gold des Kaiserreiches finanzieren. So sicher die erste Anschuldigung falsch ist, so schwierig bleibt es, die zweite zweifelsfrei zu widerlegen, wie Merridale nachweist. Was folgt, ist keine Beschreibung der Oktoberereignisse oder der kommenden Monate der Machtsicherung - all das ist bekannt -, sondern vielmehr die erschütternde Beschreibung der Schicksale von Lenins Mitreisenden und Weggenossen, darunter Grigorij Usievič (1918 im Bürgerkrieg gefallen), Alexander Šljapnikov (1937 erschossen), Grigorij Zinov'ev (1936 erschossen), Grigorij Sokol'nikov (1939 im Lager erschlagen), Karl Radek (vermutlich 1939 im Lager ums Leben gekommen), Fritz Platten (1942 erschossen). Diese Schicksale sind untrennbar verbunden mit dem Aufstieg Stalins und dem von ihm beförderten Lenin-Kult, zu dem auch Lenins Einbalsamierung im Mausoleum gehört. Folgerichtig schließt die Erzählung, in deren Mitte Lenin wie die Spinne im Netz sitzt, mit Anmerkungen zum aktuellen Revolutionsgedächtnis in Russland.
Nicht viele Wünsche bleiben offen an eine Darstellung dieser welthistorischen Ereignisse. Die ebenso kurzweilige wie spannende Erzählung macht die nachhaltige Bedeutung des Geschehens für den Leser ebenso nachvollziehbar wie anschaulich. Würde man strengere Maßstäbe anlegen, wäre zu bemängeln, dass Repression und Terror, die genuiner Bestandteil von Lenins Plan zur Durchführung der Revolution waren, allein im letzten Kapitel ausführlich behandelt werden, wodurch dem unkundigen Leser vermittelt wird, Gewalt sei erst durch den wachsenden Einfluss Stalins zur Selbstverständlichkeit geworden. Auch gibt es einige lose Enden, zu denen das Spiel mit Spionagegeschichten ebenso gehört wie wiederkehrende Beschreibungen von (Gedächtnis-)Museen und Exponaten. Diese Ansätze werden nicht weiter- oder zu Ende geführt, die naheliegende Verknüpfung der Museumsbeschreibungen etwa mit der gegenwärtigen Erinnerungskultur bleibt ungenutzt. Dazu passt die unvollständige Beschriftung der abgebildeten Historiengemälde, die zu Quellen werden, was sie angesichts ihrer Entstehung in einem deutlich späteren geschichtspolitischen Kontext aber nicht sein können.
Zu bedauern ist auch, dass "der Reise" nicht mehr Raum gegeben wird. Merridale selber hat sie auf den Spuren Lenins unternommen, leider berichtet sie von ihren Erfahrungen nur knapp in der Einleitung (die Fotos und Reiseskizzen auf ihrer Homepage [2] hätten auch das Buch bereichert). Zudem bleibt unklar, was die Autorin damit bezweckt: "Ich nahm den Zug, um eine Reise, die sich vor einem Jahrhundert ereignet hatte, neu zu erschaffen, doch ich schreibe dieses Buch auch, weil wir alle heute in einer anderen Welt leben" (26). Auf die Gegenwart kommt sie erst wieder, ähnlich isoliert wie zu Beginn, im letzten Kapitel zu sprechen. Erstaunlich ist auch, dass sie den Modus der Reise nicht als Stilmittel der Erzählung einsetzt, die andauernde Fortbewegung der Hauptperson von einem Ort zum anderen nicht als Gelegenheit wahrnimmt, Diskussionen und Beziehungen zu entfalten. Zugegeben, das Motiv der Reise ist nicht neu, doch selten hätte es besser zum Stoff gepasst - wie etwa in dem Film "The Train" von Damiano Damiani (1988).
Lenin war und bleibt das Symbol der Russischen Revolution. Wie schwer sich Russland 100 Jahre danach mit seinem Erbe tut, deutet Merridale auf den letzten Seiten an. Ein Grund für dieses Unbehagen sind die Gräben, die Revolution und Bürgerkrieg in der russischen Gesellschaft aufgerissen haben, nicht zuletzt und vor allem durch das kompromisslose Vorgehen Lenins. Genau das verdeutlicht dieses Buch auf eindrucksvolle Weise.
Anmerkungen:
[1] "Ленини остается с нами как величайщий мыслитель XX века." So äußerte sich M. Gorbatschow in seiner Rede zum 120. Geburtstag Lenins im April 1990.
[2] http://catherinemerridale.com/map---pictures.html (6.11.2017).
Kristiane Janeke