Joel Mokyr: A Culture of Growth. The Origins of the Modern Economy, Princeton / Oxford: Princeton University Press 2017, XIV + 403 S., ISBN 978-0-691-16888-3, GBP 24,95
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Lag der Ursprung des rasanten wirtschaftlichen Wachstums, das der Westen ausgehend von Großbritannien im 18. Jahrhundert erlebte, stärker in der europäischen Vormoderne begründet, als viele bisherige Erklärungsansätze nahelegen? [1] Werden institutionenökonomische Erklärungsansätze zur Begründung des "Great Enrichment" überbewertet und muss nicht auch die Wirtschaftsgeschichte den Blick stärker auf den Bereich der Kultur legen, um zu verstehen, warum Europa und allen voran Großbritannien und nicht etwa Asien als Ursprungsraum des modernen Wirtschaftswachstums gelten können? Um es vorwegzunehmen: Joel Mokyr entwirft kein kulturgeschichtliches Erklärungsmodell, um diese Frage zu beantworten. Mit A Culture of Growth knüpft er stattdessen an seine These von der Entwicklung einer "Enlightened Economy" im 18. Jahrhundert an, deren Grundlage die Aufklärung gebildet habe. Der ihr eigene veränderte Umgang mit naturwissenschaftlich-technischem Wissen habe eine enge Verbindung von Theorie und Praxis und damit die Schaffung von "nützlichem Wissen" bewirkt, die mit einer rapiden Weiterentwicklung politischer und ökonomischer Institutionen den Aufstieg des Westens ermöglicht habe. [2]
Nun aber fragt Mokyr nach dem Grundstein dieser "Enlightened Economy", den er in der Zeit zwischen 1500 und 1700 identifiziert und den er abermals mit Ansätzen der Intellectual History und der Technik- und Wissenschaftsgeschichte nachgeht. Den theoretischen Unterbau bilden kulturanthropologische Ansätze der "Cultural Evolution Theorie", die Mokyr in einem ersten, aus fünf Unterkapiteln bestehenden Teil ausbreitet und auf die er im Laufe seiner Ausführungen immer wieder rekurriert. Sie dienen ihm als Toolbox, um zu erklären, warum Menschen neue Ideen und neues Wissen entwickelten und warum althergebrachtes Wissen durch neues ersetzt wurde. Nicht zuletzt will er so einer grundlegenden Frage nachgehen, die letztlich jede Innovation begleitet: Warum war diese Idee und nicht eine andere erfolgreich? Spannend ist dabei, dass Mokyr in diesem Kontext auf die Grenzen jener institutionenökonomischen Ansätze verweist, die sonst gerne für die Erklärung der Entstehung der modernen Wirtschaft(en) in Europa herangezogen werden. Es gäbe nämlich keine überzeugenden Belege, dass technologische Kreativität und technologischer Fortschritt Folgen eines institutionellen Stimulus gewesen seien (6). Um diesem Problem zu begegnen, nutzt er den Begriff Kultur im Sinne eines "set of beliefs, values, and preferences, capable of affecting behavior, that are socially (not genetically) transmitted and that are shared by some subset of society" (8). Mithilfe des zugrunde gelegten Theorierahmens macht er sich sodann daran zu erklären, welche Faktoren und / oder Akteure die Entwicklung Großbritanniens und Europas im Sinne einer "cultural evolution" bedingt hätten.
Im zweiten Hauptteil hebt er darauf aufbauend die Bedeutung sogenannter "cultural entrepreneurs" hervor. Als solche bezeichnet er technisch-wissenschaftliche Vorbilder, die durch ihre Leistungen, ihr Ansehen und die Überzeugungskraft ihrer Argumente die Wertschätzung von Wissenschaft ("propositional knowledge") durch die Zeitgenossen besonders fördern. Diese Zeitgenossen "not only choose a set of cultural traits for themselves from a given menu, but also add to the menus available to the others" (59). Es ist wenig überraschend, dass er hier Francis Bacon und Isaac Newton als vormoderne Beispiele anführt. Bacons Wirken habe jene typisch westliche Entwicklung verstärkt, die auf eine Verknüpfung von theoretischen (Natur)Wissenschaften und Handwerk sowie Landwirtschaft gezielt habe. Mokyr urteilt, dass diese Verbindungen eine Grundlage jedweden technischen Fortschritts darstellten, denn "they allow people who generate propositional knowledge to communicate with those who generate and apply prescriptive knowledge." (81) Newton sei hingegen als Präsident der Royal Society der Kopf einer britischen "intellectual community" gewesen (109).
Nach argumentativ schwächeren Ausführungen zum Einfluss von Humankapital und Religion auf das vormoderne Wirtschaftswachstum widmet sich Mokyr im Kapitel "Innovation, Competition, and Pluralism in Europe, 1500-1700" wieder dem Kern seiner Überlegungen: kulturellem Wandel und der Zunahme von nützlichem Wissen. Als zentrale Grundlagen für die spätere Vorreiterrolle des Westens betrachtet er etwa den sich seit dem Hochmittelalter entwickelnden pragmatischen Umgang der abendländischen Kirche mit den (später auch experimentellen) Wissenschaften, die Bereitschaft der Europäer, sich mit fremdländischen Ideen auseinanderzusetzen, und als Grundlage dafür auch die zunehmenden kulturellen Kontaktzonen, die in Folge der europäischen Expansion neues Wissen zugänglich machten. Für Mokyr bilden diese Faktoren eine Einheit mit der spezifisch europäischen Haltung gegenüber dem Wissen vorhergehender Generationen, die den Bruch mit alten Wahrheiten erlaubt und den Grundstein für die Innovationen des 18. Jahrhunderts gelegt habe. Fasst man die faktenreiche und dichte Darstellung zusammen, so wäre der Aufstieg des Westens weniger durch klassische Wachstumstheorien zu erklären, sondern ganz in der Argumentation Schumpeters durch eine früh entwickelte Bereitschaft zur schöpferischen Zerstörung bedingt gewesen.
Innovation erfordert jedoch nicht nur individuelle Bereitschaft zum Bruch mit alten Wahrheiten, sondern in hohem Maße soziale Interaktion. Für Mokyr wurde sie durch die transnationale Gelehrtenrepublik sichergestellt, die angesichts des gleichzeitigen Wettbewerbs, der aus der politischen Fragmentierung des Kontinents resultierte, einen integrierten Markt der Ideen hervorgebracht habe. Diese Fragmentierung der europäischen Staatenwelt sei demnach kein Nachteil, sondern vielmehr ein Vorteil für die Entstehung moderner Wirtschaft geworden: "It was a major factor in the emergence of cultural pluralism" (175) und weiter: "The Key to Europe's success was its fortunate condition that combined political fragmentation with cultural unity" (215). Die Gelehrtenrepublik sieht er weniger als Netzwerk denn als eine Institution sui generis, die durch ihre sozialen Normen und informellen Regeln den Grundstein für den späteren technologischen Wandel Europas legte. Zu verstehen sei sie aber nur im Kontext einer spezifisch europäischen Kultur.
Der Frage, weshalb die Industrialisierung dann gerade in Großbritannien ihren Ausgang nahm, widmet sich Mokyr in einem vierten Teil, wenn er zunächst - mit durchaus einleuchtenden Argumenten - die Bedeutung des Puritanismus hervorhebt. Weniger überzeugend ist aber, dass er fast vollständig bei der Religion als Erklärungsansatz verharrt. Hier wäre doch zumindest zu diskutieren, ob nicht auch die politischen und gesellschaftlichen Ereignisse auf der Insel dazu geführt hatten, dass sich politische und ökonomische Strukturen im späten 17. Jahrhundert bereits ganz erheblich vom Kontinent unterschieden. Die beiden abschließenden Kapitel dieses Abschnitts wenden sich schließlich dem Vergleich Europas mit dem Osten und der Frage "warum Europa" zu. Nach einem nicht leicht lesbaren Schnelldurchgang durch die chinesische Geschichte steht das (angesichts der vorhergehenden Ausführungen fast zu erwartende) Ergebnis, dass China nicht nur der kulturelle Pluralismus und die Bereitschaft, sich von den Vorgaben des alten Wissens zu lösen, fehlten, sondern dass sich Europa eben einzigartig entwickelt habe. "Pre-modern Chinese technology, no matter how sophisticated and advanced compared to the European variety, remained grounded on a narrow epistemic base", denn hier habe sich aufgrund der strukturellen Rahmenbedingungen im Unterschied zu Europa kein Markt für Ideen entwickeln können (337).
A Culture of Growth gibt einen spannenden und thesenfreudigen Erklärungsansatz für die Entstehung der modernen Wirtschaft und eine - insbesondere für Frühneuzeithistoriker - befriedigende Erklärung, warum "the great Enrichment" seinen Ausgang in Europa genommen hat. Die Frage, ob hier kulturelle Settings oder doch jene Faktoren, die klassischerweise im Fokus der Institutionenökonomie stehen, zentral waren, ja ob nicht gar beides in enger wechselseitiger Beziehung zueinander stand, lässt indes weitere Diskussionen erwarten.
Anmerkungen:
[1] Für einen Überblick über sowie die Bewertung vieler bisheriger Erklärungsversuche für die Ursprünge der Great Divergence Peer Vries: Escaping Poverty. The Origins of Modern Economic Growth, Göttingen 2013.
[2] Joel Mokyr: The Enlightened Economy. An Economic History of Britain, 1700-1850, New Haven / London 2009.
Sebastian Becker