Klaus Gereon Beuckers / Beate Johlen-Budnik (Hgg.): Das Gerresheimer Evangeliar. Eine spätottonische Prachthandschrift als Geschichtsquelle (= Forschungen zu Kunst, Geschichte und Literatur des Mittelalters; Bd. 1), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2016, 320 S., 99 Farb-, 29 s/w-Abb., ISBN 978-3-412-50392-5, EUR 50,00
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Mit dem 2016 erschienenen Sammelband publizieren die Herausgeber Klaus Gereon Beuckers und Beate Johlen-Budnik die Ergebnisse einer Tagung zum "Gerresheimer Evangeliar". Dieser - laut dem vernichtenden Urteil Heinrich Ehls aus dem Jahr 1922 - "qualitativ so minderwertige Kodex" [1] wird erstmals in einem interdisziplinären Rahmen als historisches Dokument und auch als Hauptwerk der ottonischen Kölner Buchmalerei gewürdigt. Die zehn Fachbeiträge aus den Bereichen der Kunstgeschichte, Kunsttechnologie, Paläografie und der Geschichte sind nur implizit in thematische Sektionen eingeteilt, bauen aber stringent aufeinander auf. Diachron werden die Handschrift und ihre Funktionen vom hohen Mittelalter, fortsetzend mit spätmittelalterlichen Modifikationen des Evangeliars bis hin zur Objektgeschichte in der frühen Neuzeit betrachtet.
Nach einer Einleitung der Herausgeber wird von Klaus Gereon Beuckers in die Forschungsgeschichte zur Gerresheimer Handschrift sowie zur ottonischen Kölner Buchmalerei eingeführt. Hierbei setzt er sich mit den diversen stilkritischen und ikonografischen Einflüssen in den Handschriften auseinander, die in älteren Studien herausgearbeitet wurden. Auch Beuckers sieht - wie zuvor schon Bloch und Schnitzler in ihrem zweibändigen Korpus "Die ottonische Kölner Malerschule" - eine Verbindung vom "Gerresheimer Evangeliar" mit dem in der Württembergischen Landesbibliothek in Stuttgart aufbewahrten "Gundold-Evangeliar" (Cod.bibl. 4° 2) und einer Handschrift aus Namur (Bibliothèque du Grand Séminaire, M43 [13]), die er ebenso zur parallel "mit den Neuanfängen einer Kölner Kunst in der Spätzeit bzw. nach dem Tod Kaiser Heinrichs II." (54) entstandenen "Malerischen Sondergruppe" zählt. [2]
Hieran schließen sich zwei kunsttechnologische Beiträge an: Doris Oltrogge schildert auf der Grundlage der 2012/2013 durchgeführten Untersuchung die "Brüche im kodikologischen Befund" (88), geht auf Konzeptänderungen ein und widmet sich eingehend der späteren Objektbiografie. Aus liturgiewissenschaftlicher Sicht sind insbesondere ihre Überlegungen zu den Gebrauchsspuren interessant, da Oltrogge angesichts der Ergebnisse die Frage aufwirft, "ob die Handschrift im Spätmittelalter überhaupt für die Evangeliumslesung während der Messfeier verwendet wurde" (93) oder ob ihre Funktion nicht eher in der Kodifizierung juristischer Akte zu suchen ist. Die von Oltrogge angesprochenen späteren Modifikationen wie die Velen zum Schutz der Initialen und Miniaturen sowie die nachträglich im Spätmittelalter eingebrachten, mit Goldfäden versehenen Registerknöpfchen werden schließlich von Annemarie Stauffer näher thematisiert. Die Paläografie des Manuskripts steht im Zentrum der Untersuchung von Hans-Walter Stork. Er erläutert die Befunde zu den beiden Schreiberhänden im Kodex und zu den diversen Auszeichnungsschriften, um schließlich das Evangeliar mit Kölner Schreibschulen in Beziehung zu setzen. Aufgrund des Vergleichs mit datierbaren Kölner Handschriften tendiert Stork zu einer Datierung des Manuskripts auf etwa 1020 bis 1040, wobei offen bleibt, in welchem Skriptorium das Evangeliar angefertigt wurde.
Jens Lieven eröffnet mit seiner Studie zum Schenkungseintrag der Äbtissin Theophanu die historische "Sektion" des Bandes. Diesen wohl an der Wende vom 11. zum 12. Jahrhundert geschriebenen Nachtrag setzt Lieven in Beziehung zur Fälschung der Gerresheimer Gründungsurkunde, die "nicht zuletzt das Recht des Konvents zur Kontrolle des Stiftsbesitzes stärkt" (134). Neben dem Schenkungseintrag und zwei - mehrfach überarbeiteten - spätmittelalterlichen Sakristeiverzeichnissen enthält die Handschrift zahlreiche Eidesformeln, die von Andreas Bihrer untersucht werden. Sie geben Aufschluss über den Gebrauch des Evangeliars, das angesichts der auf das 12. bis 17. Jahrhundert zu datierenden Nachträge offensichtlich eine Nutzungserweiterung oder sogar eine Nutzungsverschiebung im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit erfahren hat. Im nachfolgenden Beitrag von Philipp Frey und Friederike Szill werden die Nachträge als kommentierte Transkription wiedergegeben und übersetzt. Wie Thorsten Henke zeigt, bestehen Parallelen zu dem auf der Veste Coburg aufbewahrten "Gandersheimer Plenar", das ebenfalls "der Stiftsgemeinschaft zur Selbstversicherung diente" (181) und auch zahlreiche spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Nachträge aufweist. Besonders hervorzuheben ist, dass auch nach der Reformation "das Plenar weiterhin als Eidbuch Verwendung fand" (174), wie der nachreformatorische Eid der Äbtissin belegt.
Die Beiträge von Julia von Ditfurth und Beate Johlen-Budnik schlagen den Bogen zurück zum Stift Gerresheim. Zunächst setzt von Ditfurth die auf das 17. Jahrhundert zu datierenden Eidesformeln im Evangeliar mit einer bischöflichen Visitation und der darauf folgenden barocken Ausstattungskampagne der Stiftskirche in Beziehung. Sie parallelisiert die weitgehende Beibehaltung der mittelalterlichen Sakraltopografie mit der Weiternutzung des ottonischen Evangeliars, womit die Barockisierung aufgrund "der Historizität der Handschrift und der in ihr vertretenen Tradition des Stifts" (206) legitimiert würde. Johlen-Budnik beschreibt schließlich die an einen regelrechten "Kunstkrimi" (207) erinnernde Objektbiografie der Handschrift im 19. Jahrhundert.
Mit diesem interdisziplinär angelegten Band lösen die Herausgeber ihre Ziele, die "Klärung zahlreicher Fragen zur Entstehung der Handschrift" und "eine Würdigung der Handschrift als Geschichtsquelle" (9), vollends ein. Neben den stilgeschichtlichen und ikonografischen Aspekten, geben die kunsttechnologischen und paläografischen Befunde einen Einblick in die Organisation eines mittelalterlichen Skriptoriums. Besonders die historischen Beiträge des Bandes machen sich den Umstand zunutze, dass der über die Nutzung des Evangeliars zur Verkündung der Perikopen hinausgehende Gebrauch der Handschrift durch die späteren, bislang kaum bearbeiteten Nachträge herausragend belegt ist. Hierdurch verdeutlichen die Beiträge das "Nachleben" des ottonischen Kodex sowie die Verschiebung der eigentlich intendierten Nutzung. Es wird deutlich, in welch großem Maße die Handschrift die Geschichte des Stifts sowie interne und externe Reformprozesse widerspiegelt und auch in späterer Zeit dazu genutzt wurde, "die Vorstellung von Identität inhaltlich zu füllen" (207). Im Hinblick auf die Beantwortung unverändert offener Fragen - wie die nach der Lokalisierung des Skriptoriums - ist auf weitere Archiv- und Bibliotheksfunde zu hoffen. Darüber hinaus hätte von liturgiewissenschaftlicher Seite das Evangeliar eigens untersucht werden können, um eventuell Aufschluss über die Verwendung des Kodex im Rahmen der mittelalterlichen Liturgie zu erhalten.
Den Beitragenden ist eine umfassende Darstellung des "Gerresheimer Evangeliars" gelungen, die als vorbildlich für die Beschäftigung mit anderen (liturgischen) Handschriften gelten kann. Zur Nachvollziehbarkeit der Ergebnisse tragen die reich bebilderten Beiträge und insgesamt 78 Farbtafeln bei, die sämtliche Seiten mit Nachträgen, Miniaturen und Initialen wiedergeben.
Anmerkungen:
[1] Heinrich Ehl: Die ottonische Kölner Buchmalerei. Ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte der frühmittelalterlichen Kunst in Westdeutschland, Bonn / Leipzig 1922, 155.
[2] Peter Bloch / Hermann Schnitzler: Die ottonische Kölner Malerschule. Band 1: Katalog und Tafeln, Düsseldorf 1967, 59-68.
Jochen Hermann Vennebusch