Rezension über:

Barbara A. Hanawalt: Ceremony and Civility. Civic Culture in Late Medieval London, Oxford: Oxford University Press 2017, XII + 234 S., 15 s/w-Abb., ISBN 978-0-19-049040-9, GBP 16,99
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Rezension von:
Andreas Kistner
Institut für Geschichtswissenschaften, Heinrich-Heine-Universität, Düsseldorf
Redaktionelle Betreuung:
Ralf Lützelschwab
Empfohlene Zitierweise:
Andreas Kistner: Rezension von: Barbara A. Hanawalt: Ceremony and Civility. Civic Culture in Late Medieval London, Oxford: Oxford University Press 2017, in: sehepunkte 18 (2018), Nr. 2 [15.02.2018], URL: https://www.sehepunkte.de
/2018/02/30991.html


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Barbara A. Hanawalt: Ceremony and Civility

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Eine latent schrumpfende Gesellschaft benötigt Einwanderung, doch findet diese manchmal schubweise statt und führt Personen in einen neuen Kontext, die erst einigermaßen aufwendig lernen müssen, welche Regeln sie zu beachten haben. Das geht immer wieder mit Reibungsverlusten einher. Dies ist nicht eine banale Feststellung zur gegenwärtigen Situation, sondern stellt sich als Problem bereits in vormodernen Städten, so dass man nach den ersten Abschnitten des Buches eine Untersuchung historischer Integration zu finden meint (vii, 1). Das wird in späteren Absätzen der Einleitung weitgehend relativiert. Gleichwohl bleibt das Problem: Wie erzeugt und erhält man Autorität in einer nur schwach bürokratisierten Gesellschaft - zumal, wenn die Bevölkerung permanent fluktuiert? Dazu dienten auch im London des 14. und 15. Jahrhunderts öffentliche Zeremonien.

In sechs Kapiteln werden der (auch sozial zu verstehende) öffentliche Raum, in dem sich die Riten vollzogen (13-32), das Zusammenspiel von Stadtgemeinde und König (33-51), bürgerliche Rituale und gewählte 'Beamte' (52-80), Aufruhr und Unterwerfung (81-105), Gilden als Brutkästen für Bürgerrechte (106-133) und zuletzt Bürgerunterricht für die Massen (Civic Lessons for the Masses) (134-155) untersucht. Das Inhaltsverzeichnis verzeichnet keine Unterkapitel. Ein schlankes Literatur- und Quellenverzeichnis und ein Register beschließen den Band.

Wie so viele anglophone Arbeiten ist auch dieses Buch sehr leserfreundlich, auch gegenüber einem weiteren Publikum; nicht zuletzt ein Glossar (165f.) sorgt für sehr niedrige Zugangsbarrieren. Der Text zieht m. E. allerdings immer wieder schmissige Formulierungen der Präzision vor (bspw. 19, 33, 87). Dieser Kritikpunkt geht über in offene Widersprüche in der eigenen Argumentation: So werden gemäß der Zusammenfassung Prostituierte allgemein bestraft (160), während zuvor festgestellt wurde, dass sie in bestimmten Stadtteilen ihrer Arbeit legal nachgehen durften (102), oder man findet London als säkulare Stadt (155), wobei kurz zuvor die Bedeutung der Pfarrgemeinden und der an die Pfarrkirchen gebundenen Bruderschaften für die städtisch-bürgerliche Integration und Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung (139-146) und noch davor die Bedeutung der Heiligenfeste der Gildenpatrone (121) betont wurden. Ist hier ein gegenwärtiger Bedarf Vater des Gedankens? Ob sich London signifikant von den großen Trends 'der' spätmittelalterlichen Stadt abhob, wäre zu überprüfen. Die Ablehnung gegenüber Auswärtigen wird recht apodiktisch formuliert (125), müsste aber mit der bedeutenden Rolle, die zugezogene Kaufleute etwa aus Köln oder der Hanse gespielt haben, konfrontiert werden.

An einigen Stellen hätte das Buch sorgfältiger lektoriert sein können (bspw. 25, 26, 28, 36, 40, 41, 45, 62, 71, 98, 100, 115, 179 mit verkürztem Literaturtitel, 197 mit falschem Wort im Zitat). Störend wird das, wenn Namen falsch geschrieben werden und sogar unter der korrupten Form im Register auftreten: Wenn unversehens "Datini" erwähnt wird, fragt man sich, ob man bei der Lektüre eine wichtige Parallele zum "Kaufmann von Prato" übersehen hat; gemeint hingegen ist die Verwendung des Trésor des Brunetto Latini bei Andrew Horn (55 gegen 81, 83; weniger drastische Beispiele 28, 71).

An einigen Stellen geht die Untersuchung auf Bildquellen ein, die aber nicht abgebildet werden; in den meisten Fällen dienen die Abbildungen nur der Illustrierung (bes. 25-27, 94 und Abb. 1.5, 2.1, 3.2, 3.3, 5.1-2). Karten sind rar gesät (einzige Karte 20).

In der Einleitung fällt die theoretische Positionsbestimmung überaus knapp aus (5), was aus der Sicht wissenschaftlicher Leser bedauerlich ist. Im Vorwort - und in Rezensionen zu früheren Arbeiten der Autorin [1] - wird auf die "extensive work in archives" (vii) verwiesen. Dabei wird, wohl im Sinne der breiten Leserfreundlichkeit, das im Rahmen dieser Archivarbeit erschlossene Material in der Regel nicht im Wortlaut zitiert (bspw. 101 mit Anm. 86). Wenn der Wortlaut (aus gedruckten Quellen) angegeben wird, dann bei einigen Schlagworten oder knappen Junkturen. Die Belege erfolgen etwas spartanisch (bspw. 76): Wenn etwa die schlechten Lebensbedingungen der Lehrlinge festgestellt werden (114), gibt es dazu keinen Beleg, und die Überprüfung der (möglicherweise korrupten) Siegelumschrift (25) ist nicht möglich.

Nun mögen dies Einwände eines Erbsenzählers sein; wie sieht es also inhaltlich aus? Ein Beispiel: In dem Unterkapitel zur Etablierung offizieller Macht durch Raumregulierung (59-67), erfährt man zunächst einiges über die finanziellen Verpflichtungen eines Bürgermeisters und die daraus resultierende Bereitschaft oder auch Aversion, dieses Amt zu übernehmen (59-61). Danach folgen Schilderungen zur Einsetzung des neuen Bürgermeisters. Dabei spielt die zu unterrichtende Bevölkerung keine Rolle. Dass das Londoner Zeremoniell Vorbildcharakter für eine Reihe englischer Städte hatte (67), ist zweifelsohne interessant, gehört aber streng genommen nicht zur Erörterung der Raumnutzung zum Zwecke der Herstellung von Amtsautorität. Man erfährt u. a., dass die öffentlichen Strafen didaktisch waren (bspw.105); der zu vermittelnde Inhalt war, dass Vergehen bestraft wurden (105). Man erfährt auch, dass Männer in Londons Geschlechterhierarchie den ersten Platz einnahmen (100), dass gemeinsame Gastmahle und Prozessionen grundlegend für die Ausbildung der Identität der Zunft waren (106); man erfährt, dass Eintrittsgebühren in die Zünfte teilweise sehr hoch waren (111f.), dass die Zunft und die Stadtregierung Initiationsrituale hatten (112; ähnlich 122).

Und wie verhält es sich nun mit den im Titel angesprochenen Zeremonien? Darüber erfährt man zumeist, dass es sie gegeben hat und dass sie immer wieder in den Quellen beschrieben werden. Eine ausführliche Schilderung und eine Erwägung ihrer (beabsichtigten) Wirkung unterbleibt zumeist. Zeremonien, die ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken, sind vor allem die Einführung des neuen Bürgermeisters (61-65) und der Königseinzug (49). Die Bedeutung des Königseinzuges wird anhand ihrer punktuellen Erwähnung betont. Man muss kein Anhänger der Ritualforschung sein, um das zu knapp zu finden.

Ausweislich der Stimmen auf dem Buchrücken ist das Buch für grundsätzlich jeden Historiker eine wichtige Arbeit; allein, die Lektüre hinterlässt einen gemischten Eindruck: Vermutlich sollte man es weniger vor dem Hintergrund deutscher Stadt- und Ritualforschung, sondern eher von einer belletristischen, dem Infotainment verpflichteten Warte aus lesen; großen Erkenntnisgewinn im Bereich städtischer Rituale sollte man nicht erwarten - schön erzählte Anekdoten hingegen sehr wohl.


Anmerkung:

[1] Klaus Arnold: Rez. zu B. A. Hanawalt: Growing up in Medieval London, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 50 (1994), 749.

Andreas Kistner