Gilles de Corbeil: Liber de uirtutibus et laudibus compositorum medicaminum. Édition et commentaire de Mireille Ausécache (= Edizione Nazionale La Scuola Medica Salernitana; 8), Firenze: SISMEL. Edizioni del Galluzzo 2017, VIII + 523 S., ISBN 978-88-8450-765-5, EUR 68,00
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Gilles de Corbeil (Aegidius Corboilensis, ca. 1140-1224) war eine der großen Ärzte des westlichen Mittelalters, dazu Dichter und Historiker der Medizin wie Philosophie in Personalunion. Es bleibt bemerkenswert, dass diese prägende Gestalt der jungen medizinischen Fakultäten von Montpellier und Paris, "docteur tant en théologie qu'en médecin", in der Tradition Salernos, wo er studiert hatte, in Versform ("metrice") schrieb, ja mit seinen lateinischen Lehrgedichten auch poetischen Ruhm erntete (dass er, wie seit dem 17. Jahrhundert vermutet wurde, Arzt des Königs Philipp August war, lässt sich allerdings nicht beweisen). Nicht zuletzt publizierte Gilles, wahrscheinlich am Ende seines Lebens, den satirischen antiklerikalen Text Hierapigra ad purgandos praelatos, der in der Mediävistik immer wieder Gegenstand der Forschung war. Ein solcher Autor, der ebenso die Geldgier seiner Kollegen kritisiert wie ihre Neigung zum Schwadronieren, ja den "schlechten Arzt" vorführt (der seiner Meinung nach vor allem in Montpellier den Ton bestimmte), interessiert aus vielerlei Gründen. Seine Werke berühren keinesfalls nur die akademische Medizin im engeren Sinn.
Im Mittelpunkt des von Mireille Ausécache, einer Salerno-Spezialistin, edierten Bandes (der in nuce bereits 2003 fertiggestellt wurde, aber erst 2017 gedruckt werden konnte) steht Gilles' Liber de virtutibus et laudibus compositorum medicaminum, der inhaltlich, wie der Autor selbst betont, deutliche Bezüge zu einem in der Forschung lange umstrittenen Antidotarium a magistro Matheo Plateario aufweist. Mathaeus Platearius (12. Jahrhundert), der Verfasser eines Liber instans, eines Standardwerks zu einzelnen "einfachen" Heilpflanzen ("simplicia"), dem aber auch ein Antidotarium magnum zugeschrieben wurde, wird so für Gilles zum Ideengeber. Während man lange Zeit glaubte (etwa Ludwig Choulant 1826), Gilles habe sich auf das im Mittelalter häufiger zitierte Antidotarium Nicolai bezogen, vertritt Mireille Ausécache mit überzeugenden Argumenten die These, dem später in Montpellier und Paris lehrenden Gelehrten - er war zugleich Autor der die bis in die frühe Neuzeit konsultierten Werke De pulsibus und De urinis sowie eines Viaticus de signis et symptomatibus aegritudinum - habe das in Salerno verfasste Antidotarium Magnum (11. Jahrhundert) vorgelegen, das lange als verschollen galt und erst 1960 in einem Basler Manuskript wieder entdeckt bzw. identifiziert werden konnte. Die Rezeptions- und Forschungsgeschichte der verschiedenen Antidotarien - oft handelt es sich nur um Variationen bzw. Kommentare zu älteren Schriften! - wird ausführlich diskutiert.
Der 4663 Verse umfassende Liber de virtutibus et laudibus compositorum medicaminum - "metrice compositus", wie der Verfasser mehrfach stolz vermerkt - sollte den Geist Salernos nach Frankreich transferieren. Gilles zitiert, der mittelalterlichen Wissenschaftsmethodik entsprechend, zahllose "auctoritates" nicht nur der Medizin (die Verehrung von Hippokrates und Galen war hier selbstverständlich), sondern auch der Philosophie und Literatur, dazu Heilige wie die "Anargyroi" Kosmas und Damian oder "Lukas den Arzt" sowie Persönlichkeiten der Bibel und der Kirchengeschichte, darunter Gregor den Großen sowie bekannte Figuren der Mythologie. Therapievorschläge und Thesen erhalten durch nichts mehr Gewicht, als wenn sie durch Aussagen bzw. Zitate aus der Antike bzw. dem frühen Christentum belegt werden. Man war davon überzeugt, eine Wahrheit zu enthüllen, woran große Geister der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft (!) in gleicher Weise, jeder in seinem Umfeld, beteiligt erschienen. Ob in Philosophie, Naturwissenschaft oder Medizin - man glaubte, der Wahrheit zunächst einmal durch Lektüre der Werke bedeutender Persönlichkeiten auf die Spur zu kommen. Ein guter Wissenschaftler sah sich, um ein Bild des Johannes von Salisbury zu zitieren, als Zwerg auf den Schultern von Riesen, deren Vorarbeit man vertraute. Gilles sah sich dabei selbstbewusst als Arzt und Dichter. Er beschwört nach antikem Vorbild mehrfach die Musen, ihm beizustehen, sieht sich auf dem Parnass und beschwört u.a. Apoll und Minerva. Lukian, Martial und Ovid erscheinen ihm vertraut, er selbst inszeniert sich als "vates novus". Wie Ovid und Vergil versucht er sich an einem poetischen Vorwort ("Vade liber felix...").
Dass Madame Ausécache nicht nur die Namen der Gewährsleute aufzählt, sondern auch die (von Gilles selten konkret angegebenen, möglicherweise aus Summulae oder Anthologien zitierten) Textstellen eruiert, erhöht den Wert dieser ausgezeichneten Edition ebenso wie ein ausführliches Register der diskutierten Krankheiten bzw. Symptome sowie aller "simplicia", die der mittelalterliche Autor selbstbewusst, wenn auch unter Berufung auf die "auctoritates", zu (wer hätte daran gezweifelt!) effektiveren "composita" zusammenstellt. "Simplicia" zu suchen und zu finden - nach uralten Regeln aus dem "Dioskurides" oder in familiärer Tradition - waren auch ein in diesen Dingen geschulter Bauer, eine "weise Frau" oder ein zur Pflege des Klostergartens abgeordneter Mönch in der Lage, der sich u.a. auf die bemerkenswerte Tradition des "Hortulus" von Walafried Strabo berufen durfte. "Composita" dagegen zusammenzustellen, zu dosieren und zu begründen bedurfte aus Gilles' Sicht einer geistigen, ja universalen Bildung.
Dennoch verficht Gilles keine theoretisierte, rein vom akademischen Geist geprägte Medizin. Der aufgeplusterte "Lehrling seiner Kunst, welcher frisch von der Doktorschmiede kommt, mit Worten um sich wirft, doch faktisch nichts kann", ist sein eigentliches Feindbild. "Ratio" und "experimentum" sind gefragt. "Allzu junge, inkompetente, schnell ausgebildete" Mediziner stellen, von ihrer Spottlust und Gottlosigkeit abgesehen, eine Gefahr für die Kranken dar, die sich, so sein Rat, einen Arzt suchen sollten, "quem condit honestas, ornat religio, depingit gratia morum". Die letzte Entscheidung, ob eine Krankheit besiegt wird, trifft freilich Gott. Körperliches Wohlsein schien ohne seelische Gesundheit unmöglich. Christus allein wird zur "fons et origo salutis", wie es im Prolog zum dritten Buch heißt. Der Arzt handelt in dessen Auftrag, sein Erfolg ist ein Gnadenakt.
Der Titel des Nachworts, "prologus finalis", ist als Oxymoron zumindest bemerkenswert. Bei aller Kritik an unfähigen jüngeren Kollegen, die gerade ihr Studium beendet haben (Gilles konnte sich hier auf das Metalogicon des Johannes von Salisbury berufen, vgl. Met. I, 4!) wird nun auch das Verhalten gewisser Patienten gegeißelt (wie schon in Buch II, 686-718). Bereits Salvatore de Renzi, Autor der Collectio Salernitana (1859) und profunder Kenner der hochmittelalterlichen Medizin, hatte solche Klagen über Undankbarkeit, Geiz und Dummheit der Kranken zu einem Topos des salernitanischen Schrifttums erklärt. Der "medicus gravis et honorosus" tröstet sich freilich damit, dass Ruhm und Ehre wichtiger sind als Geld. Dies schließt dubiose Ratschläge allerdings nicht aus. "Solange der Schmerz den Kranken peinigt, bleibt er geneigt zu bezahlen", gibt Gilles seinen Schülern zu bedenken. Dankbarkeit ist auch eine Funktion des Zeitpunkts! Allerdings behandelt der wohlhabende Arzt Bedürftige in christlicher Barmherzigkeit selbstverständlich umsonst.
Die Marginalglossen der untersuchten Originalmanuskripte wurden von der Herausgeberin, die auch ausführlich auf die Rezeptionsgeschichte des Werkes eingeht, als Textkommentare an den entsprechenden Stellen angefügt, wobei - wie könnte es anders sein! - ein altes Problem mittelalterlicher bzw. antiker Textinterpretationen deutlich wird: Welche Erkrankung ist im konkreten Fall gemeint, welche Symptome - aus heutiger Sicht - werden hier bekämpft? Retrospektive Diagnosen sind mehr als problematisch, wörtliche Übersetzungen, so klar sie im ersten Moment erscheinen, trügerisch. Wie müsste man, um nur zwei Beispiele anzuführen, im Französischen (oder Deutschen) "passiones capitis et stomachi", wie "cataractas maculas et glaucomata" (S. 286, 287) wiedergeben geschweige denn nosologisch einordnen? Insofern war es nicht unklug, auf die Übersetzung des lateinischen Textes in eine moderne Sprache zu verzichten. Die Lektüre, die Zuordnung, die Wertschätzung eines solch hochinteressanten, auch geistesgeschichtlich lehrreichen Buches hilft über diese Problematik hinweg. Konkrete Therapieanleitungen sind allerdings, dies mag eine kleine Gruppe von Lesern enttäuschen, nicht zu erwarten.
Gilles de Corbeil beeindruckt nicht zuletzt durch seine Bildung in litteris. Der Aufstieg der "medicina" von einer verachteten "ars mechanica" - bei Hugo von St. Victor (1133) ist sie fast so schlecht beleumundet wie die "theatrica"! - zur quasi philosophischen Disziplin, für die eine Hochschulausbildung vorgeschrieben war, war keineswegs selbstverständlich. Immerhin hatte schon Isidor von Sevilla von der "secunda philosophia" gesprochen! Dieses Bildungswissen, das sich in den einschlägigen Zitaten des Autors widerspiegelt, wird in den Kommentaren der Editorin minutiös herausgearbeitet. Auch deontologische Fragen werden immer wieder erörtert und erinnern daran, dass der Arzt mehr als ein guter Handwerker sein musste, nämlich ein geradezu transdisziplinärer "artifex". Fragen der Sexualität, der Prophylaxe, des gesunden Lebens, von Kindheit und Alter sowie der Ernährung werden ebenfalls diskutiert.
Die Edition von Mireille Ausécache ist vorbildlich und könnte als Modell für ähnliche Unternehmungen dienen. Viele Ausgaben und Kommentierungen mittelalterlicher medizinischer Schriften aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert bedürfen, bedingt durch neue Quellenfunde sowie die fortschreitende Digitalisierung grundlegender Texte, neuer Ausgaben und Interpretationen.
Klaus Bergdolt