Petra Richter: Joseph Beuys. Ein Erdbeben in den Köpfen der Menschen. Neapel, Rom: 1971-1985, Düsseldorf: Richter 2017, 192 S., ISBN 978-3-941263-76-5, EUR 44,00
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Eine Studie zu Joseph Beuys' Wirken in Italien war lange Desiderat der Forschung, da die verstreuten Archivalien und versprengten Zeitzeugen schwer erreichbar schienen. Petra Richter hat sich dieser mühevollen Arbeit nun unterzogen, nachdem sie bereits über Beuys' Düsseldorfer Wirken als Lehrer an der Akademie promoviert hatte. [1] Auch im Mezzogiorno verfügte der umtriebige Künstler über ein breites Netzwerk von Mentoren und Adepten, die seine messianischen Auftritte trotz aller Sprachbarrieren offenbar bewunderten. Beuys' Wahlverwandtschaften insbesondere in Neapel werden rekonstruiert auf der Basis der Auswertung von Interviewaussagen, Protokollen, Zeitungsartikeln wie auch der 'grauen Literatur' (Katalogbroschüren, Manifeste etc.) und Richter bezieht sie auf die politischen Zeitläufte des krisengeschüttelten Landes, in die der Künstler mit Allianzen, zunächst auf der Linken, später im grün-alternativen Milieu, einzugreifen versuchte. Dabei stand Beuys mit seiner sozialromantisch eingefärbten Sicht auf ein vermeintlich unverdorbenes Leben der Landbevölkerung (148) noch eher in der Tradition deutscher Italiensehnsucht als etwa Rolf-Dieter Brinkmann, der in "Rom, Blicke" (1979) scharf mit ihr gebrochen hat. Als Künstler suchte er in Neapel nicht weniger als die Befreiung des Menschengeschlechts vom Materialismus bzw. vom Verwaltungsmonopol des Staates, auf einem "dritten Weg" zwischen Kapitalismus und Sozialismus - er suchte diese "Umgestaltung der europäischen Gesellschaft" jedoch vom rotsonnigen Capri der 70er-Jahre aus. [2]
Richter beschreibt zunächst die drei Phasen seiner Aktivitäten in Italien, die sich wie bei vielen seiner Generationsgenossen als die Zeit des Redens, die Zeit der symbolischen "Aktionen" und schließlich die Zeit der Werkproduktion für Ausstellungen voneinander unterscheiden lassen. Mit größter Sorgfalt werden schwer greifbare Tonband- und Videoaufzeichnungen, fotografische Dokumente, Rezensionen und die Erinnerungen der noch lebenden Zeugen als Quellen gesichert und ausgewertet. Darüber hinaus sind es die zahlreichen Annotationen zur Zeitgeschichte, zur klassischen Mythologie, zur italienischen Sprache und Landeskunde, mit denen Richter neben ihrer Kenntnis von Beuys' kryptischer Materialikonografie seine Werke und Aktionen dem Verständnis erschließt. Aus ihrer akribisch koordinierten Analyse des disparaten Materials spricht durchweg Beuys' Bewunderung für den Mezzogiorno, der ihm Hoffnungsträger seiner politischen Ambitionen gewesen zu sein schien. So erweitert Richter das Verständnis der "Plastischen Theorie" und der "Sozialen Plastik" um eine wesentliche Komponente jenseits der deutschen Trauerarbeit, in deren Kontext Beuys' Werk und Wirken häufig diskutiert wurden.
War seine Devise La rivoluzione siamo Noi 1971 geeignet, um über die internen Konflikte der mehr oder weniger marxistischen Gruppierungen hinauszuführen, so zielte er mit seinen liturgisch anmutenden Aktionen bald auch auf andere Verständnisformen im Publikum. Nach der Phase der großen Worte, 1968, schwenkte auch Beuys ins Melancholische, wie Richter anhand ihrer Analyse der Foto/Text-Dokumentation seiner bisherigen Arbeit "Arena: Dove sarei arrivato se fossi stato intelligente" (1972/73, heute im Dia:Beacon, USA) zeigen kann; deren verschiedene Ausstellungsformate in Neapel und Rom werden über den bisherigen Forschungsstand hinaus minutiös rekonstruiert. Freilich vermisst man Bezüge zu den gleichzeitigen Tendenzen der "Spurensicherung", agierte Beuys doch keineswegs außerhalb des Kunstgeschehens seiner Zeit. Auch ein Vergleich seiner zeremoniellen Auftritte mit den ironisch gebrochenen von Yves Klein oder Piero Manzoni hätte erhellend sein können. Eine jüngere Generation von Forschern hat inzwischen untersucht, inwieweit der "Mann mit dem Hut" auch die neuen medialen Formate (TV) für seine Anliegen zu nutzen verstand. [3]
Schließlich gipfeln Richters Analysen und Interpretationen dreier plastischer Werke in neuen Forschungsergebnissen zu Beuys' italienischer Reise, da sie seine Vorstellungen von der subversiv-anarchischen Vitalität der Bevölkerung des Mezzogiorno und das Engagement seines Neapolitaner Galeristen Lucio Amelio auswerten kann. Freilich fragt man sich nach der Beschreibung der Entstehungsgeschichte von "Terremoto" (1981), das Beuys überstürzt zur Rettung der linken Zeitschrift "Lotta Continua" beisteuerte, warum nicht auch einmal qualitative Wertungen vorgenommen werden, denn neben singulären Werken gibt es im Œuvre dieses Künstlers eben auch so manches leichtfertig Hingeschluderte und die Aufladung mit großen Worten macht es nicht besser: "Die auf der Setzmaschine angebrachten Texte sollten also eine politische Alternative zu den bestehenden westlichen und östlichen Systemen beschreiben, mit denen - nach Beuys - radikal gebrochen werden müsse, um eine humanere Lebenswelt zu errichten." (124) Intentionsüberschuss, oder: gut gemeint ist das Gegenteil von Kunst. Präzise in Inhalt und Form dagegen "Terremoto in Palazzo" (1981), sein Beitrag für Amelios Initiative für die Erdbeben-Opfer von Irpinia, und "Palazzo Regale" (1985), Beuys' Vermächtnis, im Museo di Capodimonte ausgestellt und später für die Kunstsammlung Nordrhein Westfalen erworben. Aus ihrer kongenialen Interpretation beider Werke zitiert die Verfasserin zu Recht die Kernaussage für den Titel ihres Buches: "Ein Erdbeben in den Köpfen der Menschen." Die in der Raum-Plastik evozierte Erschütterung werde durch die künstlerische Form sublimiert, Potentiale des Widerstands würden geweckt, sei es unmittelbar politisch gegen die "Paläste", sei es im übertragenen Sinne als "Erdbeben in den Köpfen." Gerade im Vergleich mit den kulturkritischen Diagnosen des Zeitgenossen Piero Paolo Pasolini ("Scritti corsari", 1975, deutsch: Freibeuterschriften) vermag Richter zu zeigen, wie Beuys trotz ähnlicher Zweifel an der Konsumgesellschaft stets an seiner in Schillers Freiheitsbegriff wurzelnden Vision vom Menschen als kreativem Wesen festhielt: in der anthroposophisch formulierten Trias von Willen, Gefühlsleben und Geist trage er oder sie die Kraft der Veränderung in sich, und zwar im Kopf als dem "kostbarsten Palast der Welt" (Beuys 1981, hier 161). Und so gelingt Petra Richter abschließend eine neue Deutung seiner letzten Rauminstallation "Palazzo Regale" (1986), in der Beuys den Menschen in statu viatoris und sub specie aeternitatis präsentiere: "Jeder Mensch ein König." (165)
Anmerkungen:
[1] Petra Richter: Mit, neben, gegen. Die Schüler von Joseph Beuys, Düsseldorf 2000.
[2] So zusammenfassend sein Neapolitaner Galerist Lucio Amelio, Zitat 35.
[3] Ulf Jensen: Film als Form. Joseph Beuys und das bewegte Bild, Berlin 2016; Matthias Weiß: Ausgestrahlt. Zum Sendungsbewusstsein von Joseph Beuys, in: Ders. (Mithg.): Kunst/Fernsehen, Paderborn 2016, 145-165.
Hans Dickel