Christina Brüning / Lars Deile / Martin Lücke (Hgg.): Historisches Lernen als Rassismuskritik (= Forum Historisches Lernen), Schwalbach: Wochenschau-Verlag 2016, 270 S., ISBN 978-3-7344-0342-2, EUR 23,80
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Jörg van Norden / Thomas Must / Lars Deile et al. (Hgg.): Geschichtsdidaktische Grundbegriffe. Ein Bilderbuch für Studium, Lehre und Beruf, Seelze: Klett Kallmeyer 2020
Die insgesamt fünfzehn Beiträge des Sammelbands "Historisches Lernen als Rassismuskritik", im Jahr 2016 herausgegeben von Christina Brüning, Lars Deile und Martin Lücke und im Wochenschau Verlag erschienen, widmen sich der Frage "was Rassismuskritik für die Geschichtsdidaktik an Erkenntnisgewinn bringen kann, und [...] was die Nutzung rassismuskritischer Ansätze für Prozesse des historischen Lernens bedeutet" (13).
In beiden Einführungstexten, die von den drei Herausgeber_innen verfasst wurden, wird auf die Intention und die Relevanz der Rassismuskritik für die Geschichtsdidaktik eingegangen. Die Intention des Sammelbandes ist weniger die konkrete rassismuskritische, didaktische Vermittlung konkreter Unterrichtsvorhaben. Vielmehr möchten die Herausgeber_innen "mit diesem Band zeigen, welche Kompetenzen rassismuskritisches historisches Lernen hervorbringen könnte" (16).
Die nachfolgenden dreizehn Beiträge sind unterteilt in die folgenden drei Themenaspekte: erstens "Begriffe, theoretische und fachliche Rahmungen" (drei Beiträge), zweitens "Befunde: Race und historisches Lernen in der Gegenwartsgesellschaft" (drei Beiträge), drittens "Programmatische Perspektiven" (sieben Beiträge).
Adam Hochman und Veronika Lipphardt gehen auf die Fragen ein, wie es zu der Unterscheidung von 'Rasse' und 'race' gekommen ist und welches epistemologische Wissen mit den unterschiedlichen Termini verknüpft ist. Nachdem der "aktuelle Wissensstand der Genetik zur menschlichen Diversität" (22) nachgezeichnet wurde, indem auf zwei unterschiedliche Versionen des 'racial naturalism' eingegangen wird, kommen die Verfasser_innen zu folgendem Schluss: "Rasse ist eine ungenügende und irreführende Darstellung der menschlichen biologischen Diversität" (44).
Bärbel Völkel beschäftigt sich mit der "Selbstverständlichkeit [...] des chronologischen Geschichtsunterrichts", in dem diese "gewohnte Denkweise mit fremden Blicken betrachtet" (49) wird, um "einen Diskurs anzuregen, ob der eingeschlagene Weg weiterhin als sinnvoll betrachtet werden soll" (50). In ihrem Aufsatz weist Völkel nach, dass der chronologisch ausgerichtete Geschichtsunterricht Nationalismus, Ethnizismus und Rassismus begünstigt und plädiert für "eine veränderte Einstellung zur Geschichte: Nicht mehr die orientierende übergreifende Zeitverlaufsvorstellung sollte im Mittelpunkt stehen"; vielmehr sollte sich die Gesellschaft "über ihr Selbstverständnis als 'historisch geworden' [...] Gedanken machen" (68).
Christian Czyborra, Mohamed Refai und Nalan Yağci widmen sich den Fragen, "was Weißsein als Analysekategorie kennzeichnet, wie Weißsein hergestellt wird und mit welchen Privilegien es einhergeht [...] und was dieses Weißsein mit denjenigen macht, die dadurch zu 'Anderen' werden" (71-72). Die Verfasser_innen kommen zu dem Schluss, dass "in deutschen Schulen in der Regel Geschichte von Weißen für Weiße erzählt [wird]" (87). Zudem befürworten sie die Thematisierung der eigenen weißen Privilegierung und der Deprivilegierung ihrer Schülerschaft 'of Color' sowie die Kritik an rassismusrelevanter Sprache.
Bea Lundt analysiert die Erfahrungen deutscher und "westafrikanischer" Studierenden in einem gemeinsamen Austauschprogramm. Lundt kritisiert darin, den Umstand, dass das "afrikanische" Geschichtsdenken im globalen Norden durchgehend ausgeblendet worden ist. Sie kommt zu dem Schluss, "es gilt, durch die Begegnung zwischen Kulturen des globalen Nordens mit solchen des globalen Südens die Grenzen des westlichen Geschichtsmodells zu erkennen und zu überwinden" (113). Wie das konkret gelingen kann und was Rassismuskritik damit zu tun haben könnte, wird allerdings im Aufsatz nicht verdeutlicht.
Michael Sturm beschreibt "die extreme Rechte in Deutschland [...] entlang der unterschiedlichen geschichtspolitischen Strategien" und unternimmt den "Versuch [...] einige [...] historische Sinngebungs- und Deutungsmuster innerhalb extrem rechter geschichtlicher Diskurse zu benennen" (119). Der Verfasser stellt fest, dass die Geschichtsbilder erstens "in ihrem Kern unhistorisch" sowie zweitens "nationalistisch fundiert" sind, drittens "in ein zyklisches Interpretationsraster eingefügt" sowie viertens "vorwiegend als eine Verlust- und Leidensgeschichte" gedeutet werden (125-126).
Florian Kuhne kritisiert, dass "in der Perspektive vieler Praktiker_innen [...]" und "in der öffentlichen Wahrnehmung [...] die Gruppe der muslimischen Jugendlichen die am meisten 'problematische' in Bezug auf die Vermittlung der Geschichte des Holocausts" (137) ist. Doch der Verfasser schafft es nicht, einen produktiven Gegenentwurf darzustellen, der ein solches Dilemma der geschichtsdidaktischen Forschung verhindern würde.
Selman Erkovan analysiert "geschichtsdidaktische Problempotenziale von explizit für 'spezifische kulturelle' Lerngruppen geplante Konzeptionen" anhand Saids Orientalismus-Konzept (153). Erkovan kommt zu dem Schluss, dass "interkulturelle Konzeptionalisierungen mit Schüler_innen sogenannter 'nicht-deutscher' Herkunft im Geschichtsunterricht differenzierter, aber nicht orientalisierend umgehen" (160) sollten. Wie das konkret gelingen kann, wird im Beitrag nicht dargestellt.
Marc Ullrich beschäftigt sich mit der Möglichkeit, "Bildungsprozesse entlang der Kategorie Kultur umzusetzen, ohne Vorstellungen differenzorientierter Kulturvorstellungen zu implizieren und rassistische Vorstellungen zu bedienen" (169). Zu diesem Zweck diskutiert er das Konzept der Transkulturalität, um es "diversitätssensibel und rassismuskritisch zu erweitern" (ebd.). Er kommt zu dem Schluss, dass "transkulturelles Lernen einen emanzipatorischen Blick [verfolgt]: in synchroner und diachroner Perspektive sollen die Lernenden analysieren, wie Menschen entlang anthropogener Differenzkategorien [...] ein- oder ausgeschlossen wurden (und werden!)" (179).
Christina Brüning analysiert die Zielsetzung des bilingualen Unterrichts, indem sie kritisch auf die Annahme eingeht, dass alleine aufgrund des Fremdsprachengebrauchs eine interkulturelle Verständigung erreicht und Fremdverstehen gefördert werden. Sie plädiert stattdessen für einen rassismuskritischen Geschichtsunterricht, der unter anderem den "Konstruktionscharakter von race [...] [erkennt] und reflektiert [...]" (188).
Meike Paula Berg widmet sich der bislang "nur marginalisiert behandelt[en] Kolonial-geschichte und insbesondere de[m] deutsche[n] Kolonialismus" (212). Die Verfasserin stellt ein Rollenspiel vor, welches sich dazu eignen soll, den "Schüler_innen die Komplexität von kolonialen Herrschaftsverhältnissen durch eine Perspektivübernahme" zu veranschaulichen (220). Ob dieses Ziel erreicht werden kann, bleibt zweifelhaft, weil die Rollenkarten rassismusrelevante Wörter beinhalten.
Peter Sinn legt dar, wie "die Perspektive der Kolonialist_innen differenziert erschlossen werden kann. Der Schlüssel zu dieser Perspektive ist Quellen- und Ideologiekritik" (227). Der Verfasser spricht sich dafür aus, die persönlichen Beweggründe der Kolonialist_innen im Geschichtsunterricht zu analysieren, um ein besseres Verständnis dafür zu erhalten, warum die Männer und Frauen sich als Kolonialist_innen betätigt haben. Die alleinige Thematisierung der Beweggründe der Kolonialist_innen erscheint nicht sinnvoll, um im Unterricht über die kolonialen Gräueltaten weißer Menschen zu sprechen, ohne die Auswirkungen auf die Kolonialisierten zu thematisieren.
Julia Nahrstedt stellt Möglichkeiten vor, jenseits des 'Rasse'-Begriffs, rassismuskritisch mit antiken Quellen im Geschichtsunterricht zu arbeiten. Hierbei arbeitet sie heraus, dass mithilfe der "Kategorie BarbarIn [...] die soziale Kategorie SklavIn rassistisch aufgeladen [wurde]" (249, Hervorhebung original). Ihrer Analyse antiker Quellen zufolge, kommt es zu "eine[r] Rassifizierung des Sozialen" (ebenda), welches für den Geschichtsunterricht sowie für die Rassismusforschung als äußerst fruchtbar angesehen werden kann.
Lars Deile thematisiert die Rassismusrelevanz eines Spielfilms, der nicht explizit Rassismus beinhaltet. Es ist fraglich, weswegen sich der Verfasser gerade Michael Hanekes Spielfilm "Caché" ausgesucht hat, um rassismuskritische Filmanalyse zu betreiben, existieren doch Spielfilme, die sich explizit mit der Thematik auseinandersetzen und besser dafür geeignet sind, um im Geschichtsunterricht eingesetzt zu werden, wie beispielsweise "L. A. Crash".
Der Sammelband stößt eine wichtige Debatte innerhalb der Geschichtsdidaktik an und verhilft der rassismuskritischen Geschichtsdidaktik dazu, wissenschaftliche Sichtbarkeit zu erlangen. Empfehlenswert ist die Lektüre für alle Lehramtsstudent_innen und Promovend_innen sowie Lehrkräfte und Fachleiter_innen, um aktuelle Debatten des rassismuskritischen historischen Lernens nachvollziehen zu können.
Karim Fereidooni