Jochen Böhler / Robert Gerwarth (eds.): The Waffen-SS. A European History, Oxford: Oxford University Press 2017, XVIII + 372 S., 20 s/w-Abb., ISBN 978-0-19-879055-6, GBP 65,00
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Als "erste systematische paneuropäische Studie" über die Hunderttausenden von Nichtdeutschen, die in der Waffen-SS oder bei Hilfspolizeieinheiten im besetzten Osten dienten, wird der Band dem Leser eingangs vorgestellt. Bereits der Zusatz, es gehe auch um die "fremdvölkischen" Hilfspolizisten im deutschen Dienst, verdeutlicht, dass der Titel des Sammelbands nicht richtig gewählt ist, da er eben keineswegs nur die Waffen-SS thematisiert. Warum die Herausgeber auch die Hilfspolizisten betrachten, begründen sie konzeptionell leider nicht. Dies erstaunt umso mehr, als nicht nur im Titel der Studie ausschließlich die Waffen-SS genannt wird, sondern auch das Einleitungskapitel "Non-Germans in the Waffen-SS" heißt.
Zunächst geben die beiden Herausgeber Jochen Böhler und Robert Gerwarth einen Überblick über die nichtdeutschen Angehörigen der Waffen-SS. Dieser Einführung folgt in Kapitel 2 ein Abriss der Rassentheorie und der Realitäten des Lebensraumkriegs im Osten von Peter Black und Martin Gutmann. Dabei behandeln lediglich die letzten sechs Seiten die Waffen-SS, und auch dies nur marginal. Der Hauptteil des Kapitels bietet hingegen eine Organisationsgeschichte von "Selbstschutz", Hilfspolizei und "Trawniki". Sowohl in der Einleitung von Jochen Böhler und Robert Gerwarth als auch im Kapitel von Peter Black und Martin Gutmann fällt die falsche Verwendung des NS-Rassebegriffs auf: Eine deutsche Rasse ("German race") gab es laut offiziellem SS-Kanon nicht, sondern nur eine germanische ("Germanic") oder nordische Rasse ("Nordic race"). Andere Autoren des Bandes verwenden korrekterweise den Begriff "Nordic-Germanic race" (43).
Kapitel 3, verfasst von Claus Bundgård Christensen, Niels Bo Poulsen und Peter Scharff Smith, ist ein sehr guter Beitrag über die circa 50.000 "germanischen" SS-Freiwilligen aus Dänemark, Norwegen, Schweden, Belgien und den Niederlanden. Die Autoren untersuchen die Aufstellung entsprechender SS-Verbände, gehen auf die Gründe ein, warum sich junge Männer aus diesen Ländern zur SS meldeten und erwähnen einige der Verbrechen, welche die "germanischen" SS-Männer begingen. Auch das folgende Kapitel 4 (von Georgios Antoniou, Philippe Carrard, Stratos Dordanos, Carlo Gentile, Christopher Hale und Xosé M. Núñez Seixas) legt erfreulicherweise großes Gewicht auf die Motivation der Freiwilligen, in diesem Fall aus Frankreich, Spanien, Italien und Griechenland. In letzterem Land wurden indes nur lokale Freiwilligengruppen gebildet, die unter deutschem Kommando und mit deutschen Uniformen und Waffen kämpften, aber nicht Teil der Wehrmacht oder der Waffen-SS waren. Als Hauptmotiv der Freiwilligen nennen die Autoren den Antikommunismus. Dieser beseelte auch die SS-Angehörigen aus Estland, Lettland und Litauen, um die es in Kapitel 5 der Studie geht, das von Matthew Kott, Arũnas Bubnys und Ülle Kraft verfasst wurde. Zu loben ist an diesem Kapitel insbesondere, dass auch die ethnischen Minderheiten dieser Länder in den Blick genommen werden, etwa die lettischen Russen und Weißrussen, von denen Tausende in der SS dienten. Doch nicht nur der Antikommunismus, der vor allem nach der sowjetischen Besatzungszeit im Baltikum 1940/41 sehr stark war, bewog junge Männer, sich zur Waffen-SS zu melden. Wie in Deutschland spielten auch andere Gründe eine Rolle, beispielsweise die Freistellung vom Arbeitsdienst.
Der Beitrag über Litauen im selben Kapitel behandelt hingegen auf lediglich einer Seite den gescheiterten Versuch, eine litauische SS-Legion aufzustellen. Die restlichen elf Seiten beschäftigen sich mit Hilfspolizei- und anderen Einheiten, die nicht zur Waffen-SS gehörten. Dies trifft auch auf Teile des Kapitels 6 (von Jacek Andrzej Młynarczyk, Leonid Rein, Andrii Bolianovskyi und Oleg Romanko) zu, in dem Belarus, die Ukraine und Polen in den Blick genommen werden: Im Fall von Belarus und Polen geht es fast ausschließlich um Polizeikräfte, die (zunächst) nicht zur Waffen-SS gehörten. Einzig zum Titel passend sind die acht informativen Seiten über die 14. SS-Division "Galizien" und die Bemerkungen über die 30. SS-Division, die allerdings in vier Sätzen (!) abgehandelt wird.
Kapitel 7 wurde von Thomas Casagrande, Michal Schvarc, Norbert Spannenberger und Ottmar Traşcă verfasst. Es beschäftigt sich mit "Volksdeutschen" aus Ungarn, Rumänien, Jugoslawien und der Slowakei. Zunächst bietet es eine Organisationsgeschichte "von oben" und schildert die Bemühungen der SS-Führung, die "Volksdeutschen" aus Südosteuropa für die Waffen-SS zu rekrutieren. So konnten "Volksdeutsche", die aus Rumänien flohen, die deutsche Staatsbürgerschaft erwerben. Das galt auch für Freiwillige aus Ungarn, von denen indes nur ein Teil zur SS kam, während der Rest in die Wehrmacht eingegliedert wurde. Der Leser erfährt weiter, dass die offiziell freiwillige Werbung in der Slowakei in Wirklichkeit unter erheblichem Druck auf die "Freiwilligen" vonstattenging, und wird in einem (leider recht kursorischen) Unterkapitel auch über den Einsatz jener Waffen-SS-Verbände informiert, die sich zum großen Teil aus osteuropäischen "Volksdeutschen" zusammensetzten.
Von den muslimischen Angehörigen der Waffen-SS handelt schließlich Kapitel 8 (von Xavier Bougarel, Alexander Korb, Stefan Petke und Franziska Zaugg). Im Mittelpunkt stehen die bosnische 13. SS-Division, die albanische 21. SS-Division und das Ostmuselmanische SS-Regiment 1, ihre Aufstellung, personelle Zusammensetzung, die Motivation ihrer Angehörigen und ihre Verbrechen. Sowohl dieses als auch das vorherige Kapitel sind sehr informative Beiträge, welche die Lektüre des Bandes für den Leser, der an der Geschichte der Waffen-SS interessiert ist, lohnenswert machen. Das vorletzte Kapitel 9, geschrieben von Gerald Steinacher, Immo Rebitschek, Mats Deland, Sabina Ferhadbegović und Frank Seberechts, beschreibt die Behandlung der nichtdeutschen SS-Angehörigen nach 1945, wobei allerdings oft die Trennschärfe zwischen Angehörigen der Waffen-SS und anderen Kollaborateuren fehlt. Besonders interessant sind indes die präsentierten Einzelfallstudien. Das abschließende Kapitel 10 (von Madeleine Hurd und Steffen Werther) widmet sich den SS-Veteranen, ihrem Gedenken und ihrer Traditionspflege, die sich nach 1990 bemerkenswerterweise vor allem nach Osteuropa verlagerte.
Zu den vielen Ergebnissen, die der Band liefert, zählt unter anderem die Erkenntnis, dass Ausländer, die in der Wehrmacht oder Waffen-SS dienten, genauso wie ihre deutschen Kameraden Kriegsverbrechen und Ausschreitungen gegen die lokale Bevölkerung begangen haben. Wie Krisztián Ungváry bereits in einem anderen Zusammenhang festgestellt hat, gingen Soldaten der ungarischen Armee im "Partisanenkrieg" gegen die sowjetische Bevölkerung besonders hart vor. [1] Auch im Fall von SS und Polizei stellt sich einmal mehr die Frage, wie stark die NS-Indoktrination einer Truppe tatsächlich als Grund für ihre Kriegsverbrechen zu gewichten ist.
Zum Kapitel 8 sei kritisch angemerkt, dass die "Bormann-Diktate", die dort als Quelle angeführt werden (253), höchstwahrscheinlich nicht authentisch sind. [2] Das Hauptmanko des Bandes ist allerdings, dass die Frage nach dem militärischen Wert der nichtdeutschen Waffen-SS-Verbände so gut wie gar nicht behandelt wird. Lediglich im Abschnitt über die 21. SS-Division finden sich einige Bemerkungen dazu, im Kapitel 3 wird diese Thematik mit einem Satz (!) gestreift. In den anderen Teilen des Buchs ist dazu nichts zu finden. Dabei gibt es entsprechende Aussagen bereits in dem 1985 erschienenen Buch "An deutscher Seite" von Hans Werner Neulen. [3]
Dass vor allem Sprachbarrieren ein großes Problem für den internationalen Forschungsaustausch sind, zeigt sich auch an diesem Band: In mehreren der präsentierten Beiträge sucht man vergeblich nach Verweisen auf die große Waffen-SS-Studie von Jean-Luc Leleu, die bislang nur auf Französisch und Spanisch vorliegt. [4]
Da auch zahlreiche andere ausländische Arbeiten aufgrund der Sprachbarrieren von vielen Historikern nicht zur Kenntnis genommen werden können, ist die Zusammenfassung in einem Forschungsband umso lobenswerter. Mit dem vorliegenden Sammelband hält der Leser insgesamt eine informative Studie in den Händen, in der die nichtdeutschen Mitglieder von SS und Polizei unter Berücksichtigung der jüngsten Forschungsergebnisse von ausgewiesenen Experten vorgestellt werden.
Anmerkungen:
[1] Krisztián Ungváry: Kriegsschauplatz Ungarn, in: Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg. Bd. 8: Die Ostfront 1943/44. Der Krieg im Osten und an den Nebenfronten, hg. von Karl-Heinz Frieser, München 2007, 849-958, hier 853f.
[2] Willi Winkler: Der Schattenmann. Von Goebbels zu Carlos: Das mysteriöse Leben des François Genoud, Berlin 2011, 108-116. Hitlers Sekretärin Gerda Christian, die sich bis zu Hitlers Tod im Führerbunker aufhielt, schrieb bereits am 19.3.1975 an ihre ehemalige Kollegin Christa Schroeder, sie halte die sogenannten Bormann-Diktate "nicht für authentisch". Christa Schroeder: Er war mein Chef. Aus dem Nachlaß der Sekretärin von Adolf Hitler, hg. von Anton Joachimsthaler, 5. Auflage, München 1992, Zitat 257.
[3] Hans Werner Neulen: An deutscher Seite. Internationale Freiwillige von Wehrmacht und Waffen-SS, München 1985, beispielsweise 292.
[4] Jean-Luc Leleu: La Waffen-SS. Soldats politiques en guerre, Paris 2007.
Roman Töppel