Christina von Hodenberg: Das andere Achtundsechzig. Gesellschaftsgeschichte einer Revolte, München: C.H.Beck 2018, 250 S., 20 s/w-Abb., ISBN 978-3-406-71971-4, EUR 24,95
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Antje Harms: Von linksradikal bis deutschnational. Jugendbewegung zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik, Frankfurt/M.: Campus 2021
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Christina von Hodenberg: Television's Moment. Sitcom Audiences and the Sixties Cultural Revolution, New York / Oxford: Berghahn Books 2015
Wer mag sie schon zum tausendsten Mal sehen, die immer gleichen Bilder von Demos und Wasserwerfern, von Fritz Teufel, Rainer Langhans, Rudi Dutschke und anderen telegenen Helden, unterlegt mit der Musik der Rolling Stones ("Street fighting man")? Die Mischung aus - einstmals - spektakulären, aber längst bekannten Bildern und durchsichtiger Geschichtspolitik, von Jörg Meuthens Invektiven gegen die "links-rot-grün versiffte Gesellschaft" bis zu Alexander Dobrindts Vademecum einer "konservativen Revolution der Bürger", erzeugt weithin Langeweile.
Das Jubiläumsjahr der Revolte bietet zum Glück aber auch einige interessante geschichtswissenschaftliche Veröffentlichungen. Anzumerken ist ihnen der Überdruss an den angeberischen Narrativen der kleinen männlichen Erlebniselite der Hotspots von 1968 und deren Konstruktion eines Ursprungs- und Umgründungsmythos der Bundesrepublik zur modernen Zivilgesellschaft, aber auch der penetranten geschichtspolitischen Funktionalisierung.
Ein wichtiges Buch hat die in London lehrende Historikerin Christina von Hodenberg vorgelegt. Sie plädiert dafür, den "Tunnelblick auf SDS, Studenten und Berlin" (11) durch andere Zugänge zu überwinden und erprobt das mit zeitgenössischen Quellen. Im Zentrum stehen die auf Hunderten von Tonbändern überlieferten Gespräche im Rahmen einer 1965 begonnenen Längsschnittstudie des Alters mit 222 älteren Probanden aus dem Rheinland, Ruhr- und Rhein-Main-Gebiet. Die hier versammelten Stimmen der "weniger Gebildeten, der Frauen und der Älteren" (12) werden ergänzt durch eine weitere Studie mit 180 Personen mittleren Alters (Jg. 1909-1934) aus dem Köln-Bonner Raum und 16 Interviews mit 1967/68 politisch engagierten Studierenden der Bonner Universität. Ob die lokale Konzentration auf das "Bundesdorf" schon als typische Perspektive der "Provinz" (13) gelten kann, bleibt allerdings zu diskutieren.
Der Erkenntnisgewinn des Buches ist beträchtlich. Er betrifft zum einen die Kritik des Generationenkonzepts von Karl Mannheim, weil es keinen Platz für weibliche Generationserfahrungen bietet. Zum anderen werden die geläufigen Konstruktionen eines Kampfes des männlichen Nachwuchses gegen die "Nazi-Väter" dekonstruiert. Und schließlich verdeutlicht Christina von Hodenberg, dass einfache Diffusionsmodelle der Revolte von den großstädtischen Brennpunkten in eine imaginäre "Provinz" dem komplexen Geschehen von 1968 nicht gerecht werden. Das ist angesichts der Kommunikationsverhältnisse einer modernen Gesellschaft eigentlich selbstverständlich, wird aber in den gängigen Narrativen weitgehend ignoriert.
Die Verfasserin thematisiert fünf Kernpunkte der Diskussionen um 1968: Zunächst geht es am Beispiel des Staatsbesuchs des iranischen Kaiserpaares, dessen erste Station Bonn war, bevor es in Berlin zu den spektakulären Ereignissen kam, um das Verhältnis von Zentren der Revolte und der "Provinz". Auffällig ist die Diskrepanz der überregionalen Berichterstattung, die sich ausschließlich auf West-Berlin konzentrierte, während ihr westdeutsche Provinzstädte "nicht einmal der Erwähnung wert" (35) waren, obwohl es dort durchaus "brodelte" (36). Das Fallbeispiel ist gut geeignet, über das Verhältnis von Gleich- und Ungleichzeitigkeiten multipler Aufbrüche weiter nachzudenken.
Der zweite Punkt betrifft das Klischee vom Ursprung der Revolte als Kampf der Söhne gegen die NS-belasteten Väter. Im Gegensatz zu den Erinnerungen von Hannes Heer, dem "Rudi Dutschke von Bonn" (45), für den dies tatsächlich galt, präsentiert Christina von Hodenberg überzeugende Hinweise darauf, dass der engagierte akademische Nachwuchs eher aus linksliberalen und linken Elternhäusern kam. Es bedurfte nicht der Abgrenzung von den Vätern, um sich über die personellen NS-Kontinuitäten zu empören.
Auch der Sternmarsch gegen die Verabschiedung der Notstandsgesetze im Mai 1968 führte nach Bonn, nicht nach West-Berlin. Das Beispiel dient als Anlass, über die "Rolle der Alten" (77) inmitten der Revolte nachzudenken. Wichtig ist der Hinweis, dass die APO nicht identisch war mit der jugendlichen Revolte, sondern dass Teile der älteren Bevölkerung den politischen Anliegen einige Sympathien entgegenbrachten und dass insgesamt das Verhältnis zwischen den Generationen "weit entspannter" (100) war, als es der Slogan "Trau keinem über 30" vermuten lässt. Allerdings zeigt der Hinweis, dass ältere Bürger zwar weniger an den Inhalten, aber an den radikalen Formen des Protestes Anstoß nahmen, dass es falsch wäre, nun bisherige Darstellungen einfach auf den Kopf zu stellen und die jugendkulturelle Prägung von 1968 zu ignorieren.
Diskussionsstoff bietet auch die These "Achtundsechzig war weiblich" (103). Es gab ohne Zweifel eine Marginalisierung des weiblichen Anteils der Revolte in der öffentlichen Wahrnehmung, die vor allem darauf zurückzuführen ist, dass "sich die weibliche Revolte hauptsächlich in der privaten Sphäre zutrug" (108). Die Verfasserin nutzt ihre Interview-Quellen dazu, die Alltagsprobleme weiblicher Emanzipation, etwa die Vereinbarkeit von Kind und Studium und die untergeordnete Rolle in den männlich dominierten Institutionen, Beziehungen und Diskursen markant herauszuarbeiten.
Zweifel bleiben allerdings bei der Rückdatierung der Genese einer neuen Frauenbewegung. Obwohl sie mit der Sprengung des Seminars eines bornierten Professors an der Bonner Universität durch engagierte Studentinnen als erste lokale Aktion im Jahre 1971 einsetzt, besteht Christina von Hodenberg darauf, dass die Frauenbewegung 1968 begonnen habe. Und während sie die Orientierung an den männlichen Helden mit Recht kritisiert, werden hier die schon zu Tode zitierten "Tomatenwürfe" der SDS-Heldinnen und der begeisterte Kommentar von Ulrike Meinhof angeführt.
Problematisch ist auch die Gegenüberstellung einer erfolglosen männlichen und einer erfolgreichen weiblichen Linie, die von 1968 ausgegangen sei. "Die kommunistischen Kadergruppen, die in den siebziger Jahren die politische Kampagne gegen den Kapitalismus weiterführten, blieben zur Wirkungslosigkeit verurteilt, weil sie in der westdeutschen Bevölkerung keinen Zuspruch fanden. Ganz anders war es mit der stillen Revolution der Frauen." (109) Zum einen war es nur eine Minderheit männlicher Aktivisten, die in besagten Kadergruppen landeten, zum zweiten war der weibliche Anteil in solchen Gruppen höher als in der Revolte von 1968 und zum dritten blieb auch die Frauenbewegung der 1970er-Jahre nicht unbeeinflusst vom linksradikalen Zeitgeist, wie die Verfasserin am Beispiel der Spaltung in eine "Schulungsfraktion" und eine "Mütterfraktion" selbst bemerkt (126).
Zuletzt befasst sich Christina von Hodenberg mit "Varianten sexueller Befreiung" (151) und hält fest, dass es "alles andere als klar" (156) sei, wie sich die propagierte sexuelle Revolution auf das reale Sexualverhalten der breiten Bevölkerung auswirkte. Die Verfasserin weist zu Recht darauf hin, dass der "Kampf um die moralische Sauberkeit" (161) in der kirchlichen und konservativen Presse zwar schon lange vor 1968 verloren worden sei, dass aber die linke Politisierung der sexuellen Revolution ebenso wenig "repräsentativ für das Denken und die Praxis der Masse" (168) gewesen sei. Die allmähliche Veränderung sexueller Normen und Praktiken sei als "ein langfristiger Prozess der Liberalisierung" (183) zu verstehen, der sich - mit gelegentlichen Schüben der Beschleunigung - durch das gesamte 20. Jahrhundert zog. Aus diesem Grund - das wird durch die Interviews belegt - stießen die Töchter bei ihren Müttern 1968 auf viel Verständnis, während für die "Generation der über 60jährigen" "vorehelicher Sex noch immer prinzipiell verwerflich" (180) war.
Das Buch von Christina von Hodenberg ist als interessanter Vorschlag zu begrüßen, sich dem magischen Jahr 1968 als einer Chiffre für markante politische, gesellschaftliche und kulturelle Veränderungen zu nähern. Die Heranziehung neuer Quellen mit bisher wenig beachteten Stimmen außerhalb des männlichen akademischen Nachwuchses bietet wichtige ergänzende Perspektiven auf das Geschehen fernab medial etablierter Narrative, ohne dass allerdings die Geschichte der Jugendrevolte völlig umgeschrieben werden muss.
Axel Schildt