Bernd Roeck: Der Morgen der Welt. Geschichte der Renaissance (= Historische Bibliothek der Gerda Henkel Stiftung), München: C.H.Beck 2017, 1336 S., 32 Farb-, 83 s/w-Abb., ISBN 978-3-406-69876-7, EUR 44,00
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Bernd Roeck: Der Morgen der Welt. Geschichte der Renaissance, München: C.H.Beck 2017
Bernd Roeck: Der Morgen der Welt. Geschichte der Renaissance, München: C.H.Beck 2017
Raphael Beuing / Wolfgang Augustyn (Hgg.): Schilde des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit, Passau: Dietmar Klinger Verlag 2019
Bernd Roeck / Andreas Tönnesmann: Die Nase Italiens. Federico da Montefeltro, Herzog von Urbino, Berlin: Wagenbach 2005
Bernd Roeck (Hg.): Stadtbilder der Neuzeit. Die europäische Stadtansicht von den Anfängen bis zum Photo, Ostfildern: Thorbecke 2006
Bernd Roeck: Das historische Auge. Kunstwerke als Zeugen ihrer Zeit. Von der Renaissance zur Revolution, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2004
Bernd Roeck, ausgewiesener Kenner der europäischen Renaissance, hat ein rekordverdächtiges Buch geschrieben. Mit 1304 Seiten ist es, wie der Rezensent Michael Rohlmann treffend in der Süddeutschen Zeitung vom 31.1.2018 bemerkt, dicker als die Gutenberg-Bibel, deren Loblied es singt. Der Morgen der Welt haut in eine ähnliche Kerbe wie Stephen Greenblatts The Swerve. How the World Became Modern, das 2012 enorm erfolgreich die Bestsellerlisten der englischsprachigen Welt beherrschte, geht die Sache aber ganz anders an. Wo Greenblatt detektivisch den Spuren des Humanisten und Manuskripten-Jägers Poggio Bracciolini folgt, um die Rolle des Epikureismus in der Renaissance auszuleuchten - also eine drehbuchartige Erzählperspektive einhält und evokativ ein kulturelles Mikroklima innerhalb Europas nachzeichnet (nicht immer akkurat, und daher auch zu Recht gescholten) -, geht Roeck voll in die epische Breite der Geschichtsschreibung. Dies ist bewundernswert, hat aber seinen Preis. Roecks Geschichte der Renaissance, so der Untertitel, geht weit über die Kernepoche hinaus und entfaltet sich entlang historischer Entwicklungen in vier Akten: 1. die Grundlagen von der Antike bis 1000, 2. die Entfaltung der Möglichkeiten von 1000 bis 1400, 3. die Verwirklichung der Möglichkeiten von 1400-1600, 4. Ausblicke. Ein großes Geschichtspanorama also, das intelligent und anspruchsvoll untergliedert ist in weit gefasste konzeptuelle Themenblöcke, die wiederum in 48 Kapiteln spezifiziert werden, gefolgt von einem anregenden und lesenswerten Epilog. Die klare Struktur erlaubt es durchaus auch gezielt zu lesen, zum Beispiel thematisch, oder aber der Chronologie folgend.
In einem mit Fakten gespickten und schnellen Erzählstil breitet Roeck seine beeindruckende Wissensfülle vor den Lesern aus, was ihm in den zahlreichen bisher erschienenen Rezensionen vor allem von Seiten der Historiker großes Lob eingebracht hat. Und das Buch beeindruckt in der Tat mit erstaunlicher Sachkenntnis, über die historischen Disziplinen hinweg. Auch wenn die enorme Rolle der Erfindung des Buchdrucks durch Gutenberg als 'Teilchenbeschleuniger' der frühen Neuzeit bereits hinreichend bekannt sein mag (eine Medienrevolution, die sich gut mit den Umbrüchen im digitalen Zeitalter vergleichen lässt) -, widmet ihr Roeck doch zu Recht einige Aufmerksamkeit im Kapitel "Der Gutenberg-Kontinent". Er wartet aber auch mit weniger bekannten Einsichten auf und eröffnet originelle und unerwartete Blickwinkel auf die Welt der Dinge und ihre vielfältigen, globalen Vernetzungen: so etwa auf die Brille und ihre Bedeutung für die Verbreitung und Produktion von Wissen - als deren Konsequenz dann auch das Fernrohr und letztlich die bahnbrechenden Einsichten eines Kopernikus erscheinen. Wir erfahren mehr über die Relevanz der Schraube, quasi die "Urmutter" der westeuropäischen Technikeffizienz, verbreitet durch den Buchdruck, gelesen und verstanden mit wiederum oftmals der Brille, und lernen Wissenswertes über die Etymologie des Wortes Zucker aus dem Sanskrit sowie die Rolle von Silber, Eisen und Papier in der Festigung des westeuropäischen "Tintenstaates". Ausklingen lässt Roeck sein episches Narrativ mit der Dampfmaschine.
Als Geschichte kultureller Techniken hat das Buch einiges zu bieten. In seinem Universalanspruch aber ist es auch, obgleich hochgelehrt, problematisch. Es ist vor allem Roecks Kernfrage, die den Fehler in sich trägt: Warum ist die europäische Kultur so erfolgreich? Denn das bedeutet auch: Was macht uns eigentlich besser? Das weitaus interessantere und aktuell relevantere Problem der Dominanz eines westlichen Qualitätsurteils, nämlich, warum wir beharrlich annehmen, so viel besser zu sein, kommt nicht vor. In dieser Hinsicht ist Roecks Geschichte der Renaissance, obgleich perspektivisch breit angelegt, argumentativ dann doch sehr eng geführt, rückschrittlich, und sogar riskant. Sicher geht Der Morgen der Welt über Jacob Burckhardt hinaus, der in seinem Hauptwerk die italienische Renaissance als Kulturmotor der frühen Neuzeit ins Visier genommen hat. Das war freilich vor über 150 Jahren. Aber welchen Gefallen tut man dem Leser mit einem nach Burckhardts Vorbild erweiterten Verständnishorizont rein europäischer Prägung - in den politischen Absurditäten unserer Zeit, in denen globale und transregionale Balanceverhältnisse weitaus mehr und bessere Argumente verlangen als eine Verteidigung der westlichen Vormachtstellung. Stattdessen ist Roecks Geschichte der Renaissance eine einzige Apologie dieser vermeintlichen Überlegenheit: Im Abendland fand der selbst-deklarierte Morgen der Welt statt.
Daran lässt schon das Umschlagbild keinen Zweifel: Albrecht Altdorfers Alexanderschlacht ist eine durchaus unglücklich zu nennende Wahl. Denn deutlicher kann man die kulturellen Überlegenheitsansprüche des 'Abendlandes' nicht visuell formulieren. Das von Herzog Wilhelm IV. von Bayern 1528 für die Münchener Residenz in Auftrag gegebene Bild präsentiert polemisch den Triumph Alexanders des Großen über den Perserkönig Darius in der Schlacht bei Issus. Damit aber noch nicht genug: Der Bildausschnitt des Umschlages ist so gewählt, dass allein die westliche Renaissance leuchtet - das siegreiche Heer Alexanders unter der Sonne -, der das Bild komplettierende Halbmond auf der Seite der Perser kommt nicht vor. Dem entspricht auch die etwas altbackene Schöpfungs- und Vitalitätsmetaphorik, die den Text durchzieht, angelehnt an Burckhardt, Huizinga und die deutsche Romantik.
Das Buch beginnt mit dem intellektuellen Leitmotiv des Phoenix-Fluges für den Aufstieg westlicher Kulturen. Es lokalisiert einen frühen "Arabischen Frühling" und einen "byzantinischen Spätsommer", entfaltet globale "Wendezeiten" des Mittelalters, in denen Europa abhebt und "fliegt" und "Ein Muslim im Vatikan" erscheint. Byzanz entwickelt "Wissenschaft im Weihrauchdunst", und ein "Abend im Morgenland" setzt ein. Munter wird hier mit dem Modell von Aufstieg und Fall der Kulturen operiert - vor allem dem "Niedergang der arabischen Wissenschaften", ohne dass solche Konzepte kritisch hinterfragt werden. Das liest sich dann bisweilen fast wie Vasari. Die Renaissance in Italien beginnt mit "Florenz im Morgenlicht", hat einen "Burgundischen Hochsommer" und entwickelt sich weiter zu einer "Hochrenaissance", in welcher "Träume von Arkadien" vorherrschen, der "Prozess der Zivilisation" stattfindet (in Urbino...) und ein "gottloser" (Leonardo da Vinci) und ein "göttlicher" (Michelangelo) Künstler die "italienische Leitkultur" beflügeln. Danach erobert der italienische "Südwind" Europa, bevor "eisige Zeiten" und "traurige Tropen" (mit denen die "Amerikanische Renaissance" freundlicher Weise belegt wird) zu einem "Herbst der Renaissance" und sodann zu einer "Winterreise" führen, die - Gottlob! - wieder einen "Sonnenaufgang im Westen" sieht.
Die bisweilen sehr blumig-bildungsbürgerliche Diktion ("Kant kam nicht bis Bagdad", "Vertikalen, himmelhoch", "Die Diskursrevolution entlässt ihre Kinder") würde man gerne durchgehen lassen, denn es gibt viel zu entdecken in diesem Buch und seinen vielfältigen Nischen des Wissens. Wenn aber Kapitel IV Ausblicke zum Thema "Der 'Westen' und der Rest" verspricht, dann wird einem doch etwas mulmig zumute. Denn das ist alles andere als eine Parodie auf Niall Fergusons hoch problematische Publikation The West and the Rest von 2011. Wir erfahren auf die Frage "Warum nicht China?", dass die Staaten außerhalb Europas zu "eigensinnig" waren und zu "verwehte Kulturen" haben. Dies wiederum kulminiert in der Feststellung: "Die Chance, dass kühne Projekte begonnen und über Jahrzehnte, ja Jahrhunderte weiterverfolgt wurden, war in Lateineuropa mit seinen hochentwickelten Kommunikationsmedien tausendfach höher als im Osmanischen Reich" (1071). Und die Erfindung der Dampfmaschine war nur in Europa möglich, weil ein "Türken-Kepler" sicher nicht auf einen "türkischen Newton" getroffen wäre. Das muss man erst mal auf sich wirken lassen.
Reich sind die Einsichten im Kapitel "Archäologie des Neuen", das sich mit Aspekten der Objektkultur und des Warenhandels beschäftigt, aber dennoch überwiegt stets der Beigeschmack, dass die 'Anderen' nicht gut wegkommen. Man findet sie "krank" am Bosporus, "verweht" in Afrika, und "träge" und "arrogant" in China, und nein, Kant kam halt nicht bis Bagdad.
Das Problem des Buches liegt am Ende nicht in seinem Umfang, auch nicht in seinem atemlosen Erzählstil. Es liegt im überraschend unreflektierten Umgang mit wenig zeitgemäßen historischen Kategorien und der Betonung kultureller Klischees. Dies trifft insbesondere für die kunsthistorischen Passagen zu. Die explodierende Bildwelt der frühen Neuzeit bleibt ein anämisches Anhängsel bei Roeck, mit bekannten Materialien zwar verehrungsvoll, aber lauwarm vorgeführt - Leon Battista Albertis Metapher des Bildes als Fenster, 'Realismus'-Fragen, die Titanen der italienischen "Hochrenaissance" - Leonardo, Michelangelo und Raphael erscheinen nur als Abziehbilder. Die Mona Lisa wird gerühmt als Renaissance-Ikone: "ein Kunstwerk, das wie kein anderes dem Menschenbild des Cortegiano nahe scheint. (...) Das Lächeln der legendenumwobenen Florentinerin ist einzigartig". Und in diesem Stil geht es weiter, mit den "Göttlichen" - Raphael und Michelangelo. Die Collage einer enormen Menge an Geschichtsfetzen aus einer Perspektive, die alles der verehrten europäischen Renaissance und ihrer vermeintlichen Dominanz im Geschichtsverlauf der Welt unterordnet, ist schwer verdaulich, selbst für eine Europäerin.
Roeck hat leider auch maßgebliche Publikationen der letzten Jahrzehnte nicht wahrgenommen, die mit guten Argumenten für eine Neujustierung der Frühneuzeitforschung plädieren. Dass und warum die Renaissance ein Produkt der europäischen Kulturen und ihrer Diskursstrukturen ist, wurde vielfältig und anregend diskutiert, in Publikationen von Lia Markey, Claudia Swan, James Elkins, Lisa Jardine oder auch im wunderbaren Katalog von Alessandra Russo und Gerhard Wolf (Images Take Flight), der den Austausch künstlerischer Ideen und Materialien zwischen Mexiko und Europa am Beispiel der Feder differenziert und keineswegs kulturarrogant beschreibt. Ausgelassen sind auch neuere Problematisierungen von Zeitstrukturen und Epochenfragen, etwa von Alexander Nagel und Christopher Wood, Stephen Campbell, Ulrich Pfisterer und Georges Didi-Huberman. Zumindest ein rascher Blick in Richtung von Reinhard Kosellecks Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten (1979) und seinen Überlegungen zur Problematik von Erfahrungsräumen und Erwartungshorizonten sowie einer Theorie geschichtlicher Zeiten wäre wünschenswert gewesen. All das kommt nicht vor. So liest es sich dann doch mehr wie ein Burckhardt, der den geographischen Raum erweitert hat.
Die Renaissance als eine Erfolgsgeschichte des Westens zu schreiben, dessen effizientere Kulturvernetzungen und Dialoge die Menschheit voranbrachten, ist ein heikles Unterfangen. Der Autor bietet viel an Wissen auf, hat aber die Chance zu einem aktuellen akademischen Diskurs, der über die eurozentrische Perspektive hinausgehen muss, vertan. Das Buch wird es in anderen Teilen der Welt nicht leicht haben. Denn es ist letztlich vor allem eines: ein schwer wiegender Anachronismus.
Jeanette Kohl