Christopher Spatz: Ostpreußische Wolfskinder. Erfahrungsräume und Identitäten in der deutschen Nachkriegsgesellschaft (= Einzelveröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts Warschau; 35), Osnabrück: fibre Verlag 2016, 239 S., ISBN 978-3-944870-40-3, EUR 29,80
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Die vorliegende Dissertation wurde an der Humboldt-Universität Berlin von Ruth Leiserowitz betreut, die einst selbst mit einer Studie [1] zu Wolfskindern hervorgetreten ist. Dabei handelte es sich um Kinder und Jugendliche aus dem nördlichen Ostpreußen, die zunächst nicht nach Westen flohen bzw. umgesiedelt wurden, sondern ihr Überleben selbstständig in der Region und im angrenzenden Litauen organisierten. Während sich Leiserowitz für die unmittelbare Nachkriegszeit und die Lebenswege der in Litauen verbliebenen Wolfskinder interessierte, legt Spatz seinen Fokus auf die Identitätsbildung der Wolfskinder und ihre "Rückwege in die deutsche Gesellschaft" (93 ff.). Das Schlüsselkonzept "Identität" definiert Spatz mit Verweisen auf Aleida und Jan Assmann, Jürgen Straub und Astrid Erll, dabei unterstreicht er dessen Konstruktcharakter und Zeitlichkeit sowie Unterschiede zwischen individueller und kollektiver Identität. Vor diesem Hintergrund formuliert Spatz drei leitende Thesen: Zum Ersten verfügten die Wolfskinder über einen gemeinsamen Erfahrungsschatz aus der unmittelbaren Nachkriegszeit, zum Zweiten wurde die Identitätsbildung vom Zeitpunkt ihrer Rückkehr in die deutsche Gesellschaft beeinflusst, und zum Dritten sei die Annahme einer kollektiven Identität kritisch zu hinterfragen, denn durch den Assimilationsdruck in Litauen sei ein Bekenntnis zu Gruppenidentität gemieden worden, sodass viele Wolfskinder nach ihrer Rückkehr von einer "Erinnerungseinsamkeit" (10) umgeben seien.
Auf das Motiv der Erinnerungseinsamkeit kommt Spatz wiederholt zurück, denn im aktuellen Forschungsstand zu Flucht, Vertreibung und Kriegskindheiten sieht er die Wolfskinder nicht angemessen kontextualisiert. Vor allem Publikationen zur Erinnerungskultur bewegten sich auf einem recht "dünnem Eis erforschter Ereignis-, Sozial- und Identitätsgeschichte" (17) und beachteten die regional sehr unterschiedlichen Schicksale zu wenig. Im Zentrum von Spatz' Quellenkorpus stehen 50 lebensgeschichtliche Interviews mit Wolfskindern, darüber hinaus wurden zahlreiche deutsche Archivquellen ausgewertet, unter anderem der Ministerien des Äußeren und Inneren der Bundesrepublik und der DDR, die Suchkartei des Deutschen Roten Kreuzes oder Einzelfallakten des Grenzdurchgangslagers Friedland.
Im Hauptteil der Arbeit widmet sich Spatz durch das Prisma der lebensgeschichtlichen Interviews ausführlich den Erfahrungsräumen von Kindern im nördlichen Nachkriegsostpreußen. Hunger, Seuchen, sexuelle Gewalt und Tod führten demnach zu einem "Entheimatungsprozess" (47) und einer "Implosion sämtlicher kindlicher Gewissheiten" (54). Das benachbarte Litauen wurde zu einem Ort der Lebensmittelsuche und des Überlebens, obwohl es selbst unter Deportationen und Sowjetisierungsmaßnahmen litt. Spatz unterscheidet fünf Typen von Wolfskindern: Pendler, die ihre in Ostpreußen verbliebenen Angehörigen versorgten; Scheinwaisen, die getrennt von der Restfamilie für längere Zeit nach Litauen gingen; Adoptivkandidaten in litauischen Pflegefamilien; Arbeitskräfte am unteren Rand der sowjetlitauischen Gesellschaft; und schließlich Jugendliche, die eine stärker ausgeprägte deutsche Identität aufwiesen.
Entscheidende Wegmarken für die Wolfskinder seien die Rückkehrmöglichkeiten in die deutsche Gesellschaft gewesen, seit 1947 zunächst über Transporte in die SBZ bzw. DDR, und im Rahmen von Familienzusammenführungen dann auch nach Westdeutschland. Am Beispiel schulischer Fördermaßnahmen für die Wolfskinder kann Spatz zeigen, dass sowohl in humanistischen und konfessionellen Heimschulen in der Bundesrepublik als auch im sozialistischen Kinderheim Kyritz in Brandenburg geschützte Räume entstanden, die bei der Integration in die deutschen Nachkriegsgesellschaften wichtige Hilfe leisteten. Gänzlich anders gelagert war die Situation zu Beginn der 1990er Jahre. Während sich ehemalige Wolfskinder in Litauen zu einem "sozialen Outing als gebürtige Deutsche" (198) durchrangen und Anträge auf Feststellung ihrer Staatsangehörigkeit stellten, bearbeiteten die Behörden der Bundesrepublik zur gleichen Zeit Anträge von hunderttausenden Spätaussiedlern und versuchten jegliche Präzedenzfälle zu vermeiden. Spatz sieht darin ein Symptom für die Schwierigkeiten der Wolfskinder mit der mittlerweile etablierten deutschen Erinnerungskultur. Es sei ihnen nur selten möglich, in Deutschland Zeugen für das Erlebte zu benennen, und mediale Erzählangebote, wie der 1991 ausgestrahlte Film Wolfskinder, hätten neue Missverständnisse geschaffen: Assoziiert wurde ein gemeinschaftliches Überleben jenseits der Zivilisation, während die eigentliche Erfahrung in der Anpassung an eine andere Gesellschaft und in der Lösung von der eigenen Gruppe lag.
An der Arbeit gibt es nur wenig kritisch zu bemerken. Einige Male bedient sich Spatz zu sehr der Sprache seiner Quellen, etwa wenn es den Wolfskindern nach ihrer Rückkehr gelungen sei, "sich geräuschlos in ihre neue Umgebung zu integrieren und vollwertige Mitglieder der Nachkriegsgesellschaften zu werden" (138, ähnlich 211, 212). Treffend ist die Diagnose einer "Diskrepanz von emotionaler Selbstverortung und transnationalen Prägungen" (206), doch wird auf diese transnationalen Prägungen eher wenig eingegangen.
Insgesamt ist Spatz eine inhaltlich und sprachlich höchst eindrucksvolle Analyse gelungen, die sich gerade auch vor dem Hintergrund gegenwärtiger Debatten und Forschungen zu Migration mit großem Gewinn liest. Am Untersuchungsgegenstand der Wolfskinder lassen sich nicht nur Fragen der Identität und Anerkennung studieren, sondern auch viele Facetten einer politischen Kulturgeschichte der Ausreise aus Osteuropa nach 1945. Diesem Band in der renommierten Reihe des DHI Warschau ist eine breite Aufmerksamkeit zu wünschen.
Anmerkung:
[1] Ruth Kibelka: Wolfskinder. Grenzgänger an der Memel, Berlin 1996.
Stephanie Zloch