Tim Szatkowski / Tim Geiger / Jens Jost Hofmann (Bearb.): Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1987 (= Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland), Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2018, 2 Bde., XC + 2101 S., ISBN 978-3-11-054958-4, EUR 149,95
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Ein Silberjubiläum ist anzuzeigen: der 25. Band der seit 1993 publizierten Dokumentenserie zur Außenpolitik der Bundesrepublik seit 1963 ist da, pünktlich wie immer dreißig Jahre nach Ablauf der üblichen archivarischen Sperrfrist (Es gibt darüber hinaus Bände für die Jahre 1949-1953 und 1962; alle Bände bis zum Berichtsjahr 1983 stehen im Open access). Das ist bemerkenswert und bleibt auch international sonst unerreicht. Man kann angesichts von online-Veröffentlichungen aller Art am Sinn solche aufwändiger Editionen zweifeln, was eher für einige innenpolitische Editionen zutreffend wäre; für die AAPD spricht aber weiterhin über das in die weltweite Forschungslandschaft hineinwirkende Prestigeprojekt viel.
1987 war ein ungewöhnlich intensives Jahr in der Weltpolitik und so auch für die Bonner Außenpolitik. Alles überschatteten die von der Sowjetunion Gorbatschows ausgehenden Reformen auch im internationalen System. Im Jahr zuvor hatte das Treffen Reagan-Gorbatschow in Reykjavik (10.-12.10.) fast einen Durchbruch zur nuklearen Abrüstung gebracht, im INF-Vertrag vom 8.12.1987 vereinbarten sie die "doppelte Nulllösung" für Mittelstreckenraketen und Kurzstreckenraketen über 500 km Reichweite. Selten wurde so viel in bundesdeutschen diplomatischen Gesprächen mit Ausländern darüber gesprochen, ob Gorbatschow denn "ernst zu nehmen" sei. Alle, sogar die Chinesen (Nr. 209), äußerten ihre mehr oder wenig vagen Vermutungen. "Atemberaubend" fand Kanzler Kohl im Februar die Entwicklung in Moskau (Nr. 49 - er hatte im Vorjahr noch den unsäglichen Goebbels-Vergleich in einem Interview angebracht). Ende 1987 war er von der Ernsthaftigkeit der Reformansätze Gorbatschows überzeugt, fragte sich nur, ob dieser sie umsetzen könne.
Die Rüstungsdynamik der beiden Supermächte war entscheidend und so suchte die bundesdeutsche Politik mit vielen Partnern darüber zu reden, auch bedingt zu bremsen. Die Hauptsorge lag in der möglichen "Denuklearisierung" der NATO (die als solche keine Strategie entwickelte, Nr. 291). Und hier taten sich auch Differenzen zwischen Kanzler (mit Verteidigungsminister, u.a. Nr. 116) und Außenminister auf. Während Genscher stärker zum Nachgeben aus allgemein politischen Gründen neigte, dachte Kohl eher an militärstrategische Implikationen. Mit diesen großen Weltrüstungsfragen waren die ewig dauernden MBFR-Verhandlungen in Wien im Kern obsolet, liefen aber dennoch weiter. Ebenfalls in Wien fand 1987 das KSZE-Folgetreffen statt. Zahlreiche Berichte von Botschafter Eickhoff fassen brillant die vielfältigen Überprüfungskommissionen, deren Dynamik und den Zwang zur Bildung gemeinsamer westlicher Positionen (gegenüber den Neutralen und dem Osten) zusammen und geben darüber hinaus auch grundlegende Einsichten in den Wandel in Europa her.
Zu den aussagekräftigsten Dokumenten gehören traditionell die Besprechungen des Kanzlers oder des Außenministers mit internationalen Partnern. Gerade 1987 nahmen sie oft den Charakter von Referaten dessen an, was die entsprechenden Politiker von anderen gehört oder mit diesen besprochen hatten - ein System gehobener "Stiller Post" also. Darüber hinaus liebte vor allem Kohl über die engeren Themen hinaus das offene Wort - so über die "Grünen" (Nr. 89 zu Mitterrand), auch über die SPD in überraschend positivem Sinn. Wie man weiß, liebte Kohl auch historische Expektorationen. So suchte er US-Vizepräsident George H.W. Bush in Bonn zu warnen, die Abreise Wilsons aus Paris 1919 und "der nachfolgende Isolationismus" sei "die kostspieligste Torheit der USA in diesem Jahrhundert" gewesen und auch materiell "teuer zu stehen gekommen. Er erinnerte an die Toten und die materiellen Opfer des Zweiten Weltkrieges [...]" (Nr. 274, 1395) - sicher eine besondere, wohl nur taktisch zu verstehende Lesart des Jahrhunderts.
Das führt zu einem editorischen Problem: die AAPD verstehen sich programmatisch als Fondsedition der Akten des Auswärtigen Amtes, haben jedoch wie in den Vorjahren auch Akten des Kanzleramtes und des privaten Nachlasses von Kohl verwenden können. Genau das macht Sinn. Der Aktenhinweis am Ende jedes Dokuments gibt den Fundort an. In der ersten Anmerkung aller Aufzeichnungen werden die Bearbeitungsvermerke gedruckt: wer sollte das Dokument sehen, wem wurde es weitergeleitet? Gerade bei den Kohl-Besprechungen zeigt sich aber oft nicht, ob auch das AA oder der Außenminister die Aufzeichnung bekamen. Da die Aktenstücke anscheinend nicht im AA vorhanden waren, spricht einiges dagegen. Es gab also in Ansätzen eine parallele Außenpolitik von Kohl und Genscher. Nur selten wird die Sache so klar, wenn Kohls Vertrauter Teltschik (der oft allein in Kohls Auftrag unterwegs war, dann aber zumeist erkenntlich mit dem AA zusammenarbeitete) beim Kanzler zur Weitergabe anfragte: "Nein", entschied der Kanzler zu einer Aufzeichnung mit Delors (Nr. 337), "ja" zu einem Gespräch mit Thatcher (Nr. 352). Da wünschte man sich von den Editoren durchgängig klarere Aussagen weniger positivistischen Nachdruck der auf dem Dokument vorhandenen Spuren, sondern solche, etwa wonach für eine Weiterleitung von Kanzleramt an AA keine Hinweise zu finden seien. Einige kurze Schreiben zwischen Kohl und Genscher suchen jedenfalls Misstrauen des anderen je zu zerstreuen.
Der Wandel im Ost-West-Verhältnis war zentral - und auch er immer wieder das Thema von multilateralen Besprechungen, sei es der politischen Direktoren des AA mit den drei Westalliierten, seien es NATO-Besprechungen, seien es aber auch die im EG-Rahmen. Je größer der Kreis, desto eher werden hier nur nationale Grundpositionen referiert. Raketen- und Nuklearrüstung überragte alles, aber wie in den Vorjahren spielten auch chemische Kampfstoffe eine sehr große Rolle. In diesem Rahmen ist der Druck einer bundesdeutschen "Bedrohungsanalyse" sehr nützlich (Nr. 154), aus dessen Überschrift nur hervorgeht, dass sie von Oberstleutnant i.G. Graf von Pfeil stammte. Erst aus den Namenregister ergibt sich, dass es sich um einen Mitarbeiter aus dem Planungsstab des AA handelte - üblicherweise wurden solche Dokumente federführend im Verteidigungsministerium erstellt; gibt es hier etwa nur ein Kondensat aus den AA-Akten? Aufschluss in der Edition wäre erwünscht.
Das Themenspektrum war aber global: es gibt viel zur wirtschaftlichen Uruguay-Runde; vielfach wird aus Chile über die Colonia Dignidad berichtet, über den Prozess Barbie in Lyon, Gespräche mit asiatischen, arabischen Politikern. Die längsten Aufzeichnungen kommen von einer Afrikareise Kohls nach Kenia und Mosambik (Nr. 321 und 322); auch Genscher reiste bekanntlich gern. Auch kulturpolitisch reicht das Spektrum weit. Von besonderem Interesse der Versuch der Botschaft Washington, auf die Gründung des US-Holocaust-Memorials Einfluss zu nehmen, vielleicht das Thema deutscher Widerstand anzuregen, jedenfalls aber von einem Grundziel Hass auf Deutschland abzubringen, wie es Gründungsvorsitzender Elie Wiesel angeblich betrieb (Nr. 220). Hier fällt die Edition aus der Reihe, wenn sie in den Anmerkungen die Aussage des Dokuments aus den Memoiren Wiesels von 1968 zu belegen sucht.
Erfreulicherweise sind einige grundlegende Positionspapiere abgedruckt, aber auch ein reflektierender Bericht über die Publizistik von MD Seitz zum neuen Aufkommen einer Mitteleuropadebatte (Nr. 95), über den sich wandelnden Begriff der friedlichen Koexistenz (Nr. 2). Genscher hatte einen weltpolitischen tour d'horizon mit dem Historiker Michael Stürmer (Nr. 19), das auf 9 Seiten dokumentiert wird. Dokumentiert wird auch ein internes Kolloquium über islamischen Fundamentalismus (Nr. 22).
Mit Gewinn und Neugierde liest man manche Anfänge heute noch aktueller Probleme, so etwa des offiziellen Beitrittsgesuchs der Türkei zur EG 1987 (v.a. Nr. 218), zu Geiselnahmen im Libanon u.a., verbotenen deutschen Waffenexporten nach Nahost. Man hat bisweilen den Eindruck, es ginge nicht nur nach Bedeutsamkeit, sondern auch um die Vielfalt der Themen derer sich die Diplomaten anzunehmen hatten - bis hin zu AIDS (Nr. 80).
Die Edition bleibt wie immer mustergültig, ein paar kleinere Dinge wurden bereits erwähnt. Es scheint jedoch, dass sich die Schwierigkeiten der Auswahl und vor allem der reichen Kommentare häufen. Üblicherweise wurde und wird international in AA-Editionen zur Ergänzung primär auf bereits edierte Regierungsdokumente hingewiesen wie das Bulletin. Diplomatie geriet aber immer stärker in eine Interaktion mit Öffentlichkeit, wenn etwa die Differenzen Kohl-Genscher in der Abrüstung breit in der Bild am Sonntag ausgebreitet wurden. Dann gibt die Edition auch hier und an vielen Orten nicht nur Verweise auf Zeitungen, sondern zitiert auch länger, paraphrasiert. Auch an vielen anderen Stellen ergeben sich Hinweise nicht nur auf abgekürzt gefallene Schlagworte (Rapallo: Hinweis auf 1922), sondern es werden auch weitere Sacherläuterungen gegeben, gelegentlich auch Hinweise auf bereits erschienene Standardwerke. Das sprengt potenziell den Rahmen der Edition.
Es ist verdienstvoll, wenn dem Abkürzungsfimmel etwa durch jeweilige Erläuterungen nachgeholfen wird, welcher Mensch sich hinter D 2 verbarg, aber die unzähligen Male, in denen "Chef BK" mit Bundesminister Schäuble aufgelöst wird, könnte man sich mutmaßlich sparen. Eine andere Herausforderung stellt es dar, dass es bei längeren Vorgängen oft nicht ein "definitives" Dokument gibt, sondern mit einem Dokument ein ganzer Entscheidungsprozess wenigstens mit Verweis auf andere Quellen angedeutet wird. Früher hatte man bei länger dauernden Vorgängen am Ende angemerkt, mit welchem Dokument der Edition das Thema weiterging - das könnte man wieder machen. Jedenfalls steckt im Anmerkungsapparat eine beträchtliche Mühe und die zentrale Forschungsleistung, bei der das "zu viel" und "zu wenig" jeweils schwer abzuwiegen waren.
Eine kleine Zahl von interessanten Dokumenten zumeist anderer Behörden wie etwa von Geheimdiensten wurden aus Sicherheitsgründen nicht freigegeben. Dafür mag es gute Gründe geben. Man sollte jedoch künftig anstreben, solche Dokumente zumindest zu benennen, wie der Rezensent aus anderen Erfahrungen mit solchen Quellen dringend anraten würde. Darunter könnten sich auch Politikergespräche befinden, von deren Existenz man wenigstens gern etwas wüsste. Als Mitterrand einen Staatsbesuch machte, wird hier nur der Reiseverlauf mit Reden etwa summiert (Nr. 294). Gab es keine vertraulichen Gespräche? Mag sein, denn dazu fanden sich gerade 1987 viele Gelegenheiten. Aber dann: In Nr. 147 heißt es, die beiden genannten Politiker setzten ein Gespräch vom Vorabend fort, welches?
Noch eine letzte Anregung sei gegeben. Anders als ein Rezensent wird kaum ein Nutzer die Edition durchgängig lesen, sondern vom umfangreichen Register am Ende ausgehen, das 160 Seiten umfasst. Vorzüglich! Am Anfang stehen jedoch, wie seit Jahrzehnten üblich jedoch Regesten der 381 Dokumente auf 55 Seiten. Ausgezeichnet gearbeitet auch diese - aber genau die sind überflüssig und man sollte sie sich künftig sparen. Der Editionsumfang droht aus dem Leim zu geraten.
Jost Dülffer