Hans Günter Hockerts / Günther Schulz (Hgg.): Der "Rheinische Kapitalismus" in der Ära Adenauer (= Rhöndorfer Gespräche; Bd. 26), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2016, 211 S., ISBN 978-3-506-78270-0, EUR 29,90
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Der "Rheinische Kapitalismus" ist Geschichte. Das jedenfalls glaubten viele, die sich seit Anfang der 1990er Jahre an der Begriffsdebatte über den "Standort Deutschland" beteiligten. Das vermeintliche Übermaß kooperativer Arbeitsbeziehungen behindere die globale Wettbewerbsfähigkeit und habe zu einem Übermaß sozialstaatlicher Regulierung geführt. "Rheinischer Kapitalismus" - das klang in den Ohren neoliberaler Reformer nach behäbiger Zufriedenheit der Gestrigen, als in Bonn noch fromme Herz-Jesu-Katholiken das Heft des Handelns in den Händen hielten.
Den Begriff eingeführt hatte 1991 ursprünglich der französische Ökonom Michael Albert, dessen Fluchtpunkt ein ganz anderer war. Er sah im "Rheinischen Kapitalismus", der eben keineswegs nur "rheinisch" war, sondern weite Teile Kontinental- und Nordeuropas ebenso umfasste wie Japan, den Gegenentwurf zum "neo-amerikanischen Modell", das sich nach dem Zusammenbruch des Kommunismus allenthalben - von Polen bis nach Chile - auf dem Vormarsch befunden habe. Natürlich: Auch die Mischung aus sozialpartnerschaftlichem und sozialstaatlichem Interessenausgleich habe ihre Ermattungserscheinungen. Aber wegen der ökonomischen Kaltherzigkeit und der Übermacht der Aktionäre gegenüber dem Produktionsfaktor Arbeit waren Alberts Sympathien doch klar vergeben.
Der Begriff des "Rheinischen Kapitalismus", der im Mittelpunkt der 26. Rhöndorfer Gespräche stand, und dessen Ergebnisse Hans Günter Hockerts und Günther Schulz in einem konzisen Sammelband präsentieren, ist also zugleich politisch-ökonomischer Kampfbegriff und analytisches Konzept. Das hat seinen großen Reiz, birgt aber, wie auch die Herausgeber in ihrer Einleitung formulieren, manches Problem. Im Kern sind es fünf wesentliche Merkmale, die den Begriff strukturieren: er beschreibt erstens "ein Netzwerk aus wechselseitigen Kapitalbeteiligungen und Personalverflechtungen zwischen industriellen Großunternehmen, Banken und Versicherungskonzernen" (12), zweitens die spezifische Form der Unternehmensfinanzierung, bei der die Hausbanken und nicht die Kapitalmärkte bestimmend sind; drittens Arbeitsbeziehungen, die durch ein hohes Maß der Verrechtlichung, durch kooperative Formen der Konsensfindung und das hohe Gut der Tarifautonomie bestimmt sind; viertens tripartistische Formen des Interessenausgleichs, bei dem der Staat moderierend wirkt und dabei auch das Prinzip der dualen Ausbildung unterstützt. Der ökonomische Erfolg dieses Modells basiert fünftens auf einer starken Exportorientierung qualitativ hochwertiger Produkte und weniger auf fordistischer Massenproduktion.
Schon diese Merkmale sind keineswegs unumstritten, aber sie sind doch ein wichtiger Hinweis darauf, dass die Debatte über den Charakter des "Rheinischen Kapitalismus" und damit auch über die analytische Reichweite eines solchen Zugriffs dabei helfen kann, jene inzwischen so vielfältig gewordene Suche nach den "Varieties of Capitalism" noch schärfer zu konturieren. Unterschiedliche Zugriffe sind dabei denkbar, und der Band tut gut daran, einmal nicht nur nach den "Deutungsmustern" des Kapitalismus zu fragen, sondern sich auf die politik-ökonomische Dimension der jungen bundesrepublikanischen Wirtschaftsordnung zu konzentrieren. Schwerpunkt beinahe aller Beiträge sind deshalb die 1950er Jahre. Im Zentrum stehen Untersuchungen, die sich mit dem Kartellrecht (Jan-Otmar Hesse), mit der Bedeutung der Industrie- und Handelskammern (Boris Gehlen), der Bundeshandwerkerordnung (Christoph Boyer), der Kreditwirtschaft (Ralf Ahrens), der Unternehmensfinanzierung (Friederike Sattler), der Rolle der Gewerkschaften (Wolfgang Schroeder) oder den unterschiedlichen Versicherungskonzernen (Christopher Kopper) beschäftigen. Die Beiträge diskutieren die verschiedenen Einflussfaktoren, die das bundesrepublikanische Modell der "Sozialen Marktwirtschaft" prägten, neben der Rolle der amerikanischen Besatzungsmacht die Bedeutung allen voran der katholischen Soziallehre und der protestantischen Ordoliberalen sowie die "reaktivierten Traditionsbestände" der deutschen Wirtschaftsverfassung.
Eindringlich und überzeugend argumentiert beispielsweise Jan-Otmar Hesse gegen die lange Zeit dominierende Annahme, dass sich das Gesetz gegen die Wettbewerbsbeschränkung aus dem Jahr 1957 als Beleg für eine Fortexistenz einer korporatistischen Wirtschaftsordnung lesen lasse. Er verweist mit guten Gründen auf die veränderten wirtschaftstheoretischen Prämissen, die sich gegen das traditionelle Kartelldenken wandten, und macht deutlich, dass diejenigen, die lange die treibenden Kräfte des Kartelldenkens waren, nämlich die "alte Schwerindustrie", zunehmend an politischem Einfluss verloren. Für die exportorientierte deutsche Wirtschaft jedenfalls schienen nationale Kartelle keine adäquate Antwort auf die Herausforderungen internationaler Konkurrenz zu bieten.
Wie sehr der "Rheinische Kapitalismus" aber als eine Form der spezifischen, gerade auch innerbetrieblichen Lernerfahrung geschrieben werden muss, wird insbesondere an Wolfgang Schroeders instruktivem Beitrag deutlich. Schroeder beschreibt die Geschichte der Gewerkschaften in der Ära Adenauer als eine Form des "Abschiednehmens". Die Gewerkschaften - wie die Arbeitgeber auch - brauchten Zeit, die neuen Spielregeln der Konfliktaustragung zu lernen. Und die - noch lange nicht geschriebene - Geschichte der Streiks im Rheinischen Kapitalismus ist ein Hinweis darauf, wie mühsam die Aneignung der neuen sozial- und organisationspolitischen Instrumentarien war. Dieser Lernprozess war begleitet von einem generationellen und machtpolitischen Wandel, innerhalb dessen sich im einheitsgewerkschaftlichen Verschmelzungsprozess die weniger revolutionären Kräfte durchzusetzen vermochten und ihre kommunistischen "Gegner" und "Kollegen" an den Rand drängten.
Die Geschichte des "Rheinischen Kapitalismus" verweist damit also auch auf jene spezifische "antikommunistische" Konfliktgeschichte der "alten" Bundesrepublik im Spannungsfeld des "Kalten Krieges". Konrad Adenauer war sich dessen, wie Hans Günter Hockerts in seinem abschließenden Beitrag präzise darlegt, sehr genau bewusst. "Rheinisch" hätte er für sich selbst sicher gelten lassen, aber die Bezeichnung als "Kapitalist" lehnte er ab. Das lag nicht nur an den sozialkatholischen Spurenelementen seines Denkens, sondern auch daran, dass der "Kapitalismus" im Systemwettstreit zwischen "Ost" und "West" immer weiter polarisierend aufgeladen wurde. Da las sich die kongeniale Erfindung der "Sozialen Marktwirtschaft" doch besser. Adenauer jedenfalls, das macht Hockerts deutlich, engagierte sich - mit einer gehörigem Portion machtpolitischem Pragmatismus - für jene Ordnungsideen und Arrangements, für die der Begriff des "Rheinischen Kapitalismus" steht: für den "Kompromiss zwischen protestantischem Wirtschaftsbürgertum und Sozialkatholizismus, die korporativen Elemente, die Institutionalisierung widerstreitender Interessen mit dem Ziel von Konsens und Kooperation, das Vernetzungsprinzip der Deutschland AG einschließlich ihres illegitimen Vertreters namens 'Kölscher Klüngel' und für die Sozialversicherung als Basisinstitution der sozialpolitischen Abfederung marktwirtschaftlicher Prozesse" (201).
Der Band lädt dazu ein, noch einmal über die Gründungsachsen der Bundesrepublik nachzudenken, auch weil er hilft, Wirtschafts-, Politik- und Religionsgeschichte zusammenzudenken. Es könnte lohnend sein, die Frage nach der Praxistauglichkeit dieser Gründungsachsen auch für die spätere Bundesrepublik und die Geschichte der Berliner Republik zu stellen. Man würde vermutlich staunen, wohin uns die alten Ordnungsideen des Rheinischen Kapitalismus beim "Wahl-O-Mat 2018" führen würden. Einen Versuch wäre es wert!
Dietmar Süß