Andrew Dowling: The Rise of Catalan Independence. Spain's Territorial Crisis (= Federalism Studies), London / New York: Routledge 2018, VIII + 194 S., ISBN 978-1-4724-5984-8, GBP 29,99
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Raphael Minder: The Struggle for Catalonia. Rebel Politicis in Spain, London: Hurst Publishers 2017, xviii + 355 S., ISBN 978-1-8490-4803-3, GBP 15,99
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Jean-Numa Ducange: La République ensanglantée. Berlin, Vienne : aux sources du nazisme, Paris: Armand Colin 2022
Klaus-Jürgen Nagel / Stephan Rixen (eds.): Catalonia in Spain and Europe. Is There a Way to Independence?, Baden-Baden: NOMOS 2015
Andreas Jüngling: Alternative Außenpolitik. Der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund der DDR und Franco-Spanien (1947 bis 1975), Berlin: Verlag Dreiviertelhaus 2017
Spätestens seit den Ereignissen im letzten Quartal 2017 um die Unabhängigkeit Kataloniens und die daraufhin von Seiten der spanischen Regierung ergriffenen Maßnahmen ist das zugrundeliegende Problem ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt, nachdem es zuvor im Wesentlichen Spezialisten beschäftigte. Durch die Flucht einer Reihe von Politikerinnen und Politikern der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung ins europäische Ausland ist es zu einem Gegenstand geworden, der in einigen Ländern, darunter der Bundesrepublik, die Gerichte beschäftigt und ein entsprechendes Medienecho hervorgerufen hat. Neben einer kaum noch überschaubaren Zahl von Publikationen in Spanisch oder Katalanisch liegen dazu inzwischen auch Buchveröffentlichungen in englischer Sprache vor, während sich deutschsprachige Verlage bisher noch zurückhalten.
Andrew Dowling, Senior Lecturer in Hispanic Studies an der Universität Cardiff, hatte sich in einer ersten, bereits in den sehepunkten besprochenen Veröffentlichung mit der Wiederbelebung des katalanischen Nationalismus unter der Diktatur Francos beschäftigt. [1] Der von diesem 1936 mit initiierte Putsch und der anschließende Bürgerkrieg hatten ja nicht zuletzt das Ziel, die Autonomiebestrebungen der nicht-spanischen Nationalitäten zu zerschlagen. Doch trotz massiver Repression kam es schließlich insbesondere in Katalonien im Widerstand gegen die Diktatur zur Rekonstruktion einer breiten und vielfältigen nationalen Bewegung, an deren Ende eine, wenn auch in der konkreten Ausgestaltung immer kontroverse, Autonomie stand. War dabei jahrzehntelang eine Bewegung für die Unabhängigkeit marginal, so verbreiterte sich ihre Basis schlagartig im Gefolge der Finanzkrise und vor allem angesichts einer Reihe vom spanischen Verfassungsgericht 2010 verfügten Einschränkungen eines vier Jahre zuvor in Katalonien durch Volksentscheid angenommenen neuen Autonomiestatuts, einer Art Landesverfassung. Die Unabhängigkeitsbewegung erreichte nun fast die Hälfte der Einwohnerschaft Kataloniens.
Hier setzt Dowlings neues Buch an, in dem er die Analyse der "territorialen Krise Spaniens" - so der Untertitel - bis in die Gegenwart fortführt. Es handelt sich um eine selbständige Darstellung im Rahmen einer Föderalismus-Studien gewidmeten Reihe, die nicht nur die aktuelle Entwicklung der letzten Jahre untersucht, sondern sich um eine Erklärung der gegenwärtigen Situation aus der Verknüpfung der lang-, mittel- und kurzfristigen Faktoren bemüht, die zusammengenommen den "perfect storm" in Katalonien produzierten. (5)
Entsprechend werden im ersten und zweiten Kapitel die historischen Grundlagen für die Entwicklung des katalanischen Nationalismus und die Bedingungsfaktoren für die katalanische Identitätsbildung wie Sprache oder Einwanderung aus den nicht katalanisch sprechenden Regionen Spaniens analysiert. Mit dem Ende des Frankismus und der Etablierung einer Autonomie schien ein modus vivendi gefunden zu sein, dessen Wortführer vor allem in dem bürgerlichen Parteienbündnis Convergència i Unió zu finden waren. Es bestimmte jahrzehntelang das autonome Katalonien und kämpfte gegenüber den jeweiligen Madrider Regierungen um weitergehende Zugeständnisse. Dieses Modell geriet allerdings schon im Laufe der 1990er Jahre in die Krise. Es kam, nicht zuletzt aufgrund der neoliberalen Wirtschaftspolitik, zu Wahlsiegen eines linken Bündnisses, sowie zu einem Aufstieg nunmehr offen die Unabhängigkeit fordernder Kräfte. Daher eröffnete die spanische Rechte um die Volkspartei, die in Madrid von 2004 bis 2011 gegenüber den Sozialisten in der Opposition war, eine Offensive gegen Katalonien im Zusammenhang mit der bereits erwähnten Neufassung des Statuts, unter Ausnutzung der traditionellen Mobilisierungsfähigkeit einer solchen Position im "Rest" Spaniens.
Detailliert zeichnet Dowling nach, wie dies 2010/11 zur Herausbildung einer breiten Unabhängigkeitsbewegung vor dem Hintergrund der mit voller Wucht einsetzenden Wirtschaftskrise erfolgte. Sie war nun nicht mehr durch irgendeine der traditionellen politischen Kräfte getragen, sondern durch eine Reihe zivilgesellschaftlicher Organisationen, die auf die Parteien, zumindest einen Teil von ihnen, einwirkten. Gleichzeitig lehnte die neue spanische Regierung unter Mariano Rajoy jedes Zugeständnis ab und schlug eine Politik des Aussitzens ein. Das gipfelte schließlich in den katalanischen Bemühungen um ein Referendum über die Unabhängigkeit nach dem Vorbild Schottlands oder Quebecs und eine Unabhängigkeitsbewegung Ende 2017, was hier allerdings nicht mehr aufgenommen werden konnte. Ein abschließendes Kapitel analysiert ausführlich die ökonomischen Faktoren, etwa die Auseinandersetzung um die Steueraufteilung zwischen Madrid und Barcelona und die Entwicklung der wirtschaftlichen Disparitäten zwischen den verschiedenen Regionen Spaniens.
Dowlings Studie ist keine direkte Chronik der Ereignisse, sondern im Wesentlichen eine Analyse der Faktoren, die diese politische Krise bestimmen. In seinen Schlussfolgerungen und vor allem in der Einschätzung der zukünftigen Entwicklung hält er sich zurück. Ein drastisches Zurückgehen des Unabhängigkeitsbestrebens hält er allerdings für wenig wahrscheinlich, auch wenn dessen Wirkkraft wie Einfluss zu einem guten Teil durch das weitere Verhalten Madrids bestimmt wird - nun durch eine plötzlich von den Sozialisten geführte Regierung, was bei Abschluss seines Buchs keineswegs wahrscheinlich schien.
Ist Dowlings kompakte Arbeit eine akademische Studie, die auf der minutiösen Auswertung einer umfangreichen Forschungsliteratur in mehreren Sprachen beruht, so ist Raphael Minders Ansatz der eines Zeitungsberichterstatters. Entsprechend zielt er auf ein breiteres Publikum. Dem Buch liegen vor allem zahlreiche Interviews - über 200 - mit den Protagonistinnen und Protagonisten des gesamten Prozesses im Laufe der Jahre zugrunde, und zwar nicht nur mit "führenden Repräsentanten der Gesellschaft", worauf er Wert legt. Minder ist seit 2010 Korrespondent der New York Times für die iberische Halbinsel in Madrid. Als Schweizer, der zudem noch aus Genf, der internationalsten Stadt des Landes, kommt, ist er bestens mit den Problemen einer multinationalen Gesellschaft und den damit zusammenhängenden Konflikten vertraut. Das dürfte ihn auch dazu geführt haben, das Gespräch in Katalonien zu suchen, statt im Wesentlichen von der hauptstädtischen Warte aus zu berichten, wie man das oft deutschen Medienvertretern anmerkt.
So ist sein Buch ein informativer Durchgang durch die katalanische Situation seit dem Einsetzen der wirtschaftlichen und politischen Krise um 2010. Beginnend mit den Massenmobilisierungen aus der Zivilgesellschaft gegen das Vorgehen des Verfassungsgerichts und gegen die harte Austeritätspolitik, die zur Forderung nach Unabhängigkeit führten, verfolgt Minder dies über die verschiedenen Bereiche, in denen sich die Auseinandersetzung darstellte. Dazu gehören die Einstellung und Auswirkung auf die Wirtschaft, die Rolle der Immigration in Katalonien, die herausragende Stellung der Metropole Barcelona, die endemische Korruption in der Politik auf allen Seiten sowie ein Vergleich mit dem Baskenland und damit der Versuch, sich der Frage anzunähern, warum dort der Separatismus zu einem Teil gewaltsam betrieben wurde, anders als (bisher?) in Katalonien. Sein Porträt der politischen Situation endet mit scheinbar sachfremden Aspekten: einem - wohl unvermeidlichen - Abschnitt zum Fußball, was vor allem den FC Barcelona betrifft, aber auch zur katalanischen Küche eines Ferran Adrià, Santi Santamaria oder der Roca-Brüder, durchaus keine unpolitische Frage. [2]
Minder ist durchaus kein Verfechter der katalanischen Unabhängigkeit. Er hält sie weder für unvermeidlich noch für ein Luftschloss. Insbesondere die jüngste Geschichte sei durch völlig überraschende Wendungen gekennzeichnet. Was er auf jeden Fall feststellt, ist ein Unwillen auf Seiten Madrids - verkörpert in der jüngst abgewählten Regierung von Mariano Rajoy -, auf die Katalanen zuzugehen und sich in ihre Situation hineinzuversetzen. Ob das hingegen der neuen Regierung von Pedro Sánchez gelingen wird, bleibt abzuwarten.
Beide Veröffentlichungen zeichnen jedenfalls die Dramatik der bis jetzt ungelösten Situation nach und liefern von unterschiedlichen Warten aus - die eine mehr im Sinne einer wissenschaftlichen Durchdringung, die andere in einer für Nicht-Spezialisten geschriebenen Reportage - materialreiche Grundlagen für deren Verständnis.
Anmerkungen:
[1] Andrew Dowling: Catalonia since the Spanish Civil War. Reconstructing the Nation, Brighton 2013. Vgl. dazu meine Rezension, in: sehepunkte 13 (2013), Nr. 11 [15.11.2013], URL: http://www.sehepunkte.de/2013/11/23275.html.
[2] Worauf erst jüngst in der FAZ Jakob Strobel y Serra ("Dann doch lieber Feinschmecker als Fanatiker", 8.7.2018) in einer Reportage über zwei Seiten hingewiesen hat.
Reiner Tosstorff