Andrea Falcon / David Lefebvre (eds.): Aristotle's Generation of Animals. A Critical Guide (= Cambridge Critical Guides), Cambridge: Cambridge University Press 2018, XVI + 289 S., eine Tabl., 3 s/w-Abb., ISBN 978-1-107-13293-1, GBP 75,00
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Aristoteles' De generatione animalium hat gerade Konjunktur: 2014 erschien eine neue Übersetzung der Schrift durch David Lefebvre in der französischen Ausgabe des gesammelten aristotelischen Œuvres; [1] im Mai 2017 fand in Tübingen eine internationale Tagung zu diesem Werk statt; [2] in einem Projekt der Marburger Gräzistik unter Leitung von Prof. Dr. Sabine Föllinger wird es zum ersten Mal in Hinblick auf seine literarischen Aspekte systematisch untersucht. [3] Der hier zu rezensierende Band, der hauptsächlich auf eine internationale Tagung zurückgeht (xiii), lässt sich auch in diese Reihe einordnen. Er stellt ein äußerst interessantes und anregendes Ergebnis des sogenannten biological turn in der Aristotelesforschung dar, der seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts vor allem dank der Arbeiten Wolfgang Kullmanns, David M. Balmes, Allan Gotthelfs und James G. Lennox' vollzogen wurde.
Der Band zeichnet sich durch eine lesefreundliche Struktur aus, die sowohl eine durchgehende als auch eine interessengeleitete Lektüre ermöglicht. Einerseits bilden die 13 versammelten Aufsätze zwar keine homogene Einheit, doch analysieren sie in ihrer Gesamtheit die ganze Schrift, so dass der Eindruck entsteht, der Band sei ein durchgehender thematischer Kommentar zum Werk. Andererseits bestehen durchaus Diskrepanzen unter den Autoren, so dass jeder Essay zugleich eine unabhängige Untersuchung zu einem bestimmten Thema darstellt und als mehr oder minder implizit kritische Antwort auf einigen Thesen, die in anderen Papers dargelegt werden, verstanden werden kann.
So befasst sich die erste Sektion mit der Frage der Einheit von De generatione animalium: Obwohl die drei Beiträge von Allan Gotthelf und Andrea Falcon, David Lefebvre und Mariska Leunissen von einer strengen inneren Kohärenz und inhaltlichen Einheit der Schrift ausgehen, fokussieren sie je eine unterschiedliche Perspektive (innere Logik der aristotelischen Intention; Verhältnis zu De partibus animalium und zum epistemischen Projekt des Stagiriten; aristotelisches Interesse an der chronologischen Entwicklung des Embryos vom Augenblick der Entstehung des Samens im Körper der Eltern bis zur Entwicklung des geborenen Lebewesens). Dabei wird deutlich, dass diese drei Interpretationen nicht als bloße Ergänzung zueinander konzipiert sind, sondern durchaus miteinander kollidieren, wie David Lefebvre explizit behauptet (54). Auch der Aufsatz von Gregory Salmieri zur embryologischen Argumentation und zum Problem des eîdos in Aristoteles' Biologie bietet eine implizite Kritik der Deutung, die Jessica Gelber in ihrem Beitrag zur Behandlung des Weiblichen in der Schrift darlegt.
Diese Diskrepanzen stellen indes eine der großen Stärken des Bandes dar. Denn die Beiträge präsentieren damit einen polyphonen Zugang zum Text des Stagiriten, der ermöglicht, die dem Werk innewohnenden Problematiken deutlicher zu erfassen. Darüber hinaus kompensiert diese bewusst eingesetzte Vielstimmigkeit eine der Schwäche des Bandes, nämlich die methodische Eintönigkeit der Analysen. Denn die Beiträge bevorzugen insgesamt einen analytischen Zugang zum aristotelischen Text, während man eine historische Perspektive und einen Fokus auf die stilistischen bzw. genuin philologischen Probleme oft vermisst.
Ich möchte etwas näher auf drei Beiträge eingehen, die aus meiner Sicht besonders erhellend bzw. inspirierend sind.
Pierre Pellegrins Essay "What is Aristotle's Generation of Animals About?" (77-88) argumentiert plausibel, dass De generatione animalium als Untersuchung der nutritiven Seele aufgefasst werden muss. Zahlreiche Passagen legen nahe, so Pellegrin, dass Aristoteles davon ausgeht, dass die Reproduktion eine für Tiere spezifische Variante der Basisfunktion der nutritiven Seele, Nahrung aufzunehmen und dadurch das eigene Wachsen und Weiterleben zu sichern, darstelle. Dies zeige sich sowohl in der Grundannahme des Aristoteles, dass die Entstehung der Tiere auf die Verknüpfung von Warmem und Kaltem zurückzuführen ist, als auch in seiner Theorie der Spermatogenese, da sowohl der männliche Samen als auch das weiblichen Menstruationsblut auf der Verkochung des Blutes, das wiederum aus der Verarbeitung der Nahrung entsteht, basieren.
Eine Brücke zur modernen Biologie schlägt Devin Henry in seinem Beitrag "Aristotle on Epigenesis: Two Senses of Epigenesis" (89-107). Ausgehend von einer zeitgenössischen Definition von Epigenese, wonach Epigenese sowohl die Tatsache bezeichnet, dass bei einem Embryo Gestalt und Strukturen sich aus einer unorganisierten, amorphen Maße entfalten (Typ 1), als auch die Annahme, dass die embryonale Entwicklung nicht genotypisch prädeterminiert ist, sondern auch auf interne sowie externe Anreize in Echtzeit reagiert (Typ 2), weist Henry überzeugend Folgendes nach: Aristoteles ist zwar Vertreter einer epigenetischen Theorie im Sinne von Typ 1, seine Aussagen ermöglichen indes nicht, bei ihm auch nur Ansätze von Typ 2 zu erkennen. Insofern besteht ein unüberbrückbarer Unterschied zwischen der aristotelischen und der heutigen Biologie (In dieser Hinsicht weiterführend ist auch der Aufsatz von Jocelyn Groissard "Heredity and Sterility in Aristotle's Generation of Animals", 153-170). In diesem Zusammenhang wäre es jedoch nützlich, diesen Unterschied aus einer wissenschaftshistorischen Perspektive eingehender zu untersuchen und nach den theoretischen Voraussetzungen und methodischen Grundannahmen zu fragen, die für diese Differenz verantwortlich sein können.
Cristina Cerami bietet in ihrem Beitrag "Function and Instrument. Toward a new criterion of the scale of being in Aristotle's Generation of Animals" (130-149) eine neue Interpretation der aristotelischen scala naturae in De generatione animalium. Obwohl das Kriterium, auf dem diese basiert, scheinbar auf die mehr oder weniger starke Teilhabe der Organismen am Prinzip der Wärme zurückzuführen ist, plädiert Cerami dafür, das Wärmeprinzip nur als biologische, instrumentelle Verwirklichung eines anderen, allgemeineren Prinzips anzusehen, des Prinzips der Selbsterhaltung. Dieses sei wiederum nur die für den Bereich der Lebewesen spezifische Ausführung des noch allgemeineren Prinzips des Bestehens in Aktualität, auf dem das gesamte aristotelische System fußt. Insofern ließe sich die scala naturae in De generatione animalium als Spezialfall der im aristotelischen System allgemeingültigen "scale of perfection" im biologischen Bereich der sublunaren Welt auffassen.
Insgesamt bietet der Sammelband einen hervorragenden Überblick über Themen und Probleme, mit denen der Leser von De generatione animalium konfrontiert wird, und präsentiert bewusst miteinander konkurrierende Interpretationen. Die Beiträge zeichnen sich durch ihre analytische Vorgehensweise aus. Es ist nur zu wünschen, dass diese in Zukunft um die wissenschaftshistorische sowie um die literarische Perspektive erweitert wird, damit die Schrift nicht mehr nur für Spezialisten von Interesse sein wird.
Anmerkungen:
[1] Aristote, Œuvres complètes, sous la direction de Pierre Pellegrin, Paris: Flammarion 2014, 1575-1730.
[2] Aristotle on Living Beings. The Generation of Animals. International Symposium, Tübingen, 3-5 May 2017, organized by PD Dr. phil. habil. Ina Goy.
[3] Aristoteles als Autor. Eine Analyse seines 'epistemischen Schreibens' in der biologischen Schrift De generatione animalium (DFG-Projektnummer: 341572073). Im Rahmen dieses Projekts fand in Marburg vom 22. bis zum 24.08.2018 eine internationale, interdisziplinäre Tagung statt. https://www.uni-marburg.de/fb10/klassphil/graezprojekt.
Diego de Brasi