Norman Weiß / Nikolas Dörr (Hgg.): Die Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen (DGVN). Geschichte, Organisation und politisches Wirken, 1952 - 2017 (= The United Nations and Global Change; Bd. 14), Baden-Baden: NOMOS 2017, 243 S., 6 Farbabb., 3 Tbl., ISBN 978-3-8487-4559-3, EUR 34,00
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In Zeiten, in denen Politikerinnen und Politiker offiziell das Ende des "geordneten Multilateralismus" [1] beschwören, Problemfelder in nationale Container verpacken sowie Institutionen wie die Europäische Union oder die Vereinten Nationen durch ihr Sprechen und Tun marginalisieren, ist der gesellschaftliche Bedarf an Fürsprache sehr groß. Eine zivilgesellschaftliche Gruppe, die sich dieser Aufgabe bereits seit 1952 verschreibt, ist die Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen, kurz DGVN. Laut ihrer Satzung verfolgt sie als Ziele, die deutsche Bevölkerung mit Tätigkeiten der Vereinten Nationen (UN) vertraut zu machen sowie für zwischenstaatliche Beziehungen sowie Außen- und Weltwirtschaftspolitik zu sensibilisieren. Neben der politischen Information und Bildung geht es den Mitgliedern ebenfalls um politische Einflussnahme. Als Vorfeldorganisation betrieb und betreibt die DGVN eine überparteiliche und kritisch-konstruktive Lobbyarbeit "für das Thema VN in Politik, Medien, Wissenschaft und Bildung" (9). Problematisch dabei ist, wie auch das Autorenteam der Festschrift zum 65-jährigen Jubiläum betont, dass die Organisation trotz ihres langjährigen Bestehens von der Öffentlichkeit und der Politik wenig wahrgenommen wird.
Auch für die Wissenschaft muss dieses Aufmerksamkeitsdefizit konstatiert werden, denn die DGVN und ihre Arbeit sind bisher weitestgehend unerforscht. Somit beseitigt der vorliegende Sammelband ein Desiderat, da er sich der Organisation mittels unterschiedlicher Zugänge und aus teils subjektiven Perspektiven nähert. Im Sinne einer Bestandsaufnahme gibt er Einblick in die Geschichte der Organisation, klärt über deren formale Strukturen und die Vernetzung auf, skizziert und evaluiert die Mittel des politischen Engagements sowie der Öffentlichkeitsarbeit, gibt Auskunft über das Verhältnis der DGVN zur UN-Forschung in Deutschland und umreißt die Genese der inzwischen zentralen Jugendarbeit.
Die Beiträge von Klaus Hüfner, Philippe Carasco und Helmut Volger widmen sich vor allem der Geschichte, den Arbeitsschwerpunkten sowie der Struktur der DGVN. Leider bleibt Hüfners Schilderung des Gründungsmoments recht skizzenhaft. Ohne den Quellenkorpus beurteilen zu können, hätte der detaillierte Blick auf die Gründungsmitglieder und die existierenden Netzwerke vermutlich interessante Aspekte offenbart. Wie die Autoren betonen, seien persönliche Beziehungen und politische Stellungnahmen insbesondere in der "Blütezeit" (73) während der 1950er und 1960er Jahre immens wichtig gewesen, um die gesellschaftspolitischen Aufgaben wahrzunehmen. Die Rahmenbedingungen wurden aber zunehmend schwieriger, und ein knappes Budget erschwerte überdies kontinuierlich die Verfolgung der selbstgewählten Ziele. Jenseits dieser organisationsgeschichtlichen Aspekte beleuchten die Autoren die Verbindungen zu anderen (inter-)nationalen Organisationen. So verfügt die DGVN durch ihre Mitgliedschaft in der World Federation of United Nations Associations (WFUNA) mittlerweile über einen Beraterstatus und Antragsrecht im Wirtschafts- und Sozialrat der UN und somit potentiell über direkten Einfluss auf dieser Ebene. Auf nationaler Ebene sieht Volger die Stärke der Organisation heute vorrangig in der Formulierung von Ziel- und Reformkatalogen. Sie schaffe einerseits kritische Maßstäbe zur Beurteilung der deutschen UN-Politik und stärke andererseits die Präsenz von UN-Themen im Parlament.
Ihre informationsvermittelnde Funktion nimmt die DGVN somit zwar wahr, jedoch ohne dabei eigenständige Forschung betreiben oder initiieren zu können. Nichtsdestotrotz versteht sie sich als institutionelles Zentrum der UN-Forschung in Deutschland. Dieses Selbstverständnis hinterfragt Christian Stock in seinem Beitrag. Einleitend führt er an, dass UN-Forschung keine eigenständige Disziplin sei, jedoch recht aktiv in einzelnen Disziplinen betrieben werde. Mit dem Blick in die Forschungslandschaft stellt er fest, dass vor allem in Rechts-, Politik- und Wirtschaftswissenschaften UN-Themen erforscht werden. Erstaunlicherweise werden Studien der Zeitgeschichte vom Autor nicht berücksichtigt. [2] Auch seine Bestandsaufnahme der verbandseigenen Publikationen (Vereinte Nation; Blaue Reihe) zeigt, dass diese zwar thematisch breit gestaltet sind, aber wenige historiographische Studien enthalten. Die eigentliche Forschungstätigkeit der DGVN beschränke sich, so Stock, auf kleinere Projekte sowie den etablierten Forschungsrat. Darüber hinaus fungiere sie als Plattform für wissenschaftlichen Austausch und trage zur Netzwerkbildung bei.
Netzwerkarbeit betreibt die DGVN auch in der Jugendarbeit. Wie Hannah Birkenkötter, Heidrun Fritze und Ann-Christin Niepelt schildern, geht es der Organisation heute vor allem darum eine Politik unter Einbeziehung von Jugendlichen zu fördern. Projekte wie "UN im Klassenzimmer" sowie die zahlreichen unterstützten "Model United Nations"-Simulationen sollen ein positives Bild der UN vermitteln und Interesse bei Jugendlichen wecken. Doch nicht nur das Aktivieren potentieller, sondern auch die Bündelung bereits bestehender Kapazitäten gilt es zu gewährleisten. So votieren die Autorinnen für eine stärkere Unterstützung der DGVN bei der Institutionalisierung nationaler und internationaler Jugendnetzwerke.
Zielgruppenorientierter sollte auch die Öffentlichkeitsarbeit der DGVN werden, wie Rainer Lang in seinem Beitrag konstatiert. Die Interaktion mit der Öffentlichkeit und den Medien müsse intensiviert werden. Nur die Interessierten über die diversen Fachpublikationen zu erreichen, sei nicht genug. Jedoch gelte es, gerade in Zeiten der "informativen Verunsicherung" (216) mit Seriosität und angepassten Instrumenten zu arbeiten.
In der Summe führt der Band umfassend in die (aktuelle) Arbeit der DGVN ein und leistet einen Beitrag zur Evaluation der Organisation. Mitunter gleitet er jedoch in eine trockene Verbandsgeschichte ab. Dass so wenige Zeithistorikerinnen und Zeithistoriker mitgeschrieben haben, mag dafür eine Erklärung sein. Wie oben bereits angedeutet, scheint ein genauerer Blick auf einzelne historische Episoden vielversprechend. Hier verbirgt sich der Aufruf an die eigene Zunft, noch stärker zivilgesellschaftliche Akteure wie die DGVN - oder im Sinne einer "geteilten Geschichte" [3] ihr Pendant in der DDR (Deutsche Liga für die VN) - zu untersuchen.
Mit Verweis auf das Eingangszitat bleibt der DGVN unabhängig von ihrem Selbstverständnis nur zu wünschen, dass sich mehr "liebenswerte Idealisten" (64) für die Belange der UN einsetzen und den Wert internationaler Politik betonen.
Anmerkungen:
[1] So der bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU) am 14.06.2018, vgl. https://www.sueddeutsche.de/politik/unionsstreit-ii-allianz-der-zerstoerer-1.4015484.
[2] Vgl. u.a. Daniel Maul: Menschenrechte, Sozialpolitik und Dekolonisation. Die Internationale Arbeitsorganisation (IAO) 1940-1970, Essen 2007, vgl. die Rezension in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 10 [15.10.2007], URL: http://www.sehepunkte.de/2007/10/13247.html; Jan Eckel: Die Ambivalenz des Guten. Menschenrechte in der internationalen Politik seit den 1940ern, Göttingen 2015, vgl. die Rezension in: sehepunkte 15 (2015), Nr. 1 [15.01.2015], URL: http://www.sehepunkte.de/2015/01/26103.html; Thomas Zimmer: Welt ohne Krankheit. Geschichte der internationalen Gesundheitspolitik 1940-1970, Göttingen 2017.
[3] Frank Bösch: Geteilte Geschichte. Plädoyer für eine deutsch-deutsche Perspektive auf die jüngere Zeitgeschichte, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 12 (2015), H. 1, URL: http://www.zeithistorische-forschungen.de/1-2015/id=5187, Druckausgabe: 98-114.
Steffen Fiebrig