Renate Blickle: Politische Streitkultur in Altbayern. Beiträge zur Geschichte der Grundrechte in der frühen Neuzeit (= Quellen und Forschungen zur Agrargeschichte; Bd. 58), Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2017, XII + 226 S., ISBN 978-3-11-053910-3, EUR 69,95
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Der Band fasst neun zum Teil umfänglichere Aufsätze zusammen, die Renate Blickle zwischen 1987 und 2007 zum Verhältnis von Obrigkeiten und Untertanen in Altbayern für die Zeit zwischen Spätmittelalter und Ende des Ancien Régime veröffentlich hat. Es geht in ihnen um Herrschaftsformen - zentral dabei ist die Leibeigenschaft -, aber auch und vor allem um die Rechte der Untertanen sowie die rituellen Formen, in denen sie gegenüber der herzoglichen und dann kurfürstlichen Obrigkeit in München eingeklagt wurden. Bestimmend für Möglichkeiten und Dynamik war dabei, dass die bäuerliche Bevölkerung in ihren Auseinandersetzungen mit Grund- und Gerichtsherren in der landesherrlichen Obrigkeit eine Appellationsinstanz mobilisieren konnte, die zwar nicht immer zu ihren Gunsten schlichtete oder entschied, aber jedenfalls grobe Verstöße gegen alte Rechte, Privilegien und das kodifizierte Recht der Polizeiordnungen verhindern oder mindestens abzumildern half. Insbesondere bei Klöstern - so gewinnt man den Eindruck - war die Münchner Regierung wachsam. Deutlich wird freilich auch, dass aus landesherrlicher Sicht der Grat zwischen der Wahrnehmung des Supplikatonsrechts durch "laufen gen Hof" und Rebellion sehr schmal war. Auch wenn man sich in München einer Sache der Bauern annahm, war nicht sicher, dass die Anführer protestierender Haufen nicht verhaftet und zum Teil drakonisch bestraft wurden. Die landesherrliche Obrigkeit sah ihre ordnungsgarantierende Autorität sehr schnell in grundsätzlicher Gefahr. Insbesondere der Aufstand der Bauern 1633/34, mit denen sie sich gegen eine bei der militärischen Verteidigung des Landes versagende Obrigkeit zu Wehr setzten, scheint in München ein lang nachwirkendes Trauma ausgelöst zu haben.
Es ist ein großer Vorzug dieser Aufsätze, dass sie die Gegenstände genau beobachten und sie in ihren verschiedenen Dimensionen jeweils aus Geschichten heraus zur Anschauung bringen. Dadurch entsteht tatsächlich ein sehr plastisches Bild von der "Autorität der Frühen Neuzeit", wie es in dem von Claudia Ulbrich, Michaela Hohkamp und Andrea Griesebner, den drei Herausgeberinnen, verfassten Vorwort heißt. Renate Blickle ist treffsicher in ihrer Begriffswahl und abwägend in ihrem Urteil. Man hätte sich gewünscht, dass die Beobachtungen zur politischen Kultur eines der größeren Territorien des Reiches, die hier um die Themen Freiheit, Eigentum, Nahrung entfaltet werden, in ihrem Ertrag für das Verständnis von vormoderner Staatlichkeit noch einmal auf den Punkt gebracht worden wären. Denn freilich ist es wahr, dass Freiheit auch erstritten wurde und werden musste. Die modernen Grundrechte sind nicht das Ergebnis allein von Ideengeschichte. Die "Alterität der Frühen Neuzeit" verpflichtet aber auch darauf, die Differenz zwischen einer vormodernen Freiheit und der nach 1789 nicht einzuebnen. Blickle betont selbst, dass es diskursive Verschiebungen waren, die aus der in ihren sozialen und rechtlichen Folgen nicht mehr sehr erheblichen Leibeigenschaft ab 1650 Sklaverei werden ließen.
Als die ersten der hier wieder abgedruckten Aufsätze geschrieben und gedruckt wurden, hat man sie noch als Beiträge zur "Geschichte der Agrarverfassung" rubriziert. Dieses Thema gibt es heute nicht mehr. Die Aufsätze haben gleichwohl von ihrer grundlegenden Bedeutung für die Forschung nichts eingebüßt. Das liegt an ihrem präzisen sozial- und ideengeschichtlichen Zugriff, der die Quellen aufschließt. Sie können für eine Generation von Historikern, denen die Agrarverfassung kein Gegenstand von Interesse mehr ist, eine impulsgebende Anregung sein. Deswegen ist den Herausgeberinnen, die den Band möglich gemacht haben, großer Dank abzustatten - und Renate Blickle ohnehin für ihre immer auf das Einzelne im Rahmen des Großen gerichteten Forschungen und die gleichermaßen empathischen wie analytischen Texte, die sie stets daraus gemacht hat.
Rudolf Schlögl