Peter Romijn: Der lange Krieg der Niederlande. Besatzung, Gewalt und Neuorientierung in den vierziger Jahren (= Jena Center - Vorträge und Kolloquien; Bd. 19), Göttingen: Wallstein 2017, 293 S., ISBN 978-3-8353-1813-7, EUR 15,00
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"Die niederländische Obrigkeit sieht sich gezwungen, nach Gestapo-Manier zu verfahren", vertraute der niederländische Infanterist Jacques van Doorn im Mai 1948 seinem Tagebuch an. [1] Der damals 23-Jährige hatte gerade aus vertraulichen Dokumenten erfahren, dass sich Soldaten seiner Armee in "Niederländisch-Indien" (dem heutigen Indonesien) immer wieder Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung schuldig machten. Van Doorn gehörte zu den fast 100.000 Soldaten, die zwischen 1946 und 1949 die Kontrolle über die niederländische Kolonie wiederherstellen sollten - eine umstrittene militärische Intervention, die zu gewalttätigen Auseinandersetzungen mit der indonesischen Unabhängigkeitsbewegung führte. Jacques van Doorn war nicht der einzige Soldat, der einen direkten Vergleich mit der deutschen Besatzungsherrschaft in den Niederlanden zog. Andere wiesen sogar darauf hin, dass man nach den eigenen Untaten in Indonesien nicht mehr über die deutschen Besatzer urteilen dürfe.
Peter Romijn, Forschungsdirektor am Institut für Kriegs-, Holocaust- und Genozidforschung in Amsterdam, interessiert sich für eben diese Verbindungen, "welche die Niederländer im Jahrzehnt des 'langen Krieges' zwischen ihren vergangenen Erfahrungen, ihren Zukunftserwartungen und ihrer moralischen Sinnstiftung in der Gegenwart herstellten" (9). Anstatt den Indonesienkrieg als Folge des Zweiten Weltkriegs zu betrachten, wie es bisher in der Geschichtsschreibung üblich war, konzentriert sich Romijn auf die Kontinuitäten und Zusammenhänge zwischen der deutschen Besatzung der Niederlande (1940-1945), der japanischen Besatzung Niederländisch-Indiens (1942-1945) und dem Indonesienkrieg (1945-1949). Es leuchtet ein, wenn der Historiker von einem "langen Krieg der vierziger Jahre" spricht, in dem für die Niederlande nicht nur die Existenz des Nationalstaats, sondern auch das Kolonialreich in Asien auf dem Spiel stand (7). Dabei baut Romijn konzeptuell auf Reinhart Kosellecks bekanntem Begriffspaar "Erfahrungsraum" und "Erwartungshorizont" auf, das er um den Begriff der "Sinnstiftung" ergänzt (8f.).
Romijn hat bereits zahlreiche Publikationen zum Thema Besatzung und Kollaboration im Zweiten Weltkrieg sowie zur Geschichte von Regimewechseln und zur Aufarbeitung von Kriegsverbrechen vorgelegt. Dies spürt man beim Lesen, denn es ist beeindruckend, mit welcher Leichtigkeit sich der Autor der umfangreichen Literatur bedient, ohne dabei seine Argumentationslinien aus dem Blick zu verlieren. Als Ausgangspunkt diente Romijn ein öffentlicher Vortrag, den er im Oktober 2014 als Gastprofessor am Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts gehalten hat. Diesen Vortrag kombinierte er mit bereits auf Niederländisch oder Englisch erschienen Aufsätzen, sodass seine Forschungsergebnisse nun zum ersten Mal einem deutschsprachigen Publikum als Buch vorliegen.
Romijns Studie bildet den Hauptteil des Buches, in dessen Anhang zudem ein Interview mit dem Autor zu finden ist. Die Studie gliedert sich in sechs Kapitel und beginnt mit der politischen und wirtschaftlichen Entwicklung sowie der Selbstwahrnehmung der Niederlande als "tugendhafte Nation" in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Anschließend geht Romijn auf die deutsche Besatzung und deren Folgen für den niederländischen Staat ein, bevor er eine Erklärung dafür liefert, warum es der deutschen Vernichtungsmaschinerie gelang, in den Niederlanden mehr Juden zu töten als anderswo. Im vierten Kapitel thematisiert Romijn die "Übergangspolitik" in den Niederlanden zur Wiederherstellung der parlamentarischen Monarchie nach der deutschen Besatzung. Im fünften Kapitel wendet sich der Autor dem Fernen Osten zu. Er steigt bei der japanischen Besatzung Niederländisch-Indiens ein, bevor er ausführlich auf den Indonesienkrieg, die "exzessive Gewaltausübung" und die mühsame Dekolonisierung zu sprechen kommt. Im letzten Kapitel reflektiert er schließlich das Wechselspiel von "gelegentlicher Normalität und wiederkehrender Gewalt" von dem der "lange Krieg" geprägt worden sei (223). Außerdem skizziert er, wie man in den Niederlanden bis heute mit der Erinnerung an diese Geschichte der Gewalt umgeht.
Originalität und besondere Leistung der Studie liegen sowohl in den neuen Fragen und Perspektiven, die Peter Romijn für die Niederlande in den "langen" 1940er Jahren aufwirft, als auch in der Art und Weise, wie er die Geschichte darlegt. Es ist ihm dabei gelungen, ein komplexes Thema für ein breites deutschsprachiges Publikum auf weniger als 250 Seiten eingängig darzulegen. Der Autor macht die Hauptlinien seiner Erzählung exemplarisch an bestimmten Personen fest. So skizziert Romijn, wie niederländische Soldaten nach der Erfahrung der katastrophalen Besatzungszeit als Befreier nach Indonesien kamen, in der Kolonie jedoch als Besatzer empfangen wurden. Dort fand die "moralische Überlegenheit" (148) der Kolonialherren als Opfer des "Dritten Reiches" keine Anerkennung, da Niederländisch-Indien selbst die Befreiung von der Fremdherrschaft und die Unabhängigkeit forderte.
Obwohl die Perspektive der politischen, bürokratischen und wirtschaftlichen Elite der Niederlande besonders im Fokus steht, ist Romijns Geschichte multiperspektivisch angelegt. So kommen viele Akteure zu Wort - Opfer und Täter, Besatzer und Befreier, Kollaborateure und Widerstandskämpfer, Politiker und einfache Bürger, Verantwortliche für Gewalttaten. Dennoch muss an dieser Stelle die Frage aufgeworfen werden, wer eigentlich den "langen Krieg" als solchen wahrnahm. Vermutlich war für viele Niederländer der Krieg nach der Befreiung durch die Alliierten im Mai 1945 vorbei. Was anschließend bis 1949 in Indonesien passierte, betraf an erster Stelle die Regierung und ihre Vertreter vor Ort. So war es ein "langer Krieg der Niederlande", aber nicht notwendigerweise ein langer Krieg der Niederländer. Dies soll jedoch nicht als grundlegende Kritik, sondern vielmehr als eine erläuternde Anmerkung zu Romijns insgesamt sehr einleuchtender Kontinuitätsthese verstanden werden.
Hervorzuheben ist der Anhang des Buches, in den ein von Norbert Frei, Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Jena, und Christina Morina, DAAD Visiting Assistant Professor am Duitsland Instituut Amsterdam, geführtes Interview mit Peter Romijn aufgenommen wurde. Das 30-seitige Interview zu Erinnerungskultur, Geschichtspolitik und Auftragsforschung im deutsch-niederländischen Vergleich wurde bereits im Januar 2015 mit Romijn am Jena Center geführt. Man wünschte sich, dass diese erfrischende Kombination von Monografie und Interview öfter zum Tragen käme. Denn in diesem lesenswerten Interview berichtet Romijn ausführlich über seinen biographischen Bezug zum Thema und über seine Überzeugungen als Zeithistoriker. So erklärt er, wie sein Vater während der deutschen Besatzung untergetaucht war und nach 1945 als Soldat am Kolonialkrieg in Niederländisch-Indien teilnahm. Jedoch verneint Romijn die Frage nach der Verbindung zwischen der Vorgeschichte seiner Familie und seinem Interesse für Geschichte. So glaube Romijn nicht, "dass eine bestimmte familiäre Vorgeschichte einen Historiker für bestimmte Forschungsthemen besonders legitimiert" (250). Er hält die Geschichte seiner Familie für einen eher "unspektakulären Fall" (250) der sich nicht wesentlich von der Vergangenheit anderer Mitglieder der Nachkriegsgesellschaft unterscheide. Außerdem sei diese persönliche Geschichte für seine Arbeit als Historiker nur von nachgeordnetem Interesse. Es geht Romijn in erster Instanz "um die Auseinandersetzung mit der Geschichte" (250). Diese Reflexion der eigenen Arbeit kann nur im Sinne einer kritischen Geschichtswissenschaft sein.
Anmerkung:
[1] Zitiert nach: Peter Romijn: Der Lange Krieg der Niederlande. Besatzung, Gewalt und Neuorientierung in den vierziger Jahren, Göttingen 2017, 198.
Rick Tazelaar