Tom Segev: David Ben Gurion. Ein Staat um jeden Preis, München: Siedler 2018, 816 S., 27 s/w-Abb., ISBN 978-3-8275-0020-5, EUR 35,00
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Mit seiner 800 Seiten starken Biographie des israelischen Staatsgründers David Ben Gurion füllt der renommierte israelische Journalist und Historiker Tom Segev keine Forschungslücke im eigentlichen Sinne. Über den Portraitierten liegt - sowohl in der angelsächsischen als auch der israelischen Literatur - bereits eine Fülle von Darstellungen vor. Dennoch sticht Segevs Forschungsbeitrag aus dieser Fülle von Biographien heraus. Schuld daran ist mit Sicherheit nicht alleine der schiere Umfang seiner detaillierten Studie; sie zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass Segev es wagt, auch die politischen und persönlichen Schattenseiten Ben Gurions herauszuarbeiten, der im geschichtspolitischen Bewusstsein Israels vor allem in den letzten Jahren immer mehr den Status eines historiographisch Unantastbaren erreicht hat.
Bereits durch sein Elternhaus, vor allem durch den Vater, war der 1886 in Polen geborene Ben Gurion (Geburtsname Grün) früh mit ersten zionistischen Strömungen in Berührung gekommen. In seiner Heimat engagierte sich Ben Gurion fortan in zionistischen Gruppen und sozialistischen Arbeiterkreisen bis "aus dem schmächtigen Jungen, der nie richtig glücklich war, als Heranwachsender mit allen Vorhaben scheiterte, der sich lebensmüde zeigte und an den Rand der Verzweiflung geriet, [...] ein gewaltbereiter Arbeiterboss in einer Kleinstadt geworden" war (55). Auf diese Weise betätigte sich Ben Gurion bis zu seiner Emigration in das osmanische Palästina im Jahr 1906, wohin er nach eigener Aussage in erster Linie als "Zionist, Pionier und Sozialist" gekommen war (57).
Sein Engagement für die Arbeiterbewegung setzte Ben Gurion bereits kurz nach seiner Ankunft in Palästina fort. Später wurde er Mitarbeiter einer sozialdemokratischen Monatszeitung, die sich unter dem Eindruck der großen Zahl von Juden, die das Land kurz nach ihrer Immigration wieder verließen, in ihrer politischen Ausrichtung dezidiert vom rein ideologischen Sozialismus und Marxismus distanzierte und durch ihre journalistische Arbeit versuchte, einen gewissen Siedlungspragmatismus zu fördern und dadurch mehr Juden ins Land zu locken. Solche Neu-Immigranten sollten nach Ben Gurions Vorstellung am tatsächlichen, handfesten Aufbau eines jüdischen Staates und weniger an seiner ideologischen Konzipierung und Verteidigung interessiert sein. Dabei ging es ihm um die Förderung eines "praktischen Zionismus" (111).
Besonders nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges entschlossen sich viele Juden dazu, Palästina aus Furcht vor Deportationen und Kriegsdienst wieder zu verlassen, was Ben Gurion scharf verurteilte. In seinen Augen waren all jene, die sich zur Flucht entschlossen, schlichtweg Verräter: "Wenn ich dürfte, würde ich das Land abriegeln und keine Seele ausreisen lassen" (126). Da Großbritannien ab 1917 durch die Balfour-Erklärung einen jüdischen Staat in Palästina befürwortete und sich die Niederlage des Osmanischen Reiches im Krieg abzuzeichnen begann, trat Ben Gurion schließlich in die britische Armee ein und kämpfte gegen die Osmanen.
Die Zäsur zwischen den beiden Großabschnitten des Buches bildet das Ende der nationalsozialistischen Herrschaft im Deutschen Reich. Vom politischen Blickwinkel auf Ben Gurions Biographie her erscheint dies auch folgerichtig, denn erst mit dem Aufkeimen des Nationalsozialismus im Deutschen Reich stiegen auch die Erfolgsaussichten für die Gründung eines eigenen jüdischen Staates - so jedenfalls empfand Ben Gurion, so grotesk und makaber das klingen mag. Und die Zahlen gaben ihm Recht: Die Pogrome in Osteuropa Ende des 19. Jahrhunderts und in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg hatten nur wenige Juden zur Auswanderung nach Palästina bewegen können. Rund die Hälfte der Einwanderer verließ das Land aufgrund der schlechten Lebensbedingungen wieder. Erst in der fünften Einwanderungswelle ab 1930 stieg die Zahl der Emigranten deutlich an und verzehnfachte sich im Vergleich zu den vorherigen Einwanderungswellen. Demnach sah Ben Gurion bei aller Ablehnung und Abscheu im Beginn der systematischen Verfolgung der europäischen Juden sowie der Machtergreifung der Nationalsozialisten einen "Hebel", um mehr und mehr Juden aufgrund ihrer prekären Situation zur Auswanderung nach Palästina zu bewegen (252).
Ben Gurions politisches Wirken erstreckte sich spätestens ab 1948 auf die höchsten Staatsämter Israels. Auch hier gelingt es Segev, so manchen Abgrund aufzuzeigen: Um dem einsetzenden Rassismus zwischen europäischen und orientalischen Juden in Israel wirksam zu begegnen, sollten nach Ben Gurions Vorstellung alle Immigranten in militärische oder militärähnliche Verbände eingezogen werden, wo ihnen "nationale Disziplin" vermittelt werden sollte (483). Zur Steigerung der Geburtenrate lobte er 1949 eine Prämie für jede israelische Frau aus, die mindestens zehn lebende Kinder gebar (485). Auch Ben Gurions direkte und indirekte Verstrickungen in verschiedene terroristische Planungen bleiben in Segevs Buch nicht unerwähnt.
Insgesamt arbeitet der Autor den frappierenden Opportunismus Ben Gurions heraus, der immer nur dem einen Ziel diente, einen jüdischen Staat in Palästina aufzubauen. Dabei war er bereit, diesem Ziel moralisch alles unterzuordnen. Auch zeigt Segev, dass Ben Gurion eines gewiss nicht war: ein Religiöser, den orthodoxe Motive in seinem Streben nach einem jüdischen Staat antrieben. Dem Autor gelingt es, die Biographie David Ben Gurions, die untrennbar mit der Geschichte der israelischen Staatsgründung verbunden bleibt, informativ, lesenswert und spannend zu erzählen. Gleichzeitig stützt er sich auf eine umfangreiche Literatur- und Quellenbasis, die seine mehrjährige Beschäftigung mit der Materie widerspiegelt. Zwar kann Segev nichts grundlegend Neues präsentieren, stellenweise aber bislang unbekannte Einsichten gewähren und einen anderen als den bisher bekannten Blick auf die Figur David Ben Gurions eröffnen.
Bettina Sophie Weißgerber