Konstanze Soch: Eine große Freude? Der innerdeutsche Paketverkehr im Kalten Krieg (1949-1989), Frankfurt/M.: Campus 2018, 319 S., ISBN 978-3-593-50844-3, EUR 39,95
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Klaus Schroeder: Kampf der Systeme. Das geteilte und wiedervereinigte Deutschland, Reinbek: Lau-Verlag 2020
Günther Schulz (Hg.): Arm und Reich. Zur gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ungleichheit in der Geschichte, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2015
Paul Betts: Within Walls. Private Life in the German Democratic Republic, Oxford: Oxford University Press 2010
Knapp 1.600 Tonnen Kaffee, 1.200 Tonnen Schokoladenerzeugnisse, 800 Tonnen Obst und Südfrüchte sowie 2,3 Millionen Stück Damenstrumpfhosen - diese Mengen wurden allein im Jahr 1978 vermittels Westsendungen in die DDR geschickt. Das "Westpaket" - so die übliche Bezeichnung für jene Sendungen, die Westdeutsche während der Teilung an ostdeutsche Familien verschickt hatten - nimmt zweifellos einen festen Platz in der Erinnerungskultur ein. Umso mehr überrascht es, dass das Thema vonseiten der Geschichtswissenschaft bislang allenfalls ansatzweise untersucht worden ist. Noch weniger bekannt ist mit dem "Ostpaket" der umgekehrte Fall. Dieses Desiderat der Forschung hat Konstanze Soch zum Anlass genommen, sich in ihrer nun erschienenen Magdeburger Dissertation mit Versand und Empfang, der Motivation und den Hintergründen sowie gegenseitigen Wahrnehmungen zu beschäftigen und danach zu fragen, auf welche Weise die bestehenden Vorstellungen durch den innerdeutschen Paketverkehr beeinflusst wurden.
Dabei geht es ihr vor allem um die Wechselseitigkeit und den gegenseitigen Austausch sowie die individuellen Kontakte. Um diesen besonderen Aspekt einer deutsch-deutschen Verflechtungsgeschichte auf alltagskulturell-lebensweltlicher Ebene zu historisieren, bedient sich die Autorin der Konzepte der entangled history sowie der histoire croisée, welche es ihr ermöglichen, den Transfer von Objekten als kulturellen Übersetzungsvorgang zu begreifen und außerdem aufzuzeigen, dass diese Transfers keine Einbahnstraßen waren, sondern vielmehr als sich gegenseitig beeinflussende Austausch-, Aushandlungs- und Interaktionsprozesse zu verstehen sind. Indem die Autorin das Versenden und Empfangen von Paketen und Geschenksendungen in Anlehnung an Gerhard Schulz als alltagsästhetische Episoden betrachtet, möchte sie das Verhältnis zwischen Subjekten und Objekten des Versands sowie dessen historische Veränderungen beleuchten und dadurch einen Beitrag leisten, die bislang in der deutsch-deutschen Historiografie dominierenden narrativen "Halbgeschichten" (Konrad H. Jarausch) zu überwinden.
Dieses verdienstvolle Vorhaben stützt sich auf eine breite Quellenbasis. Konsultiert wurden unterschiedliche Akten aus DDR- und bundesdeutsche Provenienz; zur Betrachtung der öffentlichen Wahrnehmung des Phänomens wurden außerdem massenmediale Quellen ausgewertet. Hinzu treten Akten aus dem Bestand der Behörde des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen (BStU) und Briefe aus der Sammlung der Museumsstiftung Post- und Telekommunikation. Von zentraler Bedeutung für die Analyse ist ein Sample von 40 leitfadengestützten thematischen Interviews, wobei die Verfasserin darauf Wert gelegt hat, aufseiten der Interviewten ein Gleichgewicht zwischen Versendern und Empfängern zu gewährleisten.
Ihre chronologisch geordneten Ausführungen beginnt die Autorin mit den CARE-Paketen, die während der Besatzungszeit zu einem geringen Teil und über Umwege auch die Sowjetische Besatzungszone (SBZ) erreichten. Deren Pendants ("Pajoks", im Volksmund "Stalinpakete") unterschieden sich in ihren Inhalten ganz wesentlich, enthielten sie doch vor allem Grundnahrungsmittel. Es folgt mit der Aufnahme des offiziellen Postverkehrs im Jahr 1949 ein Gang zunächst durch die 1950er-Jahre, die aus Sicht der Autorin eine Art "kalter Paketkrieg" gewesen seien (55). Pakete besaßen dabei stets einen nicht zu unterschätzenden politischen Wert: Sie sollten die eigene Überlegenheit als das bessere, fortschrittlichere und wohlhabendere System materiell wie symbolisch untermauern. Das Image der "hungernden Brüdern und Schwestern" im Osten sollte auch den westdeutschen Versendern den eigenen Wohlstand vor Augen halten, wobei Soch verschiedene Katalysatoren solcher Deutungen ausmacht (17. Juni 1953, Mauerbau). Der Abnahme von Geschenksendungen wurde Mitte 1967 mit dem aus politischer Feder stammenden Slogan "Nicht nachlassen, halte Verbindung nach drüben" öffentlichkeitswirksam entgegenzutreten gesucht (184). Wichtig für das Verständnis des Paketschickens sind die Ausführungen über den halb-privaten, politisch-institutionellen Versand aus dem Westen durch verschiedene Hilfsorganisationen und betriebliche Initiativen. Diese Aktivitäten verraten viel über die jeweiligen Motivationen, die von karitativen und kommunikativen Beweggründen über Antikommunismus bis hin zu dem Gedanken an die Wiedervereinigung reichten.
Der private Versand bildet den größten Teil der Arbeit. Soch beleuchtet in diesen Teilen die ambivalenten Folgen der Versandpraktiken, welche geradezu die Unbestimmtheit ihres Buchtitels prägten. Denn das Versenden und Empfangen der Pakete löste keineswegs allenthalben Freude aus, weil sich darin begehrte Konsumartikel befanden, die unter Umständen auch lukrative Tauschmöglichkeiten offerierten. Vielmehr ließen sich im Umfeld einzelner Empfänger auch Neid und Unverständnis erkennen. Bei nicht wenigen entstand außerdem ein Gefühl der eigenen materiellen Unterlegenheit, war es doch oft eine Herausforderung, ein adäquates Geschenk zu besorgen, da bestimmte Artikel in der DDR nur unter größeren Schwierigkeiten beschafft werden konnten. Inhalte der Sendungen waren hier wie dort wichtig und spiegelten Vorstellungen über den Osten wider, was Fehlinterpretationen aber keineswegs ausschloss. So konnten die Inhalte der Pakete gefühlte Ab- und Aufwertungen hervorrufen. Ungleichheiten traten besonders dann in Erscheinung, wenn etwa getragene Kleidung im Osten Freude auslöste - ein Umstand, der dann wiederum von bundesdeutschen Medien aufgegriffen wurde. Auch dadurch festigte sich das dortige Bild der DDR als Diktatur und Mangelgesellschaft mitsamt allgegenwärtig schlechter Versorgung, während sich gleichzeitig der Eindruck verstärkte, im (relativen) Wohlstand zu leben. Die Unsicherheit bezüglich der Wertschätzung des Paketinhalts, Muster der Rechtfertigung und Scham, die im Übrigen auch im Westen anzutreffen war, verweisen auf wichtige Aspekte einer deutsch-deutschen Verflechtungsgeschichte. Die Praxis des Paketeschickens deutet nach Soch auf eine Zementierung der hierarchischen Schieflage in den persönlichen Beziehungen hin, wodurch nolens volens in vielen Fällen eine Entfremdung vorangetrieben worden sei.
Konfrontiert wurden die Versender hüben wie drüben mit zahlreichen Reglementierungen, zum Beispiel mit der (später mehrmals novellierten) 1954 erlassenen "Geschenkpackverordnung", die Porto, Höchstmengen oder Zollbestimmungen festlegte. Dazu gehörte unter anderem die Einführung einer "Desinfektionsbestimmung" im Jahr 1961, wodurch sich die Zahl der Rücksendungen und Beschlagnahmungen deutlich erhöhte und die auf beiden Seiten der Mauer Unmut auslöste. Ein in beiden Staaten anzutreffendes Merkmal war darüber hinaus die Kontrolle der versandten Inhalte. Im Westen wurden beispielsweise Bücher in "Zentralen Aussonderungsstellen" auf geheime Botschaften untersucht und auf diese Weise zwei Spione enttarnt. Die Kontrolle der Sendungen stellte ein logistisches Unterfangen von großer Bedeutung dar, nicht zuletzt weil die Versender bei der Herstellung von Tarnverpackungen überaus erfinderisch waren.
Daneben ermittelt die Verfasserin auf Grundlage des Materials deutliche Asymmetrien. Während das "Westpaket" eine feste Wirtschaftsgröße in der DDR war, war dies umgekehrt weniger der Fall. Im Westen konnten seit den frühen 1960er-Jahren jährlich 30 DM für Ostpakete steuerlich abgesetzt werden. Diese gezielte Subventionierung und Unterstützung unterstreicht noch einmal die politische Bedeutung der Versendepraxis. Im Laufe der Zeit stellte sich eine zunehmende Routine auf der einen Seite ein, während im Osten das Auspacken nicht nur ritualisiert, sondern "regelrecht zelebriert" (169) wurde. Entscheidend für die Praxis des Verschickens und die Einschätzungen hierüber waren die generationelle Lagerung und die damit verbundenen Sozialisationsbedingungen. Reizvoll ist der Versuch, das Thema über 1990 hinweg zu betrachten und damit eine Zeit einzubeziehen, als der Paketversand eigentlich obsolet geworden war. Hier beobachtet die Autorin das Aufbrechen von Befindlichkeiten, die sich jahrelang angestaut hatten, aber auch vielfältige Kommunikationshindernisse, die im Zuge der Re-Definition von Rollen und den damit verbundenen Zuschreibungen und Erwartungshaltungen nachzuweisen waren.
Neben vielen wichtigen Einzelbeobachtungen sind jedoch nicht zu vernachlässigende methodische wie inhaltliche Monita zu vermerken. Nicht nur die Einleitung enthält Redundanzen, auch in den Analyseteilen hätte manches komprimierter, systematischer dargestellt werden können. Für den Lesefluss hätten sich gerade für Kapitel 3.2.3.3 Unterabschnitte angeboten. Das ohnehin vergleichsweise schlanke Literaturverzeichnis führt auch Quellen auf; bedauerlicherweise werden Quellentitel nicht genannt, lediglich deren Fundstellen angegeben, dasselbe gilt für Zeitschriftenaufsätze. Aus dem Verzeichnis geht außerdem hervor, dass wesentliche Referenzwerke zur westdeutschen Konsumgeschichte oder etwa der Spendenbewegung offenbar nicht konsultiert worden sind. Dieser Umstand führt dazu, dass man in die jeweiligen wirtschafts- bzw. konsumhistorischen Kontexte der DDR zwar weitgehend zuverlässig eingeführt wird, nicht jedoch in die der Bundesrepublik. Auch wünschte man sich die zitierten Aussagen zeitgenössischer Zeitungsartikel, vor allem aber von Zeitzeugen, stärker quellenkritisch problematisiert und hinterfragt, da sonst teils unzulässige Verallgemeinerungen drohen. Dessen ungeachtet ist das Thema mitnichten nur eine postalische Fußnote der Teilungsgeschichte, sondern sagt mehr über diese aus, als man zunächst vermuten möchte.
Christoph Lorke