Jürgen Schmidt: Brüder, Bürger und Genossen. Die deutsche Arbeiterbewegung zwischen Klassenkampf und Bürgergesellschaft 1830-1870 (= Geschichte der Arbeiter und der Arbeiterbewegung in Deutschland seit dem Ende des 18. Jahrhunderts; Bd. 4), Bonn: J.H.W. Dietz Nachf. 2018, 651 S., 12 Tbl., 21 s/w-Abb., ISBN 978-3-8012-5039-3, EUR 68,00
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Christoph Kienemann: Der koloniale Blick nach Osten. Osteuropa im Diskurs des Deutschen Kaiserreiches von 1871, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2018
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In der auf 15 Bände angewachsenen Reihe "Geschichte der Arbeiter und der Arbeiterbewegung in Deutschland seit dem Ende des 18. Jahrhunderts" (Jürgen Kocka berichtet darüber im Vorwort) hat es der Band 4 schwer, denn es ist trotz der umfangreichen Forschung weiterhin umstritten, ab wann man von einer Arbeiterbewegung sprechen kann. Jürgen Schmidt löst dieses Problem überzeugend, indem er das weite Geflecht an sozialen und politischen Entwicklungen, Gruppenbildungen, Handlungsformen, Ideen und Weltbildern ausbreitet, aus dem die Organisationen der Arbeiterbewegung hervorgegangen sind oder von denen sie sich abgegrenzt haben. Der Buchtitel verwendet zwar die traditionelle Bezeichnung "deutsche Arbeiterbewegung", doch Schmidt macht deutlich, eine Bewegung im Singular gab es im Untersuchungszeitraum nicht. Sie war ein fluides Gebilde, das sich in ständiger Konkurrenz nach außen und innen entwickelte. Ihre Ziele und wogegen sie kämpfte, ihre Selbstbilder und wie sie sich in der Bürgergesellschaft verortete, welche Zukunftsvorstellung sie für Wirtschaft, Gesellschaft und Staat propagierte, selbst die Organisationsformen, die sie anstrebte - all das blieb lange offen, Gegner und Kooperationspartner wechselten. Schmidt rückt diese entwicklungsoffene Vielfalt ins Zentrum, sie zieht sich als roter Faden durch das Buch. So setzt er sich auch von den kontroversen Deutungen ab, mit denen die west- und die ostdeutsche Geschichtsforschung gerade in diesem Themenfeld konkurriert hatten. Schmidt zieht sich jedoch nicht auf ein bloßes Sowohl-als-auch zurück, sondern begründet in allen Untersuchungsbereichen eingehend, wie widerspruchsvoll die zeitgenössischen Einstellungen waren, um dann aber doch Muster zu identifizieren, die in dieser Vielfalt im Rückblick zu erkennen sind.
Bereits in der ausführlichen Einleitung wird die "Vieldeutigkeit und Zentralität des Arbeiterbegriffs" (32) thematisiert. Die Analyse des Wandels innerhalb dieser Vieldeutigkeit zieht sich durch die drei Hauptkapitel. Im ersten geht es um "Ansätze der Arbeiterbewegung im Vormärz" (53) in den deutschen Staaten (einschließlich Österreich) und im Ausland. Im zweiten wird die Revolution 1848/49 als "Geburtsstunde der modernen Arbeiterbewegung" (319) bestimmt. Im dritten wird gefragt, welche Kontinuitätslinien sich in die "zweite Gründungsphase" (323) der 1850er- und 1860er-Jahre ziehen, was neu einsetzte und in die Zukunft der Arbeiterbewegung verweist.
Schmidt schreibt eine "Erfolgsgeschichte", aber "keine Siegergeschichte" (17). Man war auf dem Weg, doch vieles blieb noch offen. Dies gilt auch für die soziale Reichweite. Als der Nationalstaat entstand, ein tiefer Einschnitt auch für die Arbeiterorganisationen, erfassten sie nur eine Minderheit der "abhängig beschäftigten Arbeiter und Handwerker" vornehmlich in Städten (419). Es war eine Bewegung von Männern; auf Festen traten Frauen und die Familien hinzu. Doch die Organisationen und auch ihre "gelebte interne Vereinsgeselligkeit" blieb von einer "durch und durch männlichen Kultur" geprägt (449). Dazu gehört auch das "Ideal des männlichen Alleinverdieners" (449), auch wenn es nur selten realisiert werden konnte. Das "Feld der Ideenproduktion" innerhalb und für die Arbeiterbewegung "dominierten Intellektuelle und Bildungsbürger" (419). Sie und ihre "intellektuelle Hahnenkämpfe" (132) werden ausführlich vorgestellt, die bedeutende Rolle der Führungskräfte an der Spitze wie an der Basis wird gewürdigt. Schmidt arbeitet eindringlich heraus, warum die dezidierte Verbindung von politischem und sozialökonomischem Veränderungswillen für die sozialdemokratische Arbeiterbewegung der 1860er-Jahre so attraktiv war. Man konnte sich in unterschiedlichen Politikbereichen profilieren und Anhänger mit unterschiedlichen Interessen einbinden. Die Konkurrenz der beiden Hauptrichtungen (Allgemeiner Deutscher Arbeiterverein und Verband deutscher Arbeitervereine) trieb diese breite Ausrichtung und die ideologische Schärfung des Programms voran. "Insofern war die Ideologieproduktion in beiden Strömungen der frühen Arbeiterbewegung nichts Abstrakt-Selbstreferenzielles, sondern integraler Bestandteil ihres Organisationsprozesses." (457) Die ideologischen Weltbilder grenzten zunehmend stärker von liberalen und demokratischen Organisationen ab, mit denen man gleichwohl lange kooperieren konnte.
Zu den Vorzügen dieses Buches gehört es, die ganze Spannweite des Organisationsnetzes, in dem sich die Arbeiterbewegung entwickelte, und auch die Konkurrenten im Arbeitermilieu in die Untersuchung einzubeziehen. Das Unterstützungswesen, teilweise in der Zunfttradition verankert, gehörte ebenso dazu wie die Genossenschaften, die aufgebaut wurden, ebenso Gewerkschaften und Streiks. Auch die konfessionellen Arbeiterorganisationen und die Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine werden betrachtet. 1869 stellten die liberalen Gewerkvereine die mitgliederstärkste Gewerkschaft. Sie "demonstrierten die Attraktivität liberaler Werte wie Bildung, Selbsthilfe und Emanzipation jenseits einer Klassenkampfrhetorik innerhalb weiter Teile der Arbeiterschaft." (525)
Warum kam es in Deutschland zur frühen "Trennung der proletarischen von der bürgerlichen Demokratie"? Diese Frage Gustav Mayers von 1912 hat die vergleichende Forschung immer wieder beschäftigt. Schmidt nimmt sie zum Abschluss auf und gibt eine originelle Antwort, indem er den Ansatz korrigiert: "Eine proletarische Demokratie als Ziel existierte nicht." Die damalige Arbeiterbewegung sei "geradezu als Hüterin bürgerlich-demokratischer Leitbilder" aufgetreten (545). Organisatorisch trennte sie sich jedoch und zunehmend auch programmatisch-ideologisch. Es war ein "gegenseitiger Entfremdungsprozess", in ihm trat die Klassenlinie schärfer hervor. Schmidt nennt es das Ergebnis einer "milieuspezifischen Trennung" (552) und einer Vielzahl von Faktoren, zu denen die klassenpolitische Ideologie, die nach innen zusammenschloss und nach außen abgrenzte, ebenso gehörte wie die Besonderheit, dass die deutsche Arbeiterbewegung anders als die französische oder die englische "in ihrer Gründungsphase zur gleichen Zeit mit der Nationalstaats-, der Verfassungs- und sozialen Frage konfrontiert" war (547).
Schmidt ist für die Formierungsphase der deutschen Arbeiterbewegung ein Werk gelungen, dass den Informationsreichtum eines Handbuchs verbindet mit Deutungen, die den Forschungsstand erweitern und auch korrigieren. Da er die Entwicklungen, die in die Arbeiterbewegung führten, breit in das politische, sozioökonomische und kulturelle Umfeld einordnet, entsteht ein differenziertes Epochenbild.
Dieter Langewiesche