Oliver Nicholson (ed.): The Oxford Dictionary of Late Antiquity, Oxford: Oxford University Press 2018, 2 Bde., XCVI+ 1637 S., ISBN 978-0-19-866277-8, GBP 195,00
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Als im Jahr 1999 das erste Lexikon erschien, das ausschließlich der Spätantike gewidmet war, sollte damit ein programmatisches Signal gesetzt werden: Die 'Long Late Antiquity' als eigenständige historische Formation zwischen Antike und Mittelalter - und weit in beide Epochen ausgreifend - war im Zentrum der althistorischen und mediävistischen Forschung angekommen. [1] Knapp 20 Jahre später beschreitet ein neues Lexikonprojekt die damals geebneten Pfade konsequent weiter. Angelegt, um die Lücke zwischen dem Oxford Classical Dictionary und dem Oxford Dictionary of the Middle Ages zu schließen, verfolgt auch das neue Oxford Dictionary of Late Antiquity dezidiert einen zeitlich (Mitte 3. Jh. - Mitte 8. Jh.), räumlich (Atlantikküste bis Zentralasien mit Ausgriffen nach China) und sachlich übergreifenden Anspruch: "The Oxford Dictionary of Late Antiquity is designed to provide easily accessible information, alphabetically arranged, about the history, religion, literature, and physical remains of the half-millennium between the mid-3rd and the mid 8th century AD in Europe, North Africa, and Western and Central Asia" (VI).
Anders als das Vorgängerprojekt, das wenige ausgewählte Stichwörter in umfangreicheren Essays behandelt, ist das Oxford Dictionary of Late Antiquity (ODLA) nach dem klassischen Muster eines Lexikons aufgebaut - und damit nicht ganz einfach zu besprechen. Zunächst zum Aufbau: Unter der Ägide des Herausgebers und von neun "Area Editors" - sie alle wiederum beraten von "Area Advisers" - haben knapp 500 Autorinnen und Autoren Artikel im Umfang von wenigen Zeilen bis zu mehreren Seiten beigesteuert. Sie erstrecken sich - entsprechend dem umfassenden Anspruch des Projekts - auf alle derzeit bearbeiteten Bereiche der Spätantike, d. h. nicht nur auf politische, religiöse und kulturelle Entwicklungen und Phänomene im weitesten Sinne, sondern u. a. auch auf die Bereiche Geographie, Recht (mit Einschränkungen), Administration, Philosophie, Kunst, Architektur, Theologie, Liturgie usw. Philologische und archäologische Aspekte stehen gleichberechtigt neben historischen Lemmata bzw. werden darin berücksichtigt und umgekehrt. Besondere Aufmerksamkeit wurde dem frühen Islam bis zum Ende der Umayyadenzeit gewidmet, und auch das spätantike Judentum ist in mehreren Artikeln präsent. Vor allem die kirchengeschichtlichen, theologischen und historiographischen Artikel - letztere bis weit in das Mittelalter ausgreifend, sofern die behandelten Autoren und Werke für spätantike Inhalte relevant sind - widmen den sog. orientalischen Christentümern und Literaturen breiten Raum. Große Lemmata werden in der Regel thematisch aufgegliedert in Subartikel, so etwa "Bible", "Constantinople", "Rome", "law", "martyr passions", "palaces" u. a. Der breite Zugriff der Herausgeber spiegelt sich in der Auswahl der Stichwörter; so findet man neben dem Erwartbaren etwa auch Informationen zu "abortion and contraception", "Adventus Saxonum", "almsgiving (Christian/Islamic)", "angon", "childhood", "classicism", "dead, disposal of" (mit mehreren Unterartikeln), "dowry and brideprice", "epilepsy", "sky", "social mobility", "spies and spying", "toleration" und "witchcraft". Neuere Studien zu klimatischen Faktoren haben Niederschlag gefunden in Lemmata wie "climate and climate change" oder "Dust Veil of 536". Der globalhistorische Ansatz spiegelt sich in Artikeln zu "China", "India and Ceylon", "India and South Asia, Christianity in". Manches findet sich eher zufällig, weil man kaum auf die Idee kommen würde, entsprechende Einträge in einem Lexikon zu suchen: so etwa "animals in art", "Antioch Statue Riots", "Arians and Homoeans in the West", "bells", "gynaecology", "images of God", "punishment and Roman theories of punishment". Rätsel geben einige Artikel auf, in denen auf knappstem Raum die Nachwirkung kaiserzeitlicher Autoren in der Spätantike angerissen wird: "Aelius Aristides in Late Antiquity", "Apollonius of Tyana in Late Antiquity", "Dio Chrysostom in Late Antiquity", "Galen in Late Antiquity", "Hermes Trismegistus in Late Antiquity".
Ob drei- bis vierzeilige Personenartikel (vgl. etwa Alexander, Antenor, Frigeridus, Germanus, John, John Mystacon, Leontia, Marina, Petasius, Theodore usw.) wirklich so unmittelbaren Informationswert besitzen, dass sich damit eine Aufnahme in das Lexikon rechtfertigen lässt, sei dahingestellt; ohnehin mag man über Kriterien für die Behandlung einzelner Personen trefflich diskutieren. Einige Artikel erscheinen jedoch zu kurz, vor allem, wenn man sie mit anderen Einträgen zu ähnlichen Personen oder Inhalten vergleicht. So hätte der 'Heermeister' Aetius sicherlich eine umfangreichere Bearbeitung verdient, als sie ihm im ODLA widerfährt, und auch der Artikel "foederati" muss aufgrund seines geringen Umfangs unterkomplex bleiben. Zwei Zeilen, die "Bederiana" gewidmet wurde, sind definitiv zu wenig, ebenso wie man sich die drei Zeilen zu "Croats" hätte schenken können - oder aber mehr Raum für das Referat der diesbezüglichen aktuellen Forschungsdiskussion hätte investieren müssen. Der knappe Eintrag "Goths" wird immerhin ergänzt durch Artikel zu "Tervingi", "Greuthungi", "Ostrogoths" und "Visigoths". Auffällig kurz ist überdies "medicine" geraten; geboten werden jedoch Artikel zu "epidemic diseases", "Plague, Decian" und "Plague, Justinianic".
Es ist ein beliebtes Spiel, in Lexika Lemmata auszumachen, die man vermisst bzw. die vergessen wurden. Insgesamt erweckt das ODLA allerdings den (selbstverständlich höchst subjektiven) Eindruck großer Vollständigkeit. Ein Artikel "Church" wäre sicherlich nützlich gewesen; spätantike Chroniken werden jeweils separat behandelt, übergreifende Gattungsbegriffe wie "chronicle" müssen durch Dachartikel zu "historiography, Greek and Latin" o. ä. erschlossen werden. Sehr vorsichtig verfährt das Lexikon mit dem 'Völkerwanderungs'-Komplex. Zwar finden sich jeweils Artikel zu einzelnen Gruppen, Verbänden und Konföderationen, aber unter "ethnogenesis" (dem einzigen Kompositum mit dem Wortelement ethno-, das angeführt wird) trifft man lediglich auf den Verweis auf "barbarian identity" und "barbarian migrations" - nur letzterer Beitrag nimmt Stellung zu den komplexen Diskussionen der letzten Jahre. Offenbar wurden wirkungs- und wissenschaftsgeschichtliche Aspekte und Lemmata ohnehin bewusst ausgeklammert.
Erfreulicherweise folgt das ODLA nicht dem allgemeinen Trend, nur noch englischsprachige Literatur zu verwenden; in den Bibliographien finden sich vielmehr durchgängig Titel auch in deutscher, französischer und italienischer Sprache. Freilich sind die Angaben vielfach sehr knapp und mitunter nicht auf dem aktuellen Stand (die jüngsten Hinweise erstrecken sich bis in das Jahr 2016). Das mag mit dem langen, vom Herausgeber auf 18 Jahre bezifferten (IX) Entstehungsprozess des Werks zusammenhängen. Insgesamt liegt mit dem ODLA ein vorzügliches Arbeitsinstrument vor, das die Arbeit zu spätantiken Gegenständen und Themen in Zukunft erleichtern wird.
Anmerkung:
[1] G. W. Bowersock / P. Brown / O. Grabar (eds.): Late Antiquity. A Guide to the Postclassical World, Cambridge, Mass. / London 1999.
Mischa Meier