Jürgen Kilian: Krieg auf Kosten anderer. Das Reichsministerium der Finanzen und die wirtschaftliche Mobilisierung Europas für Hitlers Krieg (= Das Reichsfinanzministerium im Nationalsozialismus; Bd. 3), Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2017, 494 S., 6 s/w-Abb., 70 Tabl., ISBN 978-3-11-044974-7, EUR 49,95
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Nachdem sich die NS-Forschung mit Finanzgeschichte lange nur am Rande beschäftigt hat, lässt sich im letzten Jahrzehnt ein verstärktes Interesse daran feststellen. Wichtige Impulse lieferten die Publikationen von Götz Aly [1] und Adam Tooze [2]. Bei allen Unterschieden haben sie gemeinsam, dass sie mit und durch die Analyse von Zahlen allgemeinhistorische Fragen in den Blick nehmen, Wirtschafts- und Finanzgeschichte also als Gesellschaftsgeschichte verstehen.
Im Rahmen dieser Konjunktur ist das Forschungsprojekt zur Geschichte des Reichsfinanzministeriums im Nationalsozialismus zu sehen, das 2009 vom Bundesfinanzministerium in Auftrag gegeben wurde und nun kurz vor dem Abschluss steht. Es setzte sich zum Ziel, die Rolle des Ministeriums neu zu bewerten, denn bisher war diesem nur geringer Einfluss innerhalb des NS-Staats zugeschrieben worden. Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Projekts geht es dagegen um die endgültige Entzauberung der Legende von der untergeordneten und unpolitischen Behörde, an dem insbesondere Hitlers Finanzminister Lutz Graf Schwerin von Krosigk bis zu seinem Tod 1977 tatkräftig mitgeschrieben hatte.
Die nun vorliegende dritte von insgesamt sechs Teilstudien widmet sich der Rolle der Behörde bei der Mobilisierung fremder Ressourcen im Zweiten Weltkrieg. Jürgen Kilian zeigt darin präzise auf, dass dieser Krieg zu einem knappen Drittel ein "Krieg auf Kosten anderer" war: So hoch - ca. 126 Milliarden Reichsmark - war nach seinen Berechnungen der Anteil der Finanzmittel an den Gesamtkriegskosten, der aus den besetzen Gebieten in Form von Kontributionen, Zwangsanleihen oder Sonderabgaben herausgepresst wurde, während es sich bei den anderen zwei Dritteln um Steuern oder Inlandskredite handelte. Der gewaltige Wert liegt allerdings nicht wesentlich höher als bisher angenommen und damit auch deutlich unter den Berechnungen Götz Alys, der von einem noch größeren Raubzug (ca. 170 Mrd. Reichsmark) ausging. Kilian beschränkt sich aber nicht auf die Ermittlung von Summen oder Formen der Finanzmobilisierung, sondern blickt auf die Praktiken dieser Ausbeutung. Das, so stellt er fest, Reichsfinanzministerium agierte keineswegs nur ausführend, sondern aktiv und eigeninitiativ.
Die Untersuchung hat vier Hauptkapitel; die beiden ersten, kürzeren Kapitel beschäftigten sich mit den Konzeptionen zur Kriegsfinanzierung vor 1939 sowie den behördlichen und personellen Strukturen des Ministeriums in den besetzten Gebieten. Angesichts immer offener formulierter Expansionspläne und stark steigender Rüstungsausgaben trat ab 1937 die Frage in den Vordergrund, wie ein Krieg finanziell zu realisieren sei. Während Adolf Hitler, wie die meisten involvierten Reichsressorts, ab der Jahreswende 1938/39 vorrangig in den Finanzressourcen der Nachbarländer eine Lösung sah, wollte das Reichsfinanzministerium die Kriegskasse eher durch Haushaltseinsparungen und die Erhebung von Sondersteuern im Inland füllen. Nach dem unerwartet schnellen Sieg gegen Frankreich gab man aber auch dort die Zurückhaltung, die freilich nie völkerrechtlich, sondern stets finanz- und währungspolitisch begründet war, auf und begann einen "finanzpolitischen Europaplan" (74) auszuarbeiten, der die Indienstnahme fremder Mittel vorsah.
Es folgte bald die dafür wichtigste organisatorische Weichenstellung: die Neuaufstellung der Auslandsabteilung, deren schriftliche Überlieferung den zentralen Quellenkorpus der Studie bildet. Von dort wurden die Aktivitäten der in den besetzten Gebieten eingesetzten Beamten koordiniert. Obwohl das Reichsfinanzministerium frühzeitig Kompetenzeinbußen hinnehmen musste, vor allem hinsichtlich der Aufstellung des Militärhaushalts, gelang es von Krosigk und seinen Männern, so kann Kilian erstmals zeigen, relativ gut, ihre einflussreiche Position in den Verteilungs- und Machtkämpfen unter den Ressorts zu wahren. Dies lag zum einen am Expertenwissen der Finanzbeamten, das sie bei der Abwicklung der Reparationszahlungen während der Weimarer Republik gesammelt hatten. Zum anderen waren die zahlreichen informellen Kontakte der Behördenführung ein wirksames Machtinstrument - so etwa die des Ministers zu Hermann Göring.
Den Kern der Arbeit bildet das dritte Kapitel, das die Analyse der "Finanzkontrolle und Ausbeutung im deutschen Machtbereich" und den "Versuch einer Gesamtbilanz" umfasst. Das besondere Verdienst der Studie liegt darin, erstmals alle Besatzungsgebiete in den Blick zu nehmen und somit ein umfassendes Bild zu zeichnen. Die Rolle der Finanzbeamten im Ausland gestaltete sich von Land zu Land unterschiedlich: Während die Vertreter des Reichsfinanzministeriums in einigen Gebieten die heimische Verwaltung weitgehend ablösten, übten sie in anderen Gebieten eher aufsichtsbehördliche Funktionen aus. Die Beziehungen zu den etablierten Behörden stellten sich meist als eine Mischung aus Zwang und Kollaboration dar. Die vom Ministerium vorgegebene Marschrichtung der Ausbeutung zeichnete sich insgesamt durch ein "axiomatische[s] Denkmuster" (444) aus: Man verfolgte das Ziel, ein Höchstmaß an Mitteln zu mobilisieren, ohne die langfristige finanz- und währungspolitische Ordnung zu zerstören, die man für den von Deutschland dominierten Großwirtschaftsraum im Sinn hatte. Der überwiegende Teil der im Rahmen dieses sozusagen geordneten Raubzuges akquirierten Mittel wurde direkt in den jeweiligen Ländern für den Kriegs- und Besatzungsunterhalt eingesetzt. Ein Drittel der mobilisierten Gesamtsumme, ca. 45 Milliarden Reichsmark, wurde allein in Frankreich generiert.
Im knappen letzten Kapitel geht Kilian der Frage nach der Beteiligung des Ministeriums an der Einziehung des jüdischen Vermögens im Ausland nach - und damit in letzter Konsequenz dem Beitrag zum Holocaust. Anhand von drei Fallbeispielen, im Protektorat Böhmen und Mähren, in Frankreich und im Reichskommissariat "Ostland", zeigt er, dass die Finanzabteilungen in ihrem Suchen nach neuen Geldquellen aktiv in die Massenenteignung involviert waren, etwa wenn sie in Böhmen und Mähren eine "Sozialausgleichsabgabe" für im Land befindliche Juden und "Zigeuner" initiierten. Nicht zuletzt aber weil die Finanzverwaltungsbehörden keinen Exklusivanspruch auf das "Judenvermögen" hatten und insbesondere mit SS-Vertretern vor Ort konkurrierten, bildeten die Erlöse mengenmäßig nur einen sehr "überschaubaren Anteil an dem gewaltigen Ressourcentransfer" (414). Die Beteiligung der Beamten an dem Raub interpretiert Kilian daher vor allem als "Indikator für den Grad der persönlichen Identifikation" (445) mit dem NS-Regime.
Jürgen Kilian schließt mit seiner wichtigen Studie eine Forschungslücke und belegt schlüssig und faktenreich, was man zuvor nur ahnte: Auch das Reichsfinanzministerium mit seinen Verwaltungsfachleuten trug - wie letztlich fast jede Behörde im Deutschen Reich - zur Stabilität und Legitimität des NS-Regimes bei. Es war überdies in zentrale NS-Verbrechen involviert. Die umfassende und differenzierte Neubilanzierung der in den besetzten Gebieten mobilisierten Mittel liefert ein profundes Bild des als Verwaltungstätigkeit getarnten Raubzugs und zeigt: Ohne die maßgeblich von den Beamten des Reichsfinanzministeriums vorangetriebene Ausbeutung der vom Deutschen Reich besetzten Länder wäre der Krieg gegen die militärische und ökonomische Übermacht der Alliierten niemals bis 1945 durchzuhalten gewesen.
Anmerkungen:
[1] Götz Aly: Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Frankfurt/M. 2005.
[2] Adam Tooze: Ökonomie der Zerstörung. Die Geschichte der Wirtschaft im Nationalsozialismus, München 2008.
Paul-Moritz Rabe