Alain Duplouy / Roger Brock (eds.): Defining Citizenship in Archaic Greece, Oxford: Oxford University Press 2018, XIII + 370 S., 5 s/w-Abb., ISBN 978-0-19-881719-2, GBP 80,00
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Jakob Filonik / Christine Plastow / Rachel Zelnick-Abramovitz (eds.): Citizenship in Antiquity. Civic Communities in the Ancient Mediterranean, London / New York: Routledge 2023
Josine Blok: Citizenship in Classical Athens, Cambridge: Cambridge University Press 2017
Demetra Kasimis: The Perpetual Immigrant and the Limits of Athenian Democracy, Cambridge: Cambridge University Press 2018
Nach Aristoteles Verständnis ist Bürger, wer an politischen Ämtern und Gericht teilnimmt (Pol. 1275a22-24). Die Herausgeber dieses reichhaltigen und anregenden Bandes weisen darauf hin, dass die aristotelische Definition tief im philosophischen und politischen Denken der klassischen Zeit verwurzelt sei und sich zur Beschreibung der früheren Jahrhunderte und der Dynamik der Poliswerdung weniger gut eigne. Ziel ist es daher, nach neuen Wegen zu suchen, das archaische Bürgerrecht zu erfassen. (1)
Im einleitenden Kapitel (1-49) bietet A. Duplouy eine prägnante Analyse der Forschung über das griechische Bürgerrecht. J. Davies analysiert die Staatsentwicklung in Griechenland der frühen Eisenzeit (51-78). Er vermeidet den Begriff citizenship und versucht stattdessen, die Hauptkräfte zu identifizieren, die dieses Phänomen hervorgebracht haben. (76) Viele Beiträge dieses Bandes untersuchen citizenship als performance, die sich in verschiedenen Bereichen erweist. So analysiert J. Blok insbesondere den Kult (79-101), H. van Wees den Krieg (103-143), P. Ismard die Gliederungen der attischen (145-159), M. Lupi die der spartanischen Bürgerschaft (161-178). J. Whitley beleuchtet das kretische andreion (227-248), N. Fisher die Athletik. (189-225) P. Cartledge zeigt, wie performance im archaischen Sparta zum Bürgerstatus werden konnte (179-188), während M. Giangiulio argumentiert, dass in den sogenannten Oligarchien die numerisch beschränkte Volksversammlung in Wahrheit für die gesamte Bürgerschaft stand. (275-293) Duplouy plädiert in seinem weiteren Kapitel (249-274) dafür, Bürgerrecht generell als performance, nicht als rechtlichen Status zu begreifen. R. Brock steuert ein wichtiges Schlusskapitel bei. (295-304).
Besonders interessant ist die Auseinandersetzung vieler Autoren mit Aristoteles' Definition, was am Beispiel der Beiträge von Duplouy und Blok, als auch der Schlussbemerkungen von Brock, gezeigt werden kann. Duplouy akzentuiert mit Recht die Kritik an der aristotelischen Konzeption und den davon beeinflussten modernen Interpretationen. Einige Aspekte dieser Kritik scheinen jedoch problematisch zu sein. So bedeuten die Tatsache, dass die meisten archaischen Bürger nicht "volle Bürger" im aristotelischen Sinne waren, und das Werturteil, das archaische Bürgerrecht sei "unvollständig" oder "unentwickelt" gewesen (14-17, 249), nicht, dass eine solche Definition für die Frage ganz untauglich ist. Wie die archaischen Griechen sich als Mitglieder der bestimmten Gemeinschaft verstanden haben, ist wichtig. Doch diese "emischen" Vorstellungen (43) oder Selbstbeschreibungen müssen nicht automatisch in einen umfassenden wissenschaftlichen Begriff des archaischen Bürgers inkorporiert werden, besonders wenn man glaubt, dass es auch in der klassischen Zeit immer noch "verschiedene Auffassungen vom Bürgerstatus" gab (49, vgl. auch 295). In gewisser Weise erinnert all dies an die Schwierigkeiten bei der Untersuchung der römischen Selbstbeschreibung als eine politische Gemeinschaft mittels der publicus-privatus-Dichotomie, deren Anwendung - besonders in der Kaiserzeit - durch Differenzen und Paradoxien gekennzeichnet ist (vgl. die Arbeiten von A. Winterling).
Bürgerlisten wurden in griechischen Poleis lange nicht geführt; das führte dazu, dass die Privilegien und die Möglichkeiten eines Bürgers immer wieder demonstriert werden mussten, damit sie von den anderen anerkannt werden konnten, so Duplouy. (250) Man fragt sich aber, ob die Tendenz, das Bürgerrecht zu formalisieren, sich nicht gerade deshalb entwickelte, weil citizenship als bloße Performance, Partizipation und Handeln nicht (mehr) funktionierte, was uns zum Begriff des "unvollständigen" archaischen Bürgerrechtes zurückbringt. Duplouy meint, dass man sich wie ein Bürger verhalten musste, um als Bürger angenommen zu werden. (252) Da jedoch die Imitation einer bestimmten performance durch einen Nichtbürger kaum ausreichte, ihn als einen Bürger akzeptiert zu machen, bleibt die Frage, wie die performance selbst legitim oder akzeptabel gemacht wurde. Duplouy scheint gerade dieses Problem zu erkennen, indem er in seiner Analyse des äolischen Kyme zugibt, es sei nicht möglich zu sagen, welcher Status oder welches Handeln - Bürgerrecht oder Pferdezucht - Priorität vor dem anderen hatte. (256)
Josine Blok, Autorin eines neueren Buches über Bürgerrecht im klassischen Athen (Cambridge 2017), argumentiert, dass das griechische Bürgerrecht durch die Beteiligung am Kult definiert war. Dieser anregende Beitrag wirft viele schwierige Fragen auf. Wie können wir nachprüfen, dass man Bürger war, weil man an einem Kult teilgenommen hat, und dass man an einem bestimmten Kult nicht aufgrund seines Bürgerstatus teilnehmen konnte, der durch etwas anderes definiert wurde? Wenn das Recht, an politischen Entscheidungen teilzunehmen (und potenziell auch Amtsträger zu werden), in der archaischen Zeit noch unentwickelt war oder zu exklusiv scheint, ist die Partizipation am Kult vielleicht zu inklusiv oder für den Bürgerstatus nicht hinreichend spezifisch? Letztendlich erweist es sich als schwierig, bei der Analyse der Zugehörigkeit in der archaischen Polis nicht auf die Frage der formalen politischen Partizipation zurückzukommen. Wie Blok selbst erwähnt, verweist das berühmte Gesetz von Dreros aus der Mitte des 7. Jahrhunderts über die Rotation des Amtes des kosmos auf die Polis als eine Entscheidungsgemeinschaft. (98)
Brock betont die Vielfalt der Ansätze in diesem Band und die Diversität der Kriterien des Bürgerrechts, die in der archaischen Zeit angeblich galten. (295) Er stellt mit Recht die Frage, ob der Begriff citizenship, der einen rechtlich definierten Status doch immer impliziert, der richtige ist. (296) Im vorliegenden Band ist die Antwort eher negativ. Hier werden viele alternative Vorschläge gemacht, die genauer widerzuspiegeln scheinen, worum es in diesem Buch geht. Brock erwähnt einige dieser Begriffe: Integration in die Gemeinschaft, "sense of the community", "degree of organization and of differentiation", "modes of affiliation to and/or participation in a community", "community membership", "community participation". (296-297) Im Hinblick darauf fragt sich der Leser, ob es wahrscheinlich hilfreich sein kann, den wissenschaftlichen Begriff "Bürgerrecht" für das zu reservieren, was er normalerweise "im klassischen Athen und in der modernen Welt" (296) bezeichnet, d. h. für den rechtlich definierten Status, der mit den politischen Rechten und Verpflichtungen verknüpft ist? Dementsprechend sollten die Fragen zu vielen der untersuchten archaischen Phänomene vom Bürgerrecht abgegrenzt werden, obwohl sie mit ihm natürlich eng verbunden sind. Ansonsten erfordert der Begriff citizenship in erweitertem Sinn immer wieder Erläuterungen (siehe z. B. 3 und 297, Anm. 2), was es schwieriger macht, der Debatte zu folgen. Die Koexistenz verschiedener Verständnisse desselben Forschungsbegriffs ist grundsätzlich möglich, aber im Falle der "Bürgerrechts" gibt es eben bereits eine Bedeutung, die die Erwartungen eines modernen Beobachters dominiert (trotz verschiedenen Neubewertungen).
Bürgerrecht ist ein wesentlicher Teil unseres Verständnisses der Polis. Wenn die Polis als citizen-state zu betrachten ist, wie es in diesem Band beispielsweise P. Cartledge tut (182), wird dann nicht logischerweise angenommen, dass es sich bei citizenship um die Zugehörigkeit zu der politischen Gemeinschaft handelt? In der Tat, weist Brock darauf hin, dass die Tätigkeit von Gesetzgebern seit der Mitte des 7. Jahrhunderts bereits die Existenz der Gemeinschaften verlangt, die die Kohärenz und organisatorische Fähigkeit besaßen, sich auf die Notwendigkeit der Gesetzgebung zu einigen und über die erforderlichen Maßnahmen zu entscheiden. (299) Aber wie kann all dies auf performance reduziert werden?
Brock hat sicherlich Recht, dass moderne Forscher ermutigt werden sollten, "to give greater weight to the other affiliations of individuals in archaic Greece and to think of citizenship not as all-embracing, but as only one of a suite of identities". (303) Zugleich meint Brock, der Begriff Bürgerrecht solle darauf beziehen, was er "distinct entities performing the same basic function (i.e. defining community membership) but not necessarily related" nennt. (297) Doch wenn sich der Begriff citizenship auf (alle Arten von) Entitäten bezieht, die Mitgliedschaft in der Gemeinschaft definieren, scheint er nicht gerade allumfassend?
Dieses sorgfältig hergestellte und edierte Buch bietet anregende Beobachtungen und lädt zur Debatte ein. Es wird hoffentlich die Aufmerksamkeit nicht nur derjenigen erwecken, die sich mit der antiken griechischen Geschichte auseinandersetzen, sondern auch aller, die daran interessiert sind, wie die Forschung generell mit der schwierigen Frage der Definition von "Bürgerrecht" und "Bürgersein" umgeht.
Roman M. Frolov