Lucy Audley-Miller / Beate Dignas (eds.): Wandering Myths. Transcultural Uses of Myth in the Ancient World, Berlin: De Gruyter 2018, LIV + 427 S., 10 Kt., zahlr. Abb., ISBN 978-3-11-041685-5, EUR 129,95
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Benjamin Isaac: The Invention of Racism in Classical Antiquity, Princeton / Oxford: Princeton University Press 2004
Erich S. Gruen (ed.): Cultural Borrowings and Ethnic Appropriations in Antiquity, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2005
Beate Dignas / Engelbert Winter: Rome and Persia in Late Antiquity. Neighbours and Rivals, Cambridge: Cambridge University Press 2007
Beate Dignas / Robert Parker / Guy G. Stroumsa (eds.): Priests and Prophets among Pagans, Jews and Christians, Leuven: Peeters 2013
Beate Dignas / R. R. R. Smith (eds.): Historical and Religious Memory in the Ancient World, Oxford: Oxford University Press 2012
Der Sammelband legt nach zwei Einleitungskapiteln von Beate Dignas und Lucy Audley-Miller (VII-XXXI) sowie Robin Lane Fox (XXXIII-LIV), welche die Thematik des Bandes in der aktuellen Mythenforschung verorten, 13 Einzelstudien über das vielschichtige, in der Forschung derzeit von verschiedenen Seiten der Altertumskunde und anderer Disziplinen diskutierte Problem der "wandernden Mythen" sowie einen gedankenreichen Epilog von Robert Parker vor. Die interdisziplinären Beiträge decken einen breiten geographischen Raum vom Mittelmeergebiet über Kleinasien, Iran und Mesopotamien bis nach Ägypten ab. Sie spannen einen großen chronologischen Bogen von den mythischen Zeiten des Gilgamesch-Epos und der homerischen Epenwelt bis in die römische Kaiserzeit. Erfreulich ist auch eine methodische Vielfalt der Studien und die wechselnde Fokussierung auf verschiedene Quellengattungen.
Der schillernde Begriff 'Mythos' hat sich bisher einer allgemein zwischen verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen anerkannten Definition entzogen. Daher konstatiert Parker zutreffend mit leichter Ironie: "of myth, no prudent person will attempt a definition". Parker bevorzugt den Begriff "wandering stories" als eine "more workable category" (397). Man könnte vielleicht auch vorschlagen 'wandering stories, motives and figures'. "Wandernde Mythen" im Sinne dieses zu besprechenden Bandes meinen insbesondere Geschichten, die ursprünglich an einem bestimmten Ort spielten, dann aber an einem oder mehreren neuen anderen Orten bzw. Regionen erzählt werden. Andere Geschichten spielen zwar weiterhin am alten ursprünglichen Ort, werden aber dann auch in ganz anderer, fremder Umwelt weit davon entfernt erzählt und dabei verändernd rezipiert (Trojanischer Krieg). Oder ältere Versionen einer Geschichte werden kreativ um zusätzliche weitere Orte / Regionen und Personen erweitert. Ältere Geschichten werden oft auch von Einzelnen oder Gruppen als Teil ihrer ursprünglichen Identität in ferne Länder mitgenommen (z.B. von den griechischen Kolonisten oder den Teilnehmern des Alexanderzuges). Die genauen Charaktereigenschaften bestimmter Personen in griechischen Mythen unterscheiden sich trotz unverkennbarer Einflüsse fast immer deutlich von ihren möglichen nahöstlichen Vorbildern. Als methodisch wichtig erweist es sich bei jedem "wandernden Mythos", die sehr unterschiedlichen Mediatoren (Händler, Kolonisten, Krieger und Armeen, Literaten, Künstler und Gelehrte usw.) und Rezipientengruppen ebenso zu differenzieren wie die in diesen transkulturellen Prozessen besonders beliebten Medien, in denen solche Mythen wandern, wie z.B. schriftliche Texte (Epen, Tragödien etc.), Lieder, Bilder (auf Münzen, Keramikgefäßen, Reliefs, Wandmalereien), sonstige Artefakte. In der Kürze dieser Besprechung kann ich nur einzelne, mir besonders interessant erscheinende Beiträge aus den drei thematischen Blöcken des gesamten Bandes herausgreifen, empfehle aber auch alle anderen zur Lektüre (vgl. das Inhaltsverzeichnis).
Die erste Gruppe von Beiträgen konzentriert sich auf "Changing Cultural and Mythical Landscapes in Anatolia". Aus althistorischer Sicht besonders interessant ist unter diesen Tanja S. Scheer, Myth, Memory and the Past. Wandering Heroes between Arcadia and Cyprus, 71-91. Sie untersucht arkadische Helden, die angeblich nach dem Trojanischen Krieg nach Zypern verschlagen wurden, darunter Agapenor aus Tegea als mythischer Gründer des zyprischen Paphos. Die mythologischen Traditionen über die Rolle arkadischer Helden auf Zypern und die Beziehungen zwischen Zypern und Arkadien wurden zu bestimmten historischen Epochen besonders intensiv weiterentwickelt und offenbar offensiv propagiert, z.B. als Zypern machtpolitisch zwischen den attischen Seebünden und dem Achaimenidenreich stand oder im Rahmen der Konflikte der Diadochenreiche. Vor allem die Ptolemäer (wie der Arkader Ptolemaios von Megalopolis als ptolemäischer Stratege auf Zypern) zeigten ein starkes Interesse an Zypern, seiner Geschichte und Mythologie. Die alten Mythen wanderten mit Personen, die sie aus aktuellen Interessen kommunizierten und insbesondere durch Objekte, die sich mit diesen Mythen eng verbanden, wie Kultbilder, Vasenbilder oder Statuen (87). Im Hellenismus spielten nicht selten "wandernde Mythen" eine wichtige Rolle bei der Konstruktion und der Bekräftigung von Syngeneia-Beziehungen oder dem Abschluss von Asylia- und Isopolitia-Vereinbarungen.
Die zweite Gruppe behandelt "Reception and Innovation of Mythological Programmes between Greece and Italy". Dieser geographische Fokus bietet sich aufgrund der reichen Quellenlage sehr an. Unter den Medien der wandernden Mythen(-programme) und ihrer Rezeption in Italien werden Bronzespiegel, Keramikgefäße (insbesondere Vasenbilder), Münzbilder, Literaturwerke, Wandmalereien und Sarkophage diskutiert. Ich möchte einen Beitrag von Luca Giuliani, Pots, Plots, and Performance. Comic and Tragic Iconography in Apulian Vase Painting, 125-142, herausgreifen. Er beobachtet auf apulischen Vasen insbesondere des 4. Jh.s den auffällig großen Reichtum an verschiedenen mythologischen Figuren und Themen, die meist aus Mythen stammen, die in Athen (oder Attika) beheimatet waren. Es überragen Einflüsse der Stoffe aus athenischen Tragödien. Giuliani konstatiert hierbei eine 'doppelte' Wanderung, regional von Attika nach Apulien und in andere Regionen Italiens und mit Blick auf die Medien des Mythos von der literarischen Behandlung und der performativen Bühnentradition hin zu Vasenbildern.
Die Beiträge der dritten Gruppe ("Wandering East, Wandering South") weiten den geographischen Rahmen erfreulich weit nach Osten und Süden aus. Martin West, Gilgāmeš and Homer: The Missing Link?, 265-280, konstatiert auffällige, enge Motivparallelen zwischen den homerischen Epen und dem Gilgamesch-Epos. Gab es nun aber eine direkte Beeinflussung Homers (bzw. der Dichter der homerischen Epen) durch das Gilgamesch-Epos? West stellt hierzu eine interessante Hypothese auf, nämlich ein nur mündlich überliefertes, später verlorenes Herakles-Epos als "missing link" zwischen beiden Epen. Rana Sérida, Myth, Memory, and Mimesis. The Inaros Cycle as Literature of Resistance, 281-307, stellt den Mythenkreis um Inaros als die umfangreichste Sammlung von Geschichten um eine einzige historische Person in der demotisch-ägyptischen Literatur vor. Die Verschriftlichung und Instrumentalisierung der Mythen um Inaros als letzten mächtigen indigenen ägyptischen Pharao erfolgte wohl unter Einfluss der ägyptischen Priesterschaften, die an die alte, unter der Oberherrschaft der Perser, Ptolemäer und Römer verlorene Größe Ägyptens erinnern wollten und für sich in einem Akt der "willed nostalgia" eine prominentere Rolle einforderten. Daher sei die Verschriftlichung des Inaros-Zyklos auch als ein Akt des literarischen Widerstandes zu interpretieren.
In seinem konzisen Epilog fasst Robert Parker (397-403) Leitgedanken des Bandes erneut zusammen. Treffend bezeichnet er wandernde Mythen dann als Teil einer "common cultural heritage" (401) zuerst der mittelmeerischen Völker und Kulturen, später aller Kulturvölker der Welt, also als ein allgemeines und gemeinsames Erbe oder 'Bildungsgut'. Der Band kann zunächst allen Altertumskundlern, darüber hinaus aber auch Lesern aus anderen, an der Erforschung des Mythos interessierten Disziplinen empfohlen werden.
Johannes Engels