Jan Hennings: Russia and Courtly Europe. Ritual and the Culture of Diplomacy, 1648-1725 (= New Studies in European History), Cambridge: Cambridge University Press 2016, XII + 297 S., ISBN 978-1-107-05059-4, GBP 64,99
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Der vorliegende Band basiert auf einer 2011 an der Universität Cambridge verteidigten Dissertation. In seinem Buch, in dem er in elf Bibliotheken und Archiven in Russland, Frankreich, England und Österreich forschte, erzählt Hennings die vielfältige Geschichte der Interaktionen der russischen Diplomatie mit der europäischen höfischen Gesellschaft. Gegliedert ist der Band durch eine Einleitung und fünf darauffolgende Fallstudien, die jeweils ein Kapitel einnehmen. Die Einleitung selbst ist theorielastig, wobei ein Hang zu reichen Belegen für die zugrunde gelegten Überlegungen hervorsticht. Hennings thematisiert hier so viele verschiedene historiografische Schulen, dass der Leser leicht einzelne Fäden und Konzepte aus dem Auge verlieren kann. Das setzt sich auch in den anschließenden Fallstudien fort.
Das Buch setzt an aktuellen Forschungsfragen der russisch-europäischen Austauschbeziehungen im 17. und 18. Jahrhundert an und bietet neue Lösungen. Erstens greift Hennings dafür auf die reiche Literatur über Rituale und Zeremonien in der Frühen Neuzeit zurück und versteht anschließend an Stollberg-Rilinger die Präzedenzkonflikte der europäischen höfischen Gesellschaft nicht als bloße Manifestation der frühneuzeitlichen Obsession mit leeren Ritualen, sondern als bedeutungsstiftende Auseinandersetzungen über die imaginierte Position in der höfischen Gesellschaft der Frühen Neuzeit. (3, 68) Dabei betont er, dass Rituale und Zeremonien das Leben der Diplomaten auf ausländischem Boden, von der Grenze bis zum Herrscherhof, definiert und begleitet haben.
Zweitens diskutiert er ausführlich die russische und europäisch-amerikanische Historiographie zum Zarenreich. Hier bricht Hennings mit der traditionellen Chronologie, die das 17. und 18. Jahrhundert voneinander trennt. Stattdessen konzeptualisiert er überzeugend beide Jahrhunderte als zusammenhängend und distanziert sich von den Modernisierungs- und Europäisierungsdiskursen der russischen, aber auch amerikanischen Geschichtsschreibung, die traditionell mit der Person und Herrschaft Peters des Großen identifiziert werden. So gelingt es ihm, die Kontinuität der diplomatischen Praktiken zu betonen, und nicht die abrupten, gar revolutionären Reformen Peter des Großen, die zum Teil eine Erfindung der Geschichtsschreibung sind. Dafür greift er in den Kapiteln gekonnt auf französische, deutsche und russische Quellen sowie Geschichtsschreibung zurück und bringt diese mit einander in Dialog.
Drittens öffnet sein Buch erfrischende Perspektiven der "neuen Diplomatiegeschichte", die von John Watkins in dem programmatischen Artikel aus 2008 etabliert wurde. [1] Die im letzten Jahrzehnt bekundete Renaissance der Diplomatiegeschichte mit einem sozial- und kulturgeschichtlichen Fokus lässt einen jedoch nachfragen, was denn eigentlich neue Diplomatiegeschichte ist. Sie sollte unsere Aufmerksamkeit weg von Staatsbildung und Machtausübung in die Richtung einer akteurszentrierten, d.h. auch nicht-gouvermentale Akteure berücksichtigenden Perspektive lenken. [2] Nur so kann berücksichtigt werden, dass die diplomatischen Realitäten der Frühen Neuzeit viel komplexer waren als die anachronistischen Vorstellungen der internationalen Geschichte, die nur den Staat und die Nation in den Blick nehmen. Neue Diplomatiegeschichte sollte auch eine holistische Perspektive auf die Strukturen der diplomatischen Praxis einnehmen und weg von Ereignisgeschichte und politischen Verhandlungen gehen. [3] Dazu wirft sie Licht nicht nur auf Diplomaten, sondern auch auf ihre soziale Umgebung (Familie, und Hof) und ihre Rolle als Mediatoren, etwa in kulturellem Austausch. [4] Der Sammelbegriff der neuen Diplomatiegeschichte wird dabei oft so breit gefasst, dass er alles was nicht politische Ereignisgeschichte ist subsumiert, oft ohne einen Definitionsversuch.
Hennings selbst beschäftigt sich in seinem Buch mit staatlichen Akteuren und bevorzugt Quellen staatlicher Provenienz. Dies ist durchaus angemessen, da er den Diplomaten nicht als die von Catherine Fletcher vorgeschlagene persona mixta sieht, also eine "dual but insufficiently separate figure in which official and private incomes and functions overlapped in a complex manner", [5] sondern als Verkörperung der herrschaftlichen Repräsentation. So erfährt der Leser z.B. detailliert die Geschichte des Zeremonialkonflikts zwischen Charles Howard Earl of Carlisle, dem englischen Gesandten am russischen Hof (1663/1664), und russischen Hofbeamten, der letztendlich zum Scheitern der Mission führte. Hennings interpretiert Carlisles Mission neu und verweist auf die Bedeutung kleinster Veränderungen des Zeremoniells für die Machtverhältnisse in der höfischen Gesellschaft. Damit unterstreicht er auch die Rolle der zeremoniellen Reziprozität in der Diplomatie der Frühen Neuzeit. Hennings sieht jedoch Carlisle und andere Diplomaten fast ausschließlich in ihrer diplomatischen Persona. In der Folge verlieren seine Diplomaten ihre Vielfältigkeit und erscheinen oft als Marionetten im europäischen Theater der Rituale, Zeremonien und symbolischen Kommunikation, als Gefangene von "Zeremonialwissenschaft" und "ius precedentiae". Einerseits erlernten Diplomaten die Sprache des Zeremoniells bevor sie einen Posten annahmen. Andererseits allerdings ließen die mangelnden Kommunikationswege der Frühen Neuzeit und das monatelange Warten auf höfische Anweisungen ihnen einen Spielraum innerhalb des Zeremoniells, den sie gerne ausnutzten.
Hennings Ziel ist es, die russischen Diplomaten in der Welt der europäischen höfischen Gesellschaft zu verorten und dies tut er mit überzeugender Genauigkeit. Anstatt eine einfache Antwort anzubieten, suggeriert er, dass russische Diplomatie und Zeremonien die Stelle des Mediators zwischen den überwiegend muslimischen Steppenkulturen und der westeuropäischen Traditionen spielten. Zu fragen wäre, in wieweit diese Mediatorenrolle zwischen dem Moskauer Reich und Polen-Litauen geteilt wurde. [6] Hennings Buch wird zukünftig als Standardwerk der Geschichtsschreibung zur russischen Diplomatie dienen. Die Menge der Arbeit, die er geleistet hat, ist bewundernswert und würde ganz sicher für mehr als eine Monographie ausreichen. Es bleibt zu hoffen, dass sein Werk nicht nur von Osteuropahistorikern rezipiert wird, sondern auch von Forschern, die vergleichende Geschichte der frühneuzeitlichen Diplomatie betreiben und die nach Beispielen der transkulturellen diplomatischen Missverständnisse sowie Kommensurabilität suchen.
Anmerkungen:
[1] John Watkins: Toward a New Diplomatic History of Medieval and Early Modern Europe, in: Journal of Medieval and Early Modern Studies, vol. 38 (2008), issue 1, 1-14.
[2] Hillard von Thiessen / Christian Windler: Einleitung: Aussenbeziehungen in akteurzentrierter Perspektive, in: Akteure der Aussenbeziehungen: Netzwerke und Interkulturalität im historischen Wandel, hgg. von Hillard von Thiessen / Christian Windler, Köln 2010, 2.
[3] Giacomo Giudici: From New Diplomatic History to New Political History: The Rise of the Holistic Approach, in: European History Quarterly, vol. 48 (2018), issue 2, 314-315.
[4] Jennifer Mori: The Culture of Diplomacy: Britain in Europe, c. 1750-1830, Manchester 2010, 8-9.
[5] Catherine Fletcher: Diplomacy in Renaissance Rome: The Rise of the Resident Ambassador, Cambridge 2015, 37.
[6] Es wäre durchaus angemessen anstatt der veralteten Werken Solovievs, (251-252) dort wo Hennings die krimtatarische Diplomatie thematisiert, die Werke Dariusz Kołodziejczyks zu nutzen, der ständig polnisch-litauische und russische Diplomatie auf der Krim während der Frühen Neuzeit vergleicht, siehe: http://www.sehepunkte.de/2013/09/22261.html
Mariusz Kaczka