Sandra Schmitt: Das Ringen um das Selbst. Schizophrenie in Wissenschaft, Gesellschaft und Kultur nach 1945 (= Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte; Bd. 118), Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2018, VIII + 477 S., ISBN 978-3-11-052916-6, EUR 69,95
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Wohl kaum ein anderes Krankheitskonzept aus dem Fachbereich der Psychiatrie beschäftigt die breitere Öffentlichkeit so sehr wie das 1908 von Eugen Bleuler als "Schizophrenie" eingeführte. Es gibt Anlass für Spekulationen und Mythen, nicht selten für schaurige Furcht.
Entsprechende Erwartungen erfüllt die Historikerin Sandra Schmitt mit ihrer bei Andreas Wirsching und Heinz-Peter Schmiedebach entstandenen Dissertation. Direkt zu Beginn ihres Buches erinnert sie an die Attentate auf Oskar Lafontaine und Wolfgang Schäuble, auch an Anders Behring Breiviks Anschläge in Oslo und auf Utøya. In eine andere Richtung weist die Angst, vom Umfeld für verrückt erklärt zu werden. Schmitt nennt exemplarisch den vieldiskutierten Fall Gustl Mollath.
Nicht nur kulturgeschichtlich ist in diesem Zusammenhang die Stigmatisierung von psychisch Kranken von Bedeutung. Obwohl die Erkrankungen in breit angelegten Kampagnen in Massenmedien wissenschaftlich erläutert wurden, sank das allgemeine Verständnis für Betroffene von 1990 bis 2011 weiter ab. Furcht und Stigmatisierung sind somit von Anfang an Marksteine in Schmitts Studie, das jüngere Werke zur Psychiatrie vor 1945 - vor allem Brigitte Bernets "Schizophrenie" (2012) und Angela Woods' "The Sublime Object of Psychiatry" (2011) - mit Blick auf den deutschen Sprachraum der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ergänzt.
Das Buch ist in fünf Abschnitte gegliedert. Zunächst widmet sich Schmitt der Vorgeschichte ihres Themas, der Etablierung der Psychiatrie im 19. Jahrhundert, auch der "therapeutischen Hilfslosigkeit" (45) trotz der vor allem mit dem Namen Eugen Bleuler verbundenen, gegenüber Hypnose-, Suggestions- und Psychotherapie offenen Ansätzen der Zürcher Schule. Ausführlich wendet sich Schmitt der Bleuler-Rezeption durch Karl Jaspers zu. Jaspers vertraute dem Direktor der Klinik Burghölzli weit mehr als beispielswiese Sigmund Freud. Als wichtige Station der Psychiatriegeschichte markiert die Autorin den Ersten Weltkrieg, der nach verbreiteter Auffassung "die pathologische Konstitution" von Soldaten an den Tag brachte (56). Der "Kriegszitterer" war demnach erblich vorbelastet, konnte als "degeneriert" gelten (57).
So schreitet Schmitt die Jahrzehnte vor ihrem eigentlichen Untersuchungszeitraum einschließlich der NS-Zeit mit ihren Verbrechen gegen Psychiatriepatienten zügig ab. Dabei entsteht ein wertvoller Literaturbericht, der die jüngeren Forschungsergebnisse von Autorinnen und Autoren wie Bernet, Susanne Michl, Hans-Georg Hofer und Volker Roelcke souverän zusammenfasst.
Diesen zwischen Literaturbericht und Lehrbuch changierenden Charakter behält die Studie über weite Strecken bei. Der Informierte erfährt wenig Neues, wird auch selten mit originellen Deutungen konfrontiert, erhält aber eine nüchterne Zusammenfassung unseres Wissens zur Bedeutung der "Schizophrenie" für die Gesellschaften in der Bundesrepublik und in der DDR.
So werden im zweiten Abschnitt nicht nur die sprachlichen Folgen der Verrohung in der NS-Zeit für die Psychiatrie nach 1945 beschrieben. Schmitt kann veranschaulichen, wie allmählich "Lebensgeschichte und Umwelt" als Elemente von Anamnese und Therapie wiederentdeckt wurden (71). Exemplarisch schildert die Autorin die Entwicklung in Heidelberg mit ihren Exponenten Kurt Schneider und Walter von Baeyer, ohne externe Einflüsse etwa aus den USA zu vernachlässigen. Ausführlich wiedergegebene Fallbeispiele aus der psychoanalytischen Fachzeitschrift "Psyche" veranschaulichen die Entwicklung.
Das dritte Großkapitel widmet sich der Entwicklung "in der ostdeutschen Psychiatrie 1950-1980". Hier wird ebenfalls eine dreistufige Abfolge konstatiert. Für die Bundesrepublik gilt, dass der "Kritik an der herrschenden Lehre" eine "Phase der Offenheit" für neue Therapieformen folgte, die in der Integration der neuen Ansätze in einem "biopsychosozialen Modell" mündete (202). In der DDR folgte der von Schmitt eingehend betrachteten Orientierung an Iwan Pawlows Erregungs- und Hemmungslehre bis in die Sechzigerjahre eine Phase, "nicht-biologische Wissenszugänge" zu tabuisieren, bevor Psychotherapie und Psychoanalyse Eingang in die Praxis fanden (202). Für die Spätphase der deutschen Teilung kontrastiert die Autorin eine westliche "Vorstellung von Schizophrenie als einer eigenen Wahrnehmungs-, Erlebens- und Daseinsweise" mit der östlichen Sicht, die den "sozialen Aspekte[n] und Konsequenzen" größere Beachtung schenkte (271). Letztlich aber habe man "die sozialpsychiatrischen Anliegen" als "gemeinsame Themen und gemeinsame Ziele" aufgefasst (271).
Der vierte Abschnitt des Buchs nimmt verstärkt die gesellschaftliche Rezeption von "Schizophrenie" in den Blick. Hier werden die in der Einleitung angesprochenen Ängste, verdichtet etwa in Alfred Hitchcocks "Psycho", wieder aufgenommen, vor allem aber rückt die Psychiatriekritik der Sechziger- und Siebzigerjahre in den Vordergrund. Eine "disziplinierende Psychiatrie" geriet in Misskredit, zumal der Missbrauch der Psychiatrie zur Abstrafung von Dissidenten in der Sowjetunion ein mediales Thema des Westens wurde. Ausführlich widmet sich Schmitt Psychiatriekritikern wie Ronald D. Laing, David Cooper und Thomas Szasz, auch Michel Foucault und Klaus Dörner. Franco Basaglia spielt kaum eine Rolle. Der Name Wolfgang Huber, Leiter des jüngst wieder verstärkt thematisierten "Sozialistischen Patienten-Kollektivs" in Heidelberg, findet sich im Personenregister nicht.
Liest man das im engeren Sinne kulturhistorische Aspekte behandelnden fünfte und letzte Großkapitel, so folgen einer schnellen Titelfolge von Romanen mit Bezügen zur Schizophrenie aufschlussreiche Rezeptionsgeschichten. Miloš Formans Film "Einer flog über Kuckucksnest" mit seinem Plädoyer für "Menschenwürde, Freiheit, Möglichkeiten des Andersseins" (361) wird als in der DDR gefeierter Film vorgestellt, weil er die kapitalistische Psychiatrie in ihren Grundfesten erschüttert habe. So durfte in der Folge sogar der dem Film zugrunde liegende Roman Ken Keseys im Verlag "Volk und Welt" erscheinen. Freilich konnte der Film (1976) anders als der Roman (1962) allenfalls noch Verständnis in der breiten Öffentlichkeit erwecken, gesundheitspolitisch waren Reformen längst auf den Weg gebracht worden. Schmitt wendet sich nachfolgend weiteren Büchern und Verfilmungen auch unter Aspekten der Geschlechterforschung analytisch zu, die das Bild von der Schizophrenie in der Öffentlichkeit bestimmt haben.
Die Autorin blättert in ihrem Buch die "Vielfalt der Ansätze, Vorstellungen, Beschreibungen und Deutungen" auf, muss sich so epochalen Neuerungen wie der Einführung der Psychopharmaka stellen (427). Dabei bleibt ihre Perspektive die einer distanzierten Kennerin der Literatur. Die an der Basis geführten Debatten interessieren sie weniger, etwa die mannigfachen Initiativen zur gemeindenahen Versorgung, das Engagement der Achtundsechziger im Bereich der Psychiatrie oder die Psychiatrie-Enquête des Deutschen Bundestags mit der nachfolgenden großen Psychiatrie-Reform. Dies spiegelt sich im Quellenverzeichnis. Schmitt hat sich, von zwei Beständen im Bundesarchiv abgesehen, auf gedruckte Quellen beschränkt, diese freilich in großer Zahl berücksichtigt. Zu ihren Quellen zählen neben vorwiegend medizinischen Publikationen aus dem Untersuchungszeitraum auch Beiträge aus Tages- und Wochenzeitungen und -zeitschriften.
Sandra Schmitts Studie zur Schizophrenie nach 1945 wird ein unverzichtbares Nachschlagwerk werden, ist aber gewiss noch nicht das allumfassende Buch zum Thema. Was die äußere Gestaltung angeht, so lässt das auf Illustrationen verzichtende Buch, wie bei den "Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte" üblich, keine Wünsche offen.
Ralf Forsbach