Michail Chatzidakis: Ciriaco d'Ancona. Und die Wiederentdeckung Griechenlands im 15. Jahrhundert (= Cyriacus. Studien zur Rezeption der Antike ; Bd. 9), Petersberg: Michael Imhof Verlag 2017, VIII + 463 S., 46 Farb-, 525 s/w-Abb., ISBN 978-3-7319-0490-8, EUR 89,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.
Anton Powell (ed.): Hindsight in Greek and Roman History, Swansea: The Classical Press of Wales 2013
Alexandra Lianeri (ed.): Knowing Future Time In and Through Greek Historiography, Berlin: De Gruyter 2016
Johannes Brehm: Generationenbeziehungen in den Historien Herodots, Wiesbaden: Harrassowitz 2013
Thomas F. Scanlon: Greek Historiography, Hoboken, NJ: Wiley-Blackwell 2015
Rosalind Thomas: Polis Histories, Collective Memories and the Greek World, Cambridge: Cambridge University Press 2019
Ciriaco d'Ancona wird in der Kunstgeschichte zwar nicht gänzlich übersehen, aber seine Bedeutung für die Antikenrezeption in der Frührenaissance (und für den Frühhumanismus) wird doch nur am Rande gewürdigt. Das ändert die umfassende und gründliche Studie von Michail Chatzidakis "Ciriaco d'Ancona und die Wiederentdeckung Griechenlands im 15. Jahrhundert".
Nachdem im gleichnamigen Kapitel die "Wiederentdeckung Griechenlands im 15. Jahrhundert" als Thema allgemein eingeführt wird, geht es zunächst um den wichtigen Vorläufer Ciriacos, Cristoforo Buondelmonti (1386-1430), der eine eher geografische Erschließung der griechischen Inseln vorgelegt hatte. Dann wird auf Person und Werk Ciriacos eingegangen und die problematische Überlieferungssituation dargelegt. Die folgenden Kapitel und der eigentliche Hauptteil der Arbeit widmen sich dann zahlreichen Aspekten der griechischen Lebens- und Geisteswelt in der "Auffassung" Ciriacos (Götter, Denker, mythologische Gestalten, aber auch Mauerkonstruktionen, Numismatik etc.).
"Auffassung" ist dabei doppelsinnig: Es geht dem Autor nicht nur um eine Rekapitulation von Ciriacos aufgefasstem Objektwissen, sondern auch darum, welche Auffassungsgabe er besaß, bzw. wie er methodisch zu Erkenntnissen kam. Dabei deutet er nicht nur die Kommentare Ciriacos, sondern auch wie er nachzeichnet, kombiniert und gestaltet. In diesen Detailanalysen liegt ein Hauptbeitrag der Arbeit. Gleichzeitig ist für Chatzidakis Wissenschaftlichkeit ein besonders wichtiges Maß, und ein großer Teil der Argumentation müht sich darum wissenschaftliche Prämissen mit dem Vorgehen von Ciriaco zu vergleichen. Dabei wird nicht ganz deutlich, ob Ciriacos Methoden damit rückwirkend als exemplarisch und vorbildend bewiesen werden sollen [1] oder ob dessen Wissen vor dem Hintergrund der teilweise bewiesenen Wissenschaftlichkeit aufgewertet werden soll. Die dem Begriff zugrundeliegenden wissenschaftlichen Prämissen werden allerdings nur ansatzweise umschrieben und folgen eher einem common sense als einer wissenschaftsgeschichtlichen Theorietradition. Folgen kann man dem Autor dennoch in den Beobachtungen selbst, u.a. wenn er bei Ciriaco einen Paradigmenwechsel vollzogen sieht: weg vom antiken Text hin zum antiken Objekt, und ihm dabei eine konsequente Autopsie zuschreibt (53).
Erst im Schlussteil wird deutlich, dass die Fokussierung auf Ciriacos Wissenschaftlichkeit eine in der Archäologie lebhaft geführte Diskussion aufgreift, in der Ciriaco als Nestor des Faches etabliert werden soll. [2] Chatzidakis rekapituliert hier die Arbeitsweise Ciriacos in den von Raffael postulierten Aufgaben Ausgraben, Vermessen, Studieren, Interpretieren, Bewahren und Rekonstruieren. Obwohl er dabei einige Abstriche machen muss und entgegen Geyer die eigentlichen Leistungen Ciriacos besonders in Teildisziplinen der Archäologie sieht (193-194), schließt er sich zuletzt doch der Einschätzung von Roberto Weiss an, dass das archäologische Studium der griechischen Welt in der Renaissance praktisch mit Ciriaco begonnen und geendet hat (196).
Schon an der Gliederung ist zu erkennen, dass der Hauptteil mit seinen "Auffassungen" eine Art Katalog darstellt, der im klassischen ikonografischen Sinne wichtige Themen und Motive von Ciriaco in kurzen Kapiteln aufarbeitet. Damit entsteht eine produktive, fast lexikalische Gegenfolie zu den Studien, die Ciriaco biografisch, an der Chronologie seiner Reisen oder Schriften untersucht. Außerdem lässt sich durch diese Art der Untersuchung die Komplexität des Materials strukturieren und unter bildwissenschaftlichen, wissenschaftsgeschichtlichen und letztlich wiederum biografischen Aspekten abarbeiten.
Auch der historischen Vielschichtigkeit wird Rechnung getragen. Bei Begriffen wie "Athen" oder "Jupiter" wird immer über verschiedene Zeitebenen argumentiert und der Bedeutungswandel und die Befundlage von der Antike an, über das Mittelalter, Ciriacos Gegenwart, bis heute betrachtet. Dieser umfassende Katalog kann am ebenso umfangreichen Bildteil nachvollzogen werden, der neben den auf Ciriaco zurückgehenden Zeichnungen besonders viele Vergleichsfotografien der Objekte in situ zeigt, die hauptsächlich der Autor in zahlreichen Kampagnen in Griechenland angefertigt hat. Eine detaillierte Aufbereitung der Ergebnisse in Datenbankform ist unbedingt zu wünschen und im Grunde schon angelegt, da Chatzidakis den Standards des "Census of Antique Works of Art and Architecture Known in the Renaissance" folgt.
Die aufwendige Kompilierung und Analyse gelingt dem Autor durch interdisziplinäre Kompetenzen in Archäologie, Geschichte, Philologie und Kunstgeschichte sowie durch eine sehr genaue Kenntnis der beschriebenen Objekte und Örtlichkeiten. Nur dadurch sind zahlreiche Detailbeobachtungen möglich.
Die große Kennerschaft Chatzidakis ist die Stärke der Arbeit, die gelegentlich in eine Schwäche umschlägt, weil aus dieser - man kann sagen - Deutungshoheit alles einer strengen Bewertung unterzogen wird. Bemerkenswert ist dabei, dass jede Handlung eine emphatische Einschätzung erfährt, obwohl die Arbeit aufgrund ihrer Struktur und Methode psychologisch-biografischen Urteilen fern bleiben könnte. Entsprechend wird Ciriaco als 'getriebener' Kaufmann beschrieben, der aus diesem Habitus heraus seinen ganz originären Zugang zu den Altertümern findet. [3] Der Tonfall erinnert in diesen Passagen an die Charakterstudien Georg Voigts [4] und hätte etwas weniger eindringlich sein können. Insgesamt führt die große Nähe zum 'Protagonisten' gelegentlich zu Längen und Kleinteiligkeit.
Insgesamt eignet sich die materialreiche Studie hervorragend als Handbuch und Nachschlagewerk. Es wäre zu wünschen auch von anderen Frühhumanisten und Antiquaren solche "Auffassungs"-Kompedien zu besitzen. Ein Pendant gibt es erst fürs 17. Jahrhundert zu Cassiano dal Pozzo - eine Arbeit, die für Chatzidakis offenbar Vorbildcharakter hatte. [5]
Anmerkungen:
[1] Vgl. z.B. die "aus der Sicht heutiger Archäologie mustergültige Verkopplung von Erkenntnissen" (55), aber auch bei Buondelmonti kann gelegentlich "ein besonders moderner Zug seiner Antikenwahrnehmung" konstatiert werden (45).
[2] Vgl. Angelika Geyer: Kyriacus von Ancona oder die Anfänge der Archäologie, in: Boreas, Münstersche Beiträge zur Archäologie 26 (2003), 117-133; dagegen Andreas Grüner: Archäologie als Kapital - Die medialen Strategien des Cyriacus von Ancona (1390-1452), in: Münchner Jahrbuch Der Bildenden Kunst, 63 (2012), 7-36.
[3] Vgl. 12: "Gemäß der kaufmännischen Mentalität zeigt sich Ciriaco bereit, nicht blindlings Autoritäten zu folgen, sondern mit aufklärerischem Blick zunächst einmal selbst genau hinzuschauen."
[4] Georg Voigt: Die Wiederbelebung des classischen Alterthums oder das erste Jahrhundert des Humanismus, Berlin 1827-1891.
[5] Ingo Herklotz: Cassiano Dal Pozzo und die Archäologie des 17. Jahrhunderts, München 1999.
Peter Bell