Leonardo Sapienza (Hg.): Papst Paul VI.: Segeln im Gegenwind. Dokumente eines bewegten Pontifikates, Düsseldorf: Patmos 2018, 288 S., zahlr. s/w-Abb., ISBN 978-3-8436-1114-5, EUR 24,00
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In seiner einschlägigen Biographie zu Papst Paul VI. konstatierte Jörg Ernesti für den deutschsprachigen Raum, dass nicht "nur die Person und das Wirken" dieses Pontifex "als weitgehend 'vergessen' gelten" können, sondern "auch seine Ansprachen und Texte" [1]. Angesichts dessen erscheint eine Edition wichtiger Dokumente dieses Pontifikats als folgerichtig. Leonardo Sapienza trägt mit seiner Zusammenstellung von "Dokumente[n] eines bewegten Pontifikats", die nun in deutscher Übersetzung vorliegt, dazu bei, dieses Desiderat zu beseitigen.
Grundtenor des Buches ist die Verehrung des Editors für Paul VI. Zwei Beispiele: "Montini verstand es, das Schiff Petri mit starker und sicherer Hand - und zuweilen in großer Einsamkeit - zu steuern, die Einheit der Kirche zu bewahren, Vorhut und Nachhut wieder zusammenzubringen und das Depositum fidei zu schützen" (8). Und: "Doch Paul VI. wird das Ruder stets mit fester Hand zu halten wissen und die Kirche, immer von der Kraft des Geistes gelenkt, in den ersehnten Hafen steuern" (224 f.). Das Bild von der Kirche als Schiff mit dem Papst als Stellvertreter des Steuermanns Christus dient Sapienza als Grundmotiv. Paul VI. habe das Schiff sicher durch die stürmische See der 1960er und 1970er Jahre geführt, mit allen Veränderungen, Umwälzungen und Spannungen in Gesellschaft und Nachkonzilszeit.
Die edierten Texte, die in acht Kapitel gegliedert sind, sollen unter diesem Vorzeichen verstanden werden. Im Wesentlichen handelt es sich um zwei Arten von Quellen: Der überwiegende Teil sind (Auszüge aus) Ansprachen zum Angelus, an die Kurie, anlässlich von Generalaudienzen und so fort, die größtenteils den Acta Apostolicae Sedis, dem Osservatore Romano oder der Schriftenreihe "Papst Paul VI. Wort und Weisung" entnommen sind. In dem Kapitel "Auf dem Schiff" etwa werden Ansprachen von Paul VI. kumuliert, die diese nautische Metapher enthalten. Im folgenden Abschnitt "Die Kirche" werden Redebeiträge vorgelegt, die, wie der Editor in wenigen vorangestellten Sätzen bemerkt, die Liebe des Papstes zur Kirche illustrieren sollen. Nähere Kriterien für die Auswahl der Texte, die aus verschiedenen Phasen des Pontifikats stammen, werden nicht einsichtig. Ebenso fehlt jede zeitliche und sachliche Einordnung.
Die zweite Gruppe von circa 20 Dokumenten besteht in bislang unveröffentlichten Briefen, Notizen und ähnlichem, die sowohl faksimiliert als auch in Übersetzung abgedruckt werden. Da bei diesen Dokumenten prinzipiell auf Quellenangaben verzichtet wird, kann der Leser nur vermuten, dass sie aus den vatikanischen Archiven stammen und dem Herausgeber angesichts der Sperrfristen durch Sondererlaubnis zur Verfügung gestellt wurden. Nicht alle Texte jedoch erfüllen die Erwartungen. Im Kapitel "Das Herz eines Bischofs" finden sich vier Schreiben aus der Zeit Montinis als Erzbischof von Mailand: Ein Dankesschreiben an Pius XII. vom 3. Januar 1955, dem Vorabend seiner Abreise nach Mailand; ein weiteres Dankesschreiben an Johannes XXIII. vom 21. Januar 1959 anlässlich einer Geldzuwendung; schließlich zwei Briefe an den Substituten des Staatssekretariats Angelo Dell'Acqua vom 8. Januar 1963, in denen Montini Vorschläge für die Bischofseinsetzung der vakanten Nachbardiözese Novara unterbreitete, die von kurialer Seite freilich nicht berücksichtigt wurden. Die Zusammenstellung dieser Quellen erscheint als willkürlich und vermag keinen Eindruck seines erzbischöflichen Wirkens zu vermitteln, wie die Kapitelüberschrift erwarten lässt. Es ist außerdem fraglich, ob der Quellengehalt, insbesondere der Dankesschreiben, so hoch einzuschätzen ist, dass er eine Edition in Form solch isolierter Aneinanderreihung rechtfertigt.
Einige der vorgelegten Dokumente sind gewiss einschlägig und vermögen das Bild von Paul VI. zu bereichern. Das gilt beispielsweise für das Protokoll der Audienz, die der Papst Erzbischof Marcel Lefebvre am 11. September 1976 gewährte, und die einen sehr autoritativen Zug in seiner Amtsführung aufscheinen lässt. Paul VI. warf Lefebvre Untreue zur Kirche vor und forderte Gehorsam ein, ließ sich jedoch auf eine inhaltliche Diskussion über etwa die Situation der liturgischen Praxis oder der Priesterausbildung nicht ein. Sein Rücktrittsschreiben [2], das er bereits im dritten Jahr seines Pontifikats für den Fall anfertigte, das Petrusamt aus gesundheitlichen oder anderen Gründen über einen längeren Zeitraum nicht mehr ausüben zu können, zeigen neue Facetten im Amtsverständnis, die von päpstlicher Seite bis dahin praktisch undenkbar waren, trotz der Demissionen Coelestins V. (1294) und Gregors XII. (1415). Mindestens ebenso aktuell ist die Haltung Montinis zum Thema Zölibat, die der Editor mittels des Schreibens Pauls VI. an Kardinalstaatssekretär Jean Villot vom 2. Februar 1970 in Erinnerung ruft [3]. Der Pontifex bekräftigte nicht nur den Sinn und die Notwendigkeit der Ehelosigkeit des Priesters, sondern lehnte auch die Weihe von viri probati in Regionen mit starkem Priestermangel nachdrücklich ab.
Sapienzas Buch vermittelt dem Leser einen flüchtigen Einblick in die Persönlichkeit des Papstes und in seinen Pontifikat. Die für Paul VI. charakteristische Ambivalenz einer nüchtern-kritischen Gegenwartsanalyse von Kirche und Gesellschaft bei gleichzeitig optimistischer Zukunftserwartung zieht sich wie ein roter Faden durch die Quellen. Substantielle Fortschritte für die Forschung ermöglicht der Band hingegen weniger. Die bislang unbekannten Dokumente sind zweifellos informativ, bringen aber kaum neue Erkenntnisse. Darüber hinaus erlauben die äußerst knapp gehaltenen Kontextualisierungen keine adäquate sachliche oder biographische Einordnung. Und schließlich verbleiben die theologischen, liturgischen und pastoralen Themen an der Oberfläche. In dieser Hinsicht bedeutsamere und anspruchsvollere Texte wie zum Beispiel das Credo des Volkes Gottes werden zwar erwähnt, jedoch nicht - auch nicht auszugsweise - abgedruckt [4]. Sapienzas Dokumentband möchte also weniger ein wissenschaftliches als eher ein erbauliches Buch sein, das seine Verehrung für Paul VI. und die Kirche transportiert. Dafür spricht schließlich auch, dass er beispielsweise im Kapitel "Jesus sehen" die Thematik des Buches "ausweitet" und auf das Sterben beziehungsweise auf Visionen von Pius XII. - nicht von Paul VI. (!) - eingeht. Da liegt es auf derselben Linie, dass er den Band mit einem Psalmenkommentar des heiligen Augustinus über das Schiff der Kirche beschließt.
Anmerkungen:
[1] Jörg Ernesti: Paul VI. Die Biographie, Freiburg/Brsg. 2015, 16.
[2] Auch abgedruckt im L'Osservatore Romano vom 15. Mai 2018.
[3] Italienischer Text auch in den Acta Apostolicae Sedis 62 (1970), 98-103 zugänglich.
[4] Lateinischer Text in den Acta Apostolicae Sedis 60 (1968), 436-445; Deutsch zum Beispiel bei Jörg Ernesti, Paul VI., 417-424.
Raphael Hülsbömer