Stefan Herfurth: Freiheit in Schwedisch-Pommern. Entwicklung, Verbreitung und Rezeption des Freiheitsbegriffs im südlichen Ostseeraum zum Ende des 18. Jahrhunderts (= Moderne europäische Geschichte; Bd. 14), Göttingen: Wallstein 2017, 262 S., ISBN 978-3-8353-3060-3, EUR 29,95
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
Die im Rahmen des Graduiertenkollegs "Baltic Borderlands" an der Universität Greifswald entstandene Dissertation von Stefan Herfurth (derzeit am GWZO Leipzig) greift einen zentralen Begriff des Aufklärungszeitalters auf und ordnet ihn in einen regionalen historischen Kontext ein. Untersuchungszeit und -ort sind dabei durchaus geschickt gewählt. Ende des 18. Jahrhundert überlagerten sich im öffentlichen Diskurs Freiheitsbegriffe mit sehr unterschiedlichen Traditionen, Semantiken und Funktionen. Der traditionellen Ständefreiheit stand der Freiheitsbegriff der Französischen Revolution gegenüber; das herkömmliche landwirtschaftliche System der Leibeigenschaft geriet in die Kritik einer aufklärerischen Publizistik, die ökonomische und ethische Gegenargumente ins Feld führte. Auch Freiheit von ausländischer Bedrückung spielte eine Rolle: Für Pommern war das Verhältnis zu einem neoabsolutistisch regierten Schweden eine offene Frage; aber auch die Alternative - die Unterstellung Pommerns unter die Herrschaft Brandenburg-Preußens oder des römischen Kaisers - blieb diskutabel. In Schwedisch-Pommern bündelten sich alle diese Aspekte wie in einem Brennglas.
Herfurth behandelt sie in seiner nicht allzu umfänglichen Studie auf Grundlage der aufklärerischen Publizistik Schwedens, Schwedisch-Pommerns und im Heiligen Römischen Reich. Heuristische Leitlinien sind dabei die Frage nach dem Kulturtransfer zwischen diesen drei Gebieten (in jeder denkbaren Kombination), die Rolle der lokalen Eliten in Schwedisch-Pommern als Kulturvermittler und die Transformationen des Freiheitsbegriffs von der ständischen Ordnung zur "Mitbürgerschaft" (schwedisch "medborgarskap").
Was die Methodik und Quellen betrifft, mutet es merkwürdig an, wenn Herfurth erklärt, er habe sich bei der Textanalyse einer historisch-kritischen Vorgehensweise bedient, dabei aber gleichzeitig keine Archivquellen benutzt, sondern sich auf lektorierte, redigierte und gedruckte Texte beschränkt. Eine Antwort auf die Frage, was in diesem Fall mit "historisch-kritisch" gemeint sein könnte, bleibt uns Herfurth schuldig. Sein diesbezüglicher Hinweis, dass "die Quellen textkritisch nach philologischen Kriterien untersucht werden" (21), darf man wohl als Pleonasmus bezeichnen. Überhaupt besitzen grundsätzliche methodologische Gedanken bei ihm Seltenheitswert. In ein diffuses Licht getaucht erscheint auch die Definition des Quellenbegriffs. Die Tatsache, dass im Quellenverzeichnis einer Arbeit über die Aufklärungsperiode Texte von Karl Marx und Max Weber auftauchen, ist zumindest erklärungsbedürftig.
Die in Kapitel 2 behandelte staatsrechtliche Stellung Schwedisch-Pommerns vom Dreißigjährigen Krieg bis zum Ende der schwedischen Herrschaft (Wiener Kongress 1815) verzichtet auf neue Forschungsperspektiven. Dies gilt auch für die Beschreibung der "Aufklärung" in Schweden während des 18. Jahrhundert (Kapitel 3). Hier ist kritisch einzuwenden, dass der schwedische Historikerstreit um Existenz und soziale Reichweite einer schwedischen Aufklärung, außerdem ihre Verortung in der europäischen Aufklärungslandschaft, bei Herfurth keine Rolle spielt. Eine Auflistung verschiedener Wissenschaftszweige und der Einzug des wissenschaftlichen Rationalismus an den schwedischen Akademien und Universitäten beweist noch nicht, dass Schweden ein Land der Aufklärung war. Diese fehlende Analyse des Charakters der Aufklärung in Schweden ist wohl auch der Grund dafür, dass die Frage offen bleibt, ob in Schweden neben den beiden von Herfurth untersuchten Bedeutungen von Freiheit - Ständefreiheit/Verhältnis von Krone und Untertanen und Freiheit von fremder äußerer (in der Regel dänischer) Bedrückung - Vorstellungen von Freiheit in einem über Recht und Politik hinausgehenden Sinn (ökonomisch, ethisch, sittlich, anthropologisch, theologisch unter anderem) existierten und wie sie sich gegebenenfalls mit den politischen und rechtlichen Aspekten des Freiheitsbegriffs verbanden. Nichts Neues erfährt man bei Herfurth schließlich auch über die strategisch-militärische Rolle Schwedisch-Pommerns als Grenzland des Schwedischen Reiches (Kapitel 4) und die Entwicklung der Publizistik im Schwedischen Reich nach der Pressefreiheitsverordnung von 1766 (Kapitel 5).
Der im Sinne von Forschungsfortschritten ergiebige Hauptteil des Buches findet sich in den Kapiteln 6-8, wo sich Herfurth einer eingehenden Analyse der Schriften der pommerschen Publizisten Johann Carl Dähnert (1719-1785), Johann David von Reichenbach (1732-1807) und Ernst Moritz Arndt (1769-1860) widmet. Diese Untersuchungen wirken schon wegen ihrer interpretatorischen Detailliertheit und Genauigkeit am überzeugendsten. Es kommt hinzu, dass Herfurth hier sparsam mit kursorischen und allgemeinen Urteilen umgeht, die die erste Hälfte seines Buches entscheidend prägen. Er arbeitet auf dieser Grundlage drei Thesen heraus, die wenig überraschend wirken, aber für eine Einschätzung der schwedisch-pommerschen Regionalgeschichte im 18. Jahrhundert doch bedeutsam sind: 1. Der Freiheitsbegriff hat sich während dieser Zeit sowohl in Schweden als auch in Schwedisch-Pommern und im Heiligen Römischen Reich kontinuierlich verändert. Dähnert, von Reichenbach und Arndt stehen dabei als Repräsentanten für drei Phasen einer konzeptionellen und semantischen Veränderung von "Freiheit". 2. Schwedisch-Pommern kann als Relaisstation zwischen Schweden und dem Heiligen Römischen Reich aufgefasst werden, weil es 3. Freiheitsbegriffe aus beiden Gebieten adaptierte und in das jeweils andere Gebiet vermittelte. Es lassen sich in Schwedisch-Pommern aber jenseits des Kulturtransits auch Eigenarten des Freiheitsbegriffs aufzeigen, die sich entweder als Synthese aus schwedischen und deutschen Elementen auffassen lassen oder autochthoner Natur waren, jedenfalls aber in der Folge weder in Schweden noch im entstehenden Deutschland eine tragende Rolle spielten, sondern spezifisch pommersche Spielarten des Freiheitsverständnisses darstellen.
Der Nachweis dieser Thesen mit Hilfe der genannten publizistischen Werke ist Herfurth im Großen und Ganzen gelungen. Offen bleibt die Frage, warum er gerade die genannten Autoren gewählt hat bzw. wie repräsentativ diese für die Gesamtgeschichte von Freiheitskonzepten in Schwedisch-Pommern sind. Außerdem hätte man als Leser gern gewusst, wie repräsentativ das Fallbeispiel Schwedisch-Pommern in einer weiteren Perspektive zu beurteilen ist. Im Kontext des Ostseeraums beispielsweise böten sich kulturelle Diffusionsräume wie Schleswig und Holstein oder die russischen Ostseeprovinzen (Estland, Livland, Kurland) als Vergleichsgrößen an; gesamteuropäisch die Niederlande, das Elsass, die Eidgenossenschaft, das Burgund, die habsburgischen Besitzungen in Norditalien unter anderem. Ein Blick in die entsprechende Sekundärliteratur hätte genügt, um den Ort Schwedisch-Pommerns in einer europäischen Geschichte des Freiheitsdenkens näher zu bestimmen. In der vorliegenden Form jedoch beschränkt sich Herfurths Untersuchung auf eine weitgehend regionalgeschichtliche Perspektive.
Ralph Tuchtenhagen