Steffen Runkel: Von Sklaverei und Freiheit. Afrikanische Initiativen zur Abolition an der Goldküste (1841-1897), Frankfurt/M.: Campus 2019, 426 S., 14 s/w-Abb., eine Kt., ISBN 978-3-593-50996-9, EUR 49,00
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Der Untertitel des Buches von Steffen Runkel, das auf seiner Dissertation an der Universität Hannover von 2015 basiert, ist Programm. Er gibt sehr gut wieder, worum es dem Autor in seinem 426 Seiten starken Werk zu tun ist. "Afrikanische Initiativen zur Abolition" meint in Runkels Gebrauch mehr, und auch anderes, als "dezidiert abolitionistische Initiativen" (12/Fn.10), die sich für die Abschaffung von Sklaverei und Menschenhandel einsetzen; er fasst darunter vielmehr "die Einstellung lokaler Akteure zu Sklaverei und Sklavenhandel in dieser Region [...]" insgesamt (13). Die besagte Region ist der Goldküste genannte Landstrich an der westafrikanischen Küste im Zeitraum von mehr als einem halben Jahrhundert. Die Zeitmarken 1841 und 1897 sind gut gesetzt, zumal die Jahre seither "von einer sukzessiven Ausweitung und Formalisierung dieser Einflusssphäre" (gemeint ist die britische) geprägt wurden (44) - in einem Prozess der Etablierung kolonialer Verhältnisse, der gegen Ende des Jahrhunderts gut konsolidiert war. Die damals abgeschlossene Eroberung von Asante (1896) und das folgende koloniale Ausgreifen auf die nördlich davon gelegenen Gegenden im heutigen Ghana, der einsetzende Kakaoboom mit nachhaltigen Folgen auf die wirtschaftliche Ausrichtung der Region, sowie die Gründung der Aborigines Rights Protection Society (1897) als ein neues Forum der politischen Betätigung (387f.) eröffneten tatsächlich eine neue Ära.
Die Einleitung (9-38) steckt den Rahmen des Buches gut ab, klärt für das Verständnis wichtige Begriffe, referiert den Forschungsstand und sorgt für die eigene Einbettung, alles wie es sich gehört. Der interessanteste Teil betrifft die Quellen, (26ff.): Dort unterscheidet Runkel in "Kolonialkorrespondenz", "Reiseberichte", "Missionskorrespondenz", "Gerichtsprotokolle", "Goldküstenpresse", "Lokale Korrespondenz", "Biographische Daten", und er kontextualisiert seinen Quellenbestand. Die reichhaltigen Quellen, die sich Runkel erschlossen hat, weiß er im Hauptteil seiner Arbeit gut zu nutzen. Zuvor führt er allerdings in einem eigenen Abschnitt unter der Überschrift "Sklaverei" (39-70) auf gut 30 Seiten in die Situation an der Goldküste im 19. Jahrhundert ein. Hier geht er zudem bereits auf die Herausbildung einer lokalen "educated elite" ein (45ff.), deren Konzepten, Debatten, Diskursen und Handlungsfeldern sich Runkel im weiteren Verlauf ausführlich und quellengesättigt zuwendet.
Das Buch ist in drei nummerierte, ihrem Umfang nach abnehmende Teile gegliedert. Den ausführlichsten nennt Runkel "Handlungsfelder" (71-207). Dort behandelt er erst "Institutionelle Verankerungen" zentraler Akteure in den Aushandlungszusammenhängen und bringt zunächst lokale Kolonialbeamte (75ff.), Missionare (84ff.) und Herrscher (91ff.) ins Spiel. Anschließend werden "Politik und öffentlicher Raum" thematisiert; und zwar anhand zahlreich eingereichter Petitionen (101ff.), der Entwicklung des lokalen Pressewesens (115ff.) und der zunehmenden Politisierung lokaler Meinungsführer (134ff.). Die Behandlung von "Sklavenfällen" (159ff.) und "Sklaverei vor Gericht" (147ff.) erfolgt anschließend unter der Überschrift "Kolonialgerichte", ehe schließlich "Privat- und Geschäftskontakte" dahingehend untersucht werden, was sie über die Beziehungen der lokalen Goldküstenakteure untereinander verraten (173ff.), und welche Kontakte sie zur Kolonialverwaltung (185ff.) und "nach Übersee" in Großbritannien unterhielten (194ff.).
Der zweite Teil des Buches steht unter der Überschrift "Konzepte und Debatten" (209-317). In den fünf Unterabschnitten macht Runkel auf Differenzen lokaler und europäischer Rechtsverständnisse aufmerksam (214ff.), behandelt sodann, wie Sklaverei und Sklavenhandel "im Umfeld der Missionsgesellschaften" (226ff.), "in der Goldküstenpresse" (238ff.) und "vor Gericht" (252ff.) debattiert und verhandelt wurden. Anschließend schildert er in einem weiteren Unterabschnitt, wie sich zwischen 1841 und 1897 ein spezifischer Topos von der sogenannten "Goldküstensklaverei", die als Idylle gezeichnet wurde, im Handlungsfeld zwischen lokalen und kolonialen Akteuren herausgeformt und zunehmend verfestigt hat (264ff.). Schließlich endet dieser Teil mit einem interessanten Einblick in die Stellungnahmen und Auseinandersetzungen "lokaler Abolitionisten" um Vorstellungen und Praktiken von Sklaverei und Freiheit (284ff.); dabei begegnen den Lesern sowohl lokal gebürtige Abolitionisten wie David Asante und James Hutton Brew als auch (zeitweilig) lokal ansässige, etwa Africanus Horton und Francis Pompeianus Fearon aus Sierra Leone.
Der dritte Teil trägt die Überschrift "Diskursive Verschiebungen" (319-393). Die fünf Unterkapitel sind zeitlich angeordnet. Runkel spricht diesbezüglich anfangs von "Fallbeispielen" (36) und, in einer glücklicheren Formulierung, später von "Episoden" (322), rund um die er hier sein Material ausbreitet, um ein weiteres Mal seine These der Herausbildung eines Topos der "Goldküstensklaverei" zu untermauern, sowie auch, um seine einleitend erklärte Absicht einzulösen, "eine politische Ideengeschichte der lokalen Elite an der Goldküste" und ihrer Herausbildung zu schreiben (14). Die selektierten Zeitpunkte sind 1868, das Jahr, in dem die niederländischen Besitzungen an die Briten gingen und die Fante-Konföderation gestiftet wurde (324ff.); 1874, das Jahr der (offiziellen) Kolonie-Gründung, in dem die Sklaverei an der Goldküste de jure abgeschafft, aber tatsächlich unbeirrt weitergeführt wurde (338ff.); die Jahre 1885-1887, als ein punktueller kolonialrassistischer Übergriff in Accra einen weit über die Goldküste hinaus zur Kenntnis genommenen publizistischen Skandal auslöste (351ff.), an dem Runkel die Verschiebung im Diskurs zur Abolition ebenso zu veranschaulichen sucht wie in der darauffolgend behandelten "Fearon-MacMunn Affäre" von 1890-1892 (366ff.) - eine Diskursverschiebung, die im Grunde in der Spannung zwischen der Ächtung der Sklaverei de jure und ihrer gleichzeitig aufrechterhaltenen Praxis wurzelte, die von den involvierten Akteuren vielfach geduldet und teilweise gefördert wurde. Im fünften und letzten Unterkapitel dient das Jahr 1897 (384ff.) dem Autor zur episodischen Schlussführung. Das Buch endet dann anschließend auch mit einem lediglich fünf Seiten langen Abschnitt, der simpel und mit Fragezeichen "Freiheit?" überschrieben ist (394ff.).
Als eine politische Ideengeschichte der Goldküste im 19. Jahrhundert funktioniert Runkels Buch über weite Strecken recht gut. Die lokale Bühne wird plastisch vor Augen geführt, und die Auseinandersetzungen der Vergangenheit im Spannungsfeld zwischen lokalen und auswärtigen Akteuren unter sich verändernden kolonialen Bedingungen werden im ausführlich zitierten Quellenbestand vor dem Auge des Lesers lebendig. Es ist ein interessantes und aufschlussreiches Buch. Gleichwohl bleibt in Bezug auf manche Interpretation im Einzelnen die eine oder andere vorgenommene Generalisierung zweifelhaft. So scheint mir etwa, dass Runkel sowohl die Besonderheit als auch die Originalität der lokalen Akteure an der Goldküste etwas übertreibt, wenn er vom "Topos der Goldküstensklaverei" spricht, als ob er eine radikale Innovation darstellen würde, und dabei außer Acht lässt, dass analoge Topoi in den Debatten um Abolitionismus seit spätestens den 1780er Jahren in Bezug auf andere Räume formuliert worden und damit bereits vor 1841 Teil eines bereits damals "euro-afrikanischen" Diskurses über Afrika geworden sind, weil hier bekanntlich auch afrikanische Autoren daran mitgeschrieben haben (etwa Anton Wilhelm Amo, Jacobus Capitein, Ottobah Cugoano, Olaudah Equiano).
Die in diesem Buch vorgenommene dichte Beschreibung der Situation an der Goldküste auf Grundlage ausführlich rezipierter, in den lokalen Verhältnissen verankerter Literatur, eröffnet spannende und wichtige Horizonte. Gleichwohl bleibt die Ergänzung von Perspektiven der lokalen und regionalen Ebene, die in diesem Buch auf gelungene Weise zur Darstellung gebracht worden sind, durch stärker global akzentuierte und auch längerfristig ansetzende Perspektiven weiterhin zu wünschen.
Arno Sonderegger