Johanna Elisabeth Blume: Verstümmelte Körper? Lebenswelten und soziale Praktiken von Kastratensängern in Mitteleuropa 1712-1844 (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz; Bd. 257), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2019, 329 S., ISBN 978-3-525-31070-0, EUR 75,00
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Britta Kägler / Gesa zur Nieden: "Die schönste Musik zu hören". Europäische Musiker im barocken Rom, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2012
Gesa zur Nieden / Berthold Over (eds.): Musicians' Mobilities and Music Migrations in Early Modern Europe. Biographical Patterns and Cultural Exchanges, Bielefeld: transcript 2016
Sabine Henze-Döhring: Friedrich der Große. Musiker und Monarch, München: C.H.Beck 2012
Nicht einmal einhundert Jahre ist es her, dass mit Alessandro Moreschi der letzte namentlich bekannte Kastrat in päpstlichen Diensten starb: 1922 war das, und die damals schon existierende Aufnahmetechnik erlaubt es, auch in der Gegenwart noch zu hören, was über fast vier Jahrhunderte hinweg das Auditorium in katholischen Kirchen und, zeitlich eingeschränkter, das Publikum der italienischen opera seria begeisterte. In der katholischen, vermutlich zuvor auch schon in der orthodoxen Kirche, umging man damit das Verbot weiblichen Singens im Gottesdienst. Auf der Opernbühne fügte sich die als überwältigend erlebte stimmliche Präsenz der hohen Männerstimme perfekt zur Illusion der Macht von Herrscherfiguren - wobei das Engagement eines oder sogar mehrerer Kastraten seinerseits schon zur Repräsentation von zumindest finanzieller Macht ganz wesentlich beitrug.
Seitens der musikwissenschaftlichen Forschung ist dieses Feld zumindest grob kartiert, maßgeblich befördert vom Interesse an der historischen Aufführungspraxis etwa seit den 1970er-Jahren und der damit verbundenen Frage, wie man barocke opere serie in der Gegenwart überhaupt angemessen auf die Bühne bringen kann. Dass dieses Thema jenseits der Musik noch weitaus mehr relevante Aspekte beinhaltet, ist nun der vorzüglichen, auf ihre Saarbrücker Dissertation zurückgehenden Studie von Johanna E. Blume zu entnehmen.
Blume legt ihren Fokus dabei auf Mitteleuropa, genauer auf das Alte Reich; die historischen Grenzen der Untersuchungen markieren der Umzug des Kaisers Karl VI. von Barcelona nach Wien im Jahr 1712 sowie die Pensionierung des letzten musikalisch aktiven Kastraten Mosè Tarquinio am sächsischen Hof 1844. Neben den Höfen in Wien und Dresden stehen jene in München und Stuttgart/Ludwigsburg im Zentrum des Interesses, da diese Höfe über feste Opernensembles verfügten. Die historische wie die geographische Einschränkung könnte leicht Anlass zur Kritik bieten, wird doch auf diese Weise einseitig die höfische Oper als wesentliches Betätigungsfeld von Kastratensängern herausgestellt wie auch das Phänomen der ohne feste Anstellung an verschiedenen Orten tätigen Gesangsstars in den Hintergrund gerückt. Doch ist im Umfeld der Höfe und ihrer Bediensteten nicht allein die Quellenlage um ein Vielfaches besser, sondern es gelingt auch sehr viel leichter, Kastraten nicht auf ihre Funktion als Sänger mit hoher Stimme zu reduzieren. In den Blick geraten damit die "Kastratensänger [als] lebende Personen" (25), mithin als soziale Wesen in ihren Lebenswelten.
Die Analyse dieser Lebenswelten, für deren Definition sich Blume an Rudolf Vierhaus anschließt, findet in den vier sinnvoll gegliederten und konzis aufgebauten Hauptkapiteln der Studie statt. Das erste dieser Kapitel erschließt den sozialen Raum der Kastratensänger an verschiedenen mitteleuropäischen Höfen. Neben faktischen Aspekten wie den Modalitäten der Anstellung in einer Hofkapelle stehen hier Überlegungen im Zentrum, die Kastraten als symbolisches Kapital und als Teil der höfischen Repräsentationskultur verstehen. Die italienische opera seria an sich erweist sich dabei als Repräsentationsmittel, das der Machtaushandlung innerhalb des Geflechts des Alten Reichs dient. Eine durchaus brisante Neuerkenntnis in diesem Zusammenhang ist, dass man den hohen Bedarf an Kastratensängern an den Höfen des Alten Reichs in Eigenregie zu decken suchte und "vermutlich Knaben aus den eigenen Territorien kastrieren" (107) ließ, deren finanzieller - und somit auch symbolischer - Wert schließlich aber lediglich ein Zehntel dessen ausmachte, was sich ein Hof einen italienischen Kastraten kosten ließ.
Im Fokus des zweiten Kapitels stehen die Handlungsspielräume von Kastraten in ihren höfischen Anstellungsverhältnissen, oder genauer: die Spielräume bei der Aushandlung ihrer Arbeitsbedingungen. Detailliert werden die Bezahlung und die Modalitäten schon bei der Anwerbung der Sänger in Italien dargestellt; ein weiterer wichtiger Aspekt ist der Arbeitsumfang, zu dem die Kastraten vertraglich verpflichtet waren. Da an deutschen Höfen das Amtsverständnis eines Mitglieds der Hofkapelle weit gefasst war, traten viele Kastratensänger auch in anderen Funktionen in Erscheinung. Besonders bemerkenswert erscheint hier der Fall des Sängers Agostino Galli, der vom bayerischen Kurfürsten Maximilian III. Joseph mit der Aufgabe betraut wurde, Maulbeerbäume zu pflanzen, um darauf Seidenraupen zu züchten.
Das dritte Kapitel erschließt die sozialen Beziehungen der Kastraten außerhalb des jeweiligen Hofes. Schlüssig entwickelt Blume hier die Wechselwirkungen, die sich zwischen der Selbstdarstellung und Fremdwahrnehmung der Kastraten in den Residenzstädten ergeben, etwa im Hinblick auf die Wohnsitznahme und die damit verbundenen Möglichkeiten wie auch Pflichten der Repräsentation. Als besonders nutzbringend erweist sich hier Pierre Bourdieus auch in den früheren Kapiteln schon eingesetztes Konzept der vier Kapitalformen. Die soziale Interaktion der Kastraten innerhalb der Residenzstädte geschieht demnach unter anderem durch die "Akkumulation sozialen Kapitals mittels Umwandlung ökonomischen Kapitals sowie die Generierung symbolischen Kapitals mittels demonstrativen Konsums" (217, Hervorhebung original). Überaus differenziert fällt daneben die Untersuchung des Verhältnisses der Kastratensänger zu ihren jeweiligen Familien aus, die jenseits stereotyper Deutungsmuster eine Vielfalt unterschiedlicher Modelle parat hält. Beispielsweise erreichte der bereits genannte Kastrat Galli, dass seine beiden Schwestern Anstellung am Münchener Hof fanden, um als Expertinnen in der Seidenproduktion und -verarbeitung ihren Bruder bei seiner Nebentätigkeit zu unterstützen.
Abschließend widmet sich das vierte Kapitel der Untersuchung von Aushandlungspraktiken um Körper, Männlichkeit und Identität von Kastratensängern. Besonderes Gewicht kommt dabei zwei Fallstudien zu: der Korrespondenz Giuseppe Jozzis mit dem Ehepaar Marianne und Franz Pirker aus den Jahren 1748/49 sowie dem Versuch Filippo Sassarollis, in den Jahren 1818 bis 1820 in die Dresdner Freimaurerloge "Zum goldenen Apfel" aufgenommen zu werden. Das erste Beispiel steht stellvertretend für die Selbst-, das zweite für die Fremdwahrnehmung der Kastraten.
Der Fall der Dreierbeziehung zwischen einem Kastraten, einer Sopranistin und einem Geiger, die einander im Umfeld von Opernproduktionen in London und Kopenhagen kennenlernten und schließlich für einige Jahre gemeinsam Anstellung am württembergischen Hof in Stuttgart fanden, ist ohnehin in vielerlei Hinsicht hochinteressant. Blume analysiert hier den (nicht vollständig erhaltenen) Briefwechsel konsequent auf Jozzis Selbstbild hin und zeichnet ein faszinierend vielschichtiges Bild eines Menschen, der sich seiner eigenen sexuellen Identität ebenso unsicher ist wie seiner Stellung in dieser Dreierbeziehung.
Im letztlich gescheiterten Versuch Sassarollis, in die Freimaurerloge aufgenommen zu werden, ergibt sich ein weitaus einseitigeres Bild der Fremdwahrnehmung eines Kastraten. In der minutiösen Rekonstruktion dieses Vorgangs bleibt die zentrale Frage sowohl für die Ablehner wie auch für die Befürworter von Sassarollis Aufnahme, inwieweit Sassarolli als Kastrat ein "vollkommener Jüngling ohne körperliche Gebrechen und Mängel" (272; Zitat aus einem ausgewerteten Redemanuskript von 1818) sei. Bemerkenswert in der Polyphonie der Argumente ist, dass freimaurerische Regeln durch die Akteure unterschiedlich wiedergegeben und ausgelegt werden, dass über die Wahrnehmung Sassarollis als einem "durch Eingriff in sein Wesen zerstörten Kastraten" (274) aber Einigkeit herrscht. Letztlich, so wird deutlich, manifestieren sich hier persönliche Differenzen zwischen den Akteuren in einer Auseinandersetzung, die besonders geeignet ist, Deutungshoheit zu beanspruchen.
Die Vielzahl der untersuchten Einzelfälle und die Vielzahl der Frageperspektiven sind ein entscheidender Vorzug dieser Studie. Denn sie zeichnen ein ebenso vielfältiges Bild der Kastratensänger und ihrer Wahrnehmung, das weitaus differenzierter ist, als es die bisherige Forschung annehmen lässt. Überdies wird deutlich, welches Potenzial der Analyse diskursiver Geschlechterkonstruktionen auch und gerade in historischer Perspektive innewohnt. Das Wesen der Kastraten mit seinem Irritationspotenzial hat offenkundig provoziert, die Ordnung der biologischen Geschlechter in einer Weise zu reflektieren, die auch in der Gegenwart noch nachwirkt.
Andreas Waczkat