Matthias Schönwald: Walter Hallstein. Ein Wegbereiter Europas (= Mensch - Zeit - Geschichte), Stuttgart: W. Kohlhammer 2018, 165 S., 29 s/w-Abb., ISBN 978-3-17-033164-8, EUR 25,00
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Zum ersten Staatssekretär im Auswärtigen Amt und ersten Präsidenten der EWG-Kommission sind bisher neben diversen Aufsätzen ein älterer Sammelband, ein schmaler Symposiumsband "zu Ehren von Walter Hallstein" sowie eine sehr positive Monografie zu seinem Wirken als EWG-Kommissionspräsident 1958-1967 erschienen [1]. Schönwald beschränkt sich ebenfalls auf eine knappe, nur 165 Seiten umfassende Darstellung, und auch er widmet sich Hallsteins politischer Biographie um für ein geeintes Europa zu werben. Gemeinsam mit der finanzierenden Baden-Württemberg Stiftung möchte Schönwald ein breites Publikum erreichen und schafft ein ansprechendes Leseerlebnis mit einer klaren Sprache, vielen Zwischenüberschriften und 29 gut ausgewählten Abbildungen.
Der Autor identifiziert neun Phasen im Leben Hallsteins und geht diese chronologisch durch. Zunächst wird ein vom Hurrapatriotismus des Ersten Weltkriegs geprägter Schuljunge und Pfadfinder beschrieben, der sich als Erwachsener aus eigenem Antrieb für den gerade erst 1935 wiedereingeführten Wehrdienst bewarb. Hallsteins spätere Behauptung, den Dienst in der Wehrmacht gesucht zu haben, um gegenüber NS-Parteistellen weniger angreifbar zu sein, hält Schönwald für unglaubwürdig.
Hallsteins zunächst höchst vielversprechende akademische Karriere hatte bereits 1930 zur Berufung an die Universität Rostock als seinerzeit jüngster Juraprofessor geführt. Aufgrund seiner Mitgliedschaft in den für einen konformen Professor im "Dritten Reich" obligatorischen Organisationen wie dem NS-Rechtswahrerbund und einigen Ergebenheitsadressen in Veröffentlichungen, wurde Hallstein nicht sonderlich behelligt. Ein Wechsel nach München scheiterte zwar an mangelnder nationalsozialistischer Überzeugung, immerhin wurde er aber 1941 an die Universität Frankfurt berufen, wo er 1945 auch seine Nachkriegskarriere begann.
1938/39 setzte er sich für eine stärker vereinheitlichte europäische Rechtskultur unter deutscher Dominanz ein. Diesem Sachverhalt geht Schönwald leider nicht weiter nach und diskutiert auch nicht, ob Hallstein sich seinerzeit oder rückblickend zu Konzepten wie dem Naumann'schen "Mitteleuropa"-Plan oder dem nationalsozialistischen Europäischen Großraum äußerte. Offenbar war er ein Anhänger der Fiktion einer unpolitischen Wissenschaft und hat sich "auf den Nationalsozialismus nie richtig eingelassen" (35), wie Schönwald resümiert.
Im Gegensatz zu den anderen Biografen verweist Schönwald auf eine NSDAP-Mitgliedskarte Hallsteins. Er nennt einige, jedoch nicht alle Gründe, warum ein Eintritt im Juli 1934 unter der Nummer 310.212 in die zu diesem Zeitpunkt schon Millionen Mitglieder zählende aufnahmebeschränkte Partei sehr unwahrscheinlich ist [2]. Es wird auch nicht thematisiert, dass im Falle einer NSDAP-Mitgliedschaft Hallsteins Angaben im Entnazifizierungsverfahren und damit seine gesamte Nachkriegskarriere auf einem Lügenkonstrukt basiert hätten.
Die interessantesten Kapitel der Biografie beschäftigen sich mit Hallsteins Kriegsgefangenschaft in den USA 1944/45 sowie der akademischen Nachkriegskarriere einschließlich einer Gastprofessur an der Georgetown University in Washington 1948/49. Zuvor war er zwar juristisch hervorragend ausgebildet, extrem eifrig und intellektuell hochbegabt, politisch aber ein eher durchschnittlicher Vertreter der konservativen deutschen Eliten. Nach seinem USA-Aufenthalt entwickelte er sich jedoch binnen kurzer Zeit zu einem glühenden Werber für Demokratisierung, eine liberale Wirtschaftsordnung und transatlantische Kooperation. Die Begeisterung für eine europäische Einigung auf Basis wirtschaftlicher Integration formte sich ebenfalls unter amerikanischem Einfluss und offenbar binnen kurzer Zeit.
Schon seit Beginn der Tätigkeit als Staatssekretär Konrad Adenauers ab 1950 erachtete Hallstein supranationale Elemente als unverzichtbar um die Bundesrepublik in den Westen zu integrieren und deren Souveränität zu ermöglichen. Im Zuge der umfangreichen Rekonstruktion des Verhältnisses zu Jean Monnet fehlt dann allerdings die Klarheit in der Darstellung, wie und warum die fortgesetzte Wandlung Hallsteins hin zu einem Befürworter "einer zukünftig zu schaffenden supranationalen politischen Union" (109), welcher "das Denken in rein nationalen Kategorien zu überwinden" (108) suchte, erfolgte.
Angesichts des gedrängten Umfangs der Biografie kann Schönwald viele Aspekte nur anreißen. Das erscheint beispielsweise bei der bereits intensiv erforschten Hallstein-Doktrin durchaus vertretbar. Zu bedauern ist dagegen, dass der politische Kontext des Kalten Krieges weitgehend ignoriert wird. So gelangt Schönwald etwa zu dem Urteil, die Zeit nach Hallsteins Abtritt ab den späten 1960er Jahren sei "geprägt von bloßer Konzeptlosigkeit der Architekten Europas" (135). Zu dieser Ansicht gelangt er nicht zuletzt deshalb, weil er nur Hallsteins Wirken gegenüber den USA und Westeuropa betrachtet und die geographische Mitte des Kontinents inklusive der DDR sowie Osteuropa ignoriert. Auch die Funktion der europäischen Integration als antikommunistisches Projekt wird von Schönwald kaum thematisiert.
Aufgenommen wurde hingegen ein ausführlicherer Abschnitt über die "Krise des leeren Stuhls" 1965/66, der aufgrund der gegenwartspolitischen Motivation der Biografie sinnvoll erscheint. Hier werden die Gefahren deutlich, die aus dem Druck von integrationswilligen Mitgliedern auf ein skeptisches Land (hier Frankreich) entstehen können, das sich schließlich für eine Verweigerungshaltungshaltung entscheidet. Auch wegen dieser Krise endete Hallsteins Präsidentschaft kurze Zeit später, und er versank, trotz seines Bundestagsmandats und zivilgesellschaftlichen Engagements, recht rasch in Bedeutungslosigkeit. Schönwald sieht den juristisch-technokratischen Vertreter einer europäischen Integration zwar nicht als gescheitert an, meint aber, "Hallsteins Konzept der Sachlogik" sei nicht aufgegangen. Dieser Erkenntnis folgt der Appell: "Es bedarf immer wieder neuer Impulse, um Trägheiten zu überwinden" (134-135). "Die kopernikanische Wende", also die Entwicklung der Kommission "als Keimzelle einer echten europäischen Exekutive" habe nicht stattgefunden "- bis heute" (114).
Es erscheint fraglich, ob Hallstein wirklich die behauptete große Gegenwartsrelevanz besitzt. Zu den gegenwärtig drängendsten Fragen des EU-Austritts eines Landes, der Stellung des Parlaments innerhalb der EU-Institutionen und einer supranationalen Identität der EU-Bürger kann die Reflexion seines Wirkens nur wenig beitragen. Hoffnung könnte in Zeiten des "Brexits" jedoch aus seinem pragmatischen Umgang mit dem Veto Frankreichs gegen einen Beitritt des Vereinigten Königreichs zur EWG in den 1960er Jahren geschöpft werden. "Der Überzeugung, dass der Vertiefung der Gemeinschaft Vorrang vor der Ausweitung einzuräumen sei, blieb Hallstein [...] treu." (96)
Anmerkungen:
[1] Wilfried Loth / William Wallace / Wolfgang Wessels (Hgg.): Walter Hallstein. Der vergessene Europäer? Bonn 1995; Manfred Zuleeg (Hg.): Der Beitrag Walter Hallsteins zur Zukunft Europas. Referate zu Ehren von Walter Hallstein, Baden-Baden 2003; Ingrid Piela: Walter Hallstein - Jurist und gestaltender Europapolitiker der ersten Stunde. Politische und institutionelle Visionen des ersten Präsidenten der EWG-Kommission (1958-1967), Berlin 2012.
[2] Schönwalds Quellenangabe ist ungenügend. Eine Recherche des Rezensenten im Bundesarchiv förderte keine NSDAP-Mitgliedskarte zutage, hingegen starke Hinweise, die gegen eine Parteimitgliedschaft sprechen.
Gunnar Take