Bernd Florath (Hg.): Die DDR im Blick der Stasi. Die geheimen Berichte an die SED-Führung 1968 (= Die DDR im Blick der Stasi. Die geheimen Berichte an die SED-Führung), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2018, 320 S., 9 s/w-Abb., ISBN 978-3-525-37079-7, EUR 30,00
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Roger Engelmann / Bernd Florath / Helge Heidemeyer u.a. (Hgg.): Das MfS-Lexikon. Begriffe, Personen und Strukturen der Staatssicherheit der DDR, Berlin: Ch. Links Verlag 2011
Es ist ein bleibendes Verdienst, dass nun eine Auswahl der Berichte der ZAIG (Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe) für das Jahr 1968 durch die Arbeit von Bernd Florath als Bearbeiter und Daniela Münkel als Herausgeberin gedruckt vorliegt. Wichtiger ist allerdings noch die elektronische Datenbank in der alle Berichte des Jahres 1968 abrufbar sind. Auf diese Weise wird ein leichter Zugriff für wissenschaftliche Recherchen ermöglicht. Zudem sind hier auch Schlagwort- und Volltextsuche möglich. Die Dokumente der ZAIG gestatten einen Einblick in die spezifische Sichtweise des Staatssicherheitsdienstes der DDR auf die Situation in der DDR, auf Westdeutschland und punktuell auch darüber hinaus in diesem ereignisreichen Jahr.
Die Publikation ordnet sich in ein größeres Editionsprojekt ein, in dem die Bände zu einigen besonders wichtigen Jahren wie z.B. 1956, 1961, 1976 bereits erschienen sind. Die vorliegende Arbeit ist zweigeteilt. Im ersten, kürzeren Teil erfolgt nach einem Vorwort von Daniela Münkel zum einen die Einführung und Einordnung der Dokumente in die Gesamtsituation des Jahres 1968 in der DDR, zum anderen die Erläuterung der wissenschaftlichen Auswahlkriterien der Dokumente sowie der editorischen Durchführung. In der Einleitung werden die für die in der DDR zentralen Themen wie die neue Verfassung 1968, der Umgang mit Vietnam und vor allem der "Prager Frühling" beleuchtet. Relativ breiten Raum nehmen die Genese der neuen Verfassung und das "Demokratieverständnis" der DDR-Herrschaftselite ein. Dabei wäre der Rückgriff auf Rosa Luxemburg und Vladimir Il'ič Lenin vielleicht nicht unbedingt nötig gewesen. Die Verfassung wird dabei auch als Versuch Ulbrichts zur Klärung des Verhältnisses zur Sowjetunion beschrieben. Gerade bei der Verfassungsdiskussion geraten die Kirchen besonders in den Blick, da diese durch die neue Verfassung weitgehend ihre Rechtssicherheit verloren. Gesamtdeutsche Organisationsformen wurden aufs Äußerste erschwert. Dabei ist nicht ganz deutlich, was der Autor unter "Zwei-Welten-Lehre" versteht (22). Eventuell soll damit die lutherische "Zwei-Regimenten-Lehre" gemeint sein. Diese wurde durch den damaligen Thüringer Bischof Moritz Mitzenheim - anders als ursprünglich notwendig intendiert - als Feigenblatt für politische Anpassung missbraucht.
Sehr breiten Raum nimmt mit Recht der "Prager Frühling" ein, da dieser die Gemüter in der DDR-Bevölkerung 1968 am stärksten bewegte und auch die meisten Proteste auslöste. Etwas gewagt scheint es, tschechische und russische Zitate lediglich zu paraphrasieren (z.B. 44, Fußnote 102 und 48, Fußnote 120). Neben den Kirchen, der ČSSR und den Oppositionellen, werden auch weitere Themen der Berichterstattung, wie z.B. die misstrauische Beobachtung international erfolgreicher Sportler, in den Fokus genommen.
Bei 278 Berichten auf ca. 1125 Seiten ist eine Auswahl für eine Buchedition unumgänglich. Nach zweierlei Kriterien wurde ausgewählt: inhaltlich nach der Wichtigkeit von Berichten und formal nach der Bandbreite der Berichte. Wünschenswert wäre allerdings eine genauere Erläuterung gewesen, warum ein Dokument unter die Kategorie "inhaltlich bedeutsame Dokumente [...], die für das Jahr 1968 aber auch darüber hinaus von historischem Gewicht sind" (58) fällt. Die Editionsgrundsätze sind hilfreich und nachvollziehbar, auch dass Fußnoten zu Personen und Hintergrundinformationen in jedem Dokument erneut gegeben werden. Vielleicht hätte es das Buch etwas verschlanken können, wenn einige der häufigsten Fußnoten wie z. B. die Information zur Verfassung, zur ČSSR oder zur Situation in Rumänien in der Buchform zusammengefasst worden wären.
Auch wenn die Informationen zu in den Quellen erwähnten Personen verständlicherweise nur auf den entsprechenden Zeitraum eingegrenzt wurden, wären umfangreichere biographische Angaben an einigen Stellen doch wünschenswert gewesen. So wird zu Josef L. Hromádka neben dem Geburtsjahr nur angemerkt, dass er Pfarrer und Mitbegründer der Christlichen Friedenskonferenz war. Hier wäre ein Hinweis darauf hilfreich gewesen, dass Hromádka der einflussreichste tschechische evangelische Theologe des 20. Jahrhunderts war, der allein schon durch seine langjährige Tätigkeit als Professor ab 1928 und Dekan der Prager evangelischen Fakultät seit 1947 bis zu seinem Tod 1969 Generationen von tschechischen Theologen prägte.
Der Wert der vorliegenden Publikation ist unübersehbar. Mit der Publikation der Berichte der Staatssicherheit an die SED-Führung über die verschiedenen Jahre hinweg wird ein Quellenbestand von hohem historischen Wert sowohl für eine wissenschaftliche Erforschung als auch für eine journalistische Bearbeitung leichter zugänglich gemacht. Dies ist ein nicht zu unterschätzender Beitrag. Jeder, der einmal mit Quellen aus der Provenienz des MfS gearbeitet hat, weiß, wie langwierig sich der Quellenzugang gestalten kann. Nicht oft genug ist allerdings der auch durch Bernd Florath gegebene Hinweis auf die Ambivalenz der vorliegenden Quellen zu wiederholen: "dass die individuelle Zurechnung der einen oder anderen Aussage, die das MfS hier vornahm, mit größter Skepsis zu betrachten ist" (55).
Cornelia von Ruthendorf-Przewoski