Johannes Due Enstad: Soviet Russians under Nazi Occupation. Fragile Loyalties in World War II (= New Studies in European History), Cambridge: Cambridge University Press 2018, XVIII + 255 S., 12 s/w-Abb., 2 Kt., ISBN 978-1-108-42126-3, GBP 75,00
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"The Germans came in the daytime and partisans during the night, and we were afraid of them both" (197) zitiert Enstad aus den Memoiren einer Russin, die während des Zweiten Weltkriegs im Bereich der Heeresgruppe Nord unter deutscher Okkupation gelebt hatte. Dieses Zitat verweist auf den Fokus der Untersuchung. Enstad fragt, wie die vornehmlich bäuerliche Bevölkerung des russischen Nordwestens sich in der Kriegssituation zurechtfand. Dabei untersucht er das Verhältnis zur deutschen Besatzungsmacht vor dem Hintergrund der Erfahrungen, die die Menschen in der Vorkriegszeit mit der Sowjetmacht gemacht hatten und ihrer Wahrnehmung der sowjetischen Partisanenbewegung während des Krieges.
Als norwegischer Russlandhistoriker hat Enstad den Vorteil einer unparteiischen Sichtweise. Hinzu kommt, dass er gleichermaßen deutsch- und russischsprachige Quellen auswerten konnte. Sein Interesse richtet sich - anders als in den meisten deutschen oder russischen Abhandlungen zum deutsch-sowjetischen Krieg - nicht auf unmittelbar militärische Themen, Kriegsverbrechen oder die Akteure der kriegsführenden Parteien, sondern auf den Alltag der Zivilbevölkerung im besetzten Gebiet. Die Menschen, die unter fremde Herrschaft gerieten, sind bei Enstad keine in Opferzahlen zusammengefasste Größe, sondern rücken als unter schwierigen Bedingungen aktiv handelnde Personen in den Fokus. Enstad möchte mit seiner Untersuchung vor allem die Frage nach der Loyalität der Bevölkerung zur Sowjetmacht klären. Schon in der Einleitung formuliert er Zweifel an der verbreiteten These, dass die sowjetische Bevölkerung im russischen Kernland im Gegensatz zu den westlichen Randgebieten mehrheitlich hinter dem sowjetischen Projekt gestanden habe. Für fraglich hält er auch, dass die Verbindung von sowjetischer und russischer nationaler Identität in den 1930er Jahren zur Sowjetisierung des russischen Nationalismus geführt habe und dass auf dieser Grundlage die patriotische Mobilisierung während des Kriegs möglich gewesen sei. Im Gegensatz dazu versucht er zu zeigen, dass die bäuerliche Bevölkerung des russischen Nordwestens der Sowjetmacht skeptisch oder ablehnend gegenüberstand, mit der deutschen Besatzungsmacht daher zunächst eher positive Erwartungen verknüpfte und sich im Verlauf des Krieges der jeweiligen Machtsituation anpasste.
Enstads Arbeit ist in acht Kapitel unterteilt, von denen das erste und das letzte die Vor- bzw. Nachkriegsjahre beleuchten, während die übrigen sich mit unterschiedlichen Aspekten der deutschen Besatzungsherrschaft beschäftigen und nach dem Verhalten der Bevölkerung fragen. Das erste Kapitel legt ausführlich die Situation der mehrheitlich bäuerlichen Bevölkerung in der untersuchten Region in den 1920er und 1930er Jahren dar, die geprägt war von antireligiöser Politik, der Zwangskollektivierung und dem großen Terror der Jahre 1936 bis 1938. Enstad charakterisiert diese Politik als Ausbeutung der Bauern und als Attacke gegen die Dorfkultur und die dörflichen Traditionen. Er kommt zu dem Schluss, dass nicht Überzeugung, sondern die "violently enforced absence of alternatives to 'Stalinist civilization'" die Voraussetzung dafür gewesen sei, warum "people engaged in it, adapted to it, and strove to make the best of it." (35) Vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen und Verhaltensweisen erst ließe sich verstehen, wie die Bevölkerung im Folgenden auf die Besatzungsmacht reagierte.
In den folgenden Kapiteln beleuchtet Enstad verschiedene Aspekte und zeitliche Abschnitte der Besatzungszeit. Zunächst untersucht er Erwartungen an die Deutschen und die ersten Begegnungen mit ihnen (Kap. 2). Er schildert die Verbrechen, die in der Region vornehmlich von der SS-Einsatzgruppe A an Juden, Roma sowie an psychisch Kranken verübt wurden (Kap. 3). Hinzu kam das Massensterben der sowjetischen Kriegsgefangenen in den überfüllten Lagern der Wehrmacht. Der Autor stellt fest, dass ungeachtet dessen die Stimmung nicht gegen die Deutschen kippte. Dies führt er auf mangelnde Informationen und darauf zurück, dass die Menschen mit dem eigenen Überleben beschäftigt waren. Selbst die Hungersnot im Winter 1941/42 habe nicht zur völligen Ablehnung der deutschen Besatzungsmacht geführt (Kap. 4). Positive Effekte sieht Enstad in der Umsetzung der sogenannten neuen Agrarordnung (Kap. 5) und der Religionspolitik, die den Menschen wieder erlaubte, ihren Glauben auszuüben (Kap. 6). Enstad vermeidet den Begriff Kollaboration und analysiert die Interaktion der örtlichen Bevölkerung mit der deutschen Besatzungsmacht als ein Zusammenspiel von Unterstützung, Unterwanderung, Ausnutzung und Ausweichen (Kap. 7). Abschließend erläutert er, wie sich diese Handlungsstrategien angesichts der bevorstehenden Rückkehr der Sowjetmacht veränderten (Kap. 8). Erst in der zweiten Hälfte des Jahres 1943, als der Rückzug der deutschen Truppen bevorstand, gab die Mehrheit der Bevölkerung ihre aus vielfältigen Motiven genährte, vorsichtige Loyalität zu den Deutschen auf, entzog sich der Deportation nach Westen und unterstützte zunehmend die Partisanenbewegung.
Enstad zeichnet ein facettenreiches Bild der Alltagsrealität. Er beschreibt die vielfältigen Beziehungen, die zwischen Besatzern und Besetzten bestanden. Auf die Tätigkeiten der russischen Bürger in Verwaltung und bei der Hilfspolizei geht er ebenso ein wie er die Mitwirkung beim Einsatz gegen Partisanen thematisiert. Gleichzeitig schildert er die Bemühungen, sich Zwangsmaßnahmen zu entziehen, Partisanen zu schützen oder ihnen aktiv zu helfen. Enstad benennt die deutschen Pläne zur Vernichtung und Ausbeutung der sowjetischen Gebiete sowie die daraus resultierenden Kriegsverbrechen. Er beleuchtet aber auch Einzelfälle, in denen Wehrmachtsstellen entgegen der Befehlslage agierten und die örtliche Bevölkerung mit Nahrung versorgten. Insgesamt - und das ist das Provokative der Studie - erscheint die deutsche Besatzungspolitik als brutal, aber immer noch humaner als die Willkürherrschaft des bolschewistischen Regimes. Können die verwendeten Quellen diese implizit formulierte These tatsächlich stützen? Enstad arbeitet mit einer Vielzahl russischer und deutscher Quellen, die von deutschen Militärberichten, russischen Zeugenaussagen für die Außerordentliche Kommission bis zu abgefangenen Briefen und Nachkriegsmemoiren reichen. Kritisch anzumerken ist, dass Enstad gelegentlich die Parteilichkeit der Quellen zu wenig berücksichtigt. So bezieht er sich ausführlich auf die Erinnerungen von Personen, die eng mit den deutschen Besatzern zusammengearbeitet hatten und deren in der Nachkriegszeit verfasste Erzählungen vor allem der eigenen Rechtfertigung dienten. Auch deutsche militärische Berichte beschönigten häufig die Gegebenheiten, ein Umstand, den Enstad zu wenig thematisiert. Es bestehen deshalb Zweifel an der Ausgewogenheit der Darstellung, die aber aufgrund der Fülle des Materials und des Fokus auf die Zivilbevölkerung ein lesens- und bedenkenswerter Beitrag zur Alltagsgeschichte der Sowjetunion unter deutscher Herrschaft bleibt.
Corinna Kuhr-Korolev