Rezension über:

Jörg Später / Thomas Zimmer (Hgg.): Lebensläufe im 20. Jahrhundert, Göttingen: Wallstein 2019, 324 S., 14 s/w-Abb., ISBN 978-3-8353-3513-4, EUR 29,90
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Rezension von:
Anne-Kristin Hübner
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Anne-Kristin Hübner: Rezension von: Jörg Später / Thomas Zimmer (Hgg.): Lebensläufe im 20. Jahrhundert, Göttingen: Wallstein 2019, in: sehepunkte 19 (2019), Nr. 12 [15.12.2019], URL: https://www.sehepunkte.de
/2019/12/33371.html


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Jörg Später / Thomas Zimmer (Hgg.): Lebensläufe im 20. Jahrhundert

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Längst ist die sozial- und strukturhistorische Ansicht überholt, die personenbezogene Geschichtsschreibung verstelle den Blick auf die wahren Triebkräfte der Geschichte. Die Interdependenz zwischen dem Individuum und seinem Handlungskontext ist allgemein anerkannt, und die Biografie in einer stets kontextualisierenden Form boomt. Oder wie es die Herausgeber des Ulrich Herbert gewidmeten Sammelbandes im Klappentext programmatisch fassen: "Der Mensch ist im Spiegel seiner Zeit zu sehen, aber manchmal kann man sich der Zeit im Spiegel eines Menschen nähern." Die 16 biografischen Skizzen fügen sich zu einem parcours global des 20. Jahrhunderts zusammen, der die "methodischen und theoretischen Veränderungen der Geschichtswissenschaften selbst" (8) abbildet, indem er die nationale Perspektive durch Sichtbarmachung transnationaler und globaler Zusammenhänge überwindet. Das Sample der Lebensläufe - von der Arbeiterin bis zum Staatspräsidenten - wirft außerdem die Frage auf, ob die Geschichte überhaupt ausschließlich "von solchen herausgehobenen Menschen, die man gemeinhin 'Persönlichkeiten' nennt, vorangetrieben" wird (15), wie Dirk van Laak in seinem Beitrag über Jan Christiaan Smuts (1870-1950) zu bedenken gibt. Die Klammer, die die geografisch und lebensweltlich weit auseinanderfallenden Beiträge zusammenhält, "ist der Versuch, an die 'kleinsten Einheiten', die Individuen und ihre Lebensläufe, die große Frage nach der historischen Signatur der Epoche heranzutragen" (13).

Diejenigen Skizzen, die sich einer mit dem öffentlichen Leben verbundenen oder gar in ihrem Dienste stehenden Persönlichkeit annähern, betonen, wie deren Beobachtung der Gegenwart zum Impulsgeber politischen und gesellschaftlichen Handelns wird. Besonders deutlich wird dies in Isabel Heinemanns Beitrag über Margaret Sanger (1879-1966), der amerikanischen Aktivistin der internationalen Bewegung für Geburtenkontrolle und Bevölkerungspolitik. In Sangers Lebenslauf spiegeln sich das ausgehende 19. und beginnende 20. Jahrhundert in vier Dimensionen, wie Heinemann zeigt: in "der Emanzipation der Frau, der Generierung und Verbreitung von Wissen, der Einhegung des globalen Bevölkerungswachstums und der Gründung von Nichtregierungsorganisationen" (78). Das Engagement Sangers bleibt nicht ohne Ambivalenz. Sie war Mitglied der Eugenik-Gesellschaft Human Betterment Foundation und der amerikanischen Gesellschaft für Euthanasie. Noch 1950 wiederholte sie ihre Forderung, die amerikanische Regierung solle "dysgenische Bevölkerungsteile" dafür bezahlen, keine Kinder zu bekommen (89). Ähnliche Spannungszustände und Radikalisierungstendenzen lassen sich in den rassenideologischen Positionen Jan Christiaan Smuts (Dirk van Laak) finden.

Auch das Renegatentum und der ideologische Lagerwechsel sind wiederkehrende Motive in einigen der hier präsentierten Lebensläufe. Während es Franziska Augstein in ihrer Skizze über Jorge Semprùn fasziniert, dass der Sinneswandel "meistens von der äußeren Linken des politischen Spektrums zur Rechten" verläuft (137), entlarvt Axel Schildt, der kurz vor Drucklegung des Bandes verstorben ist, diese Erzählung anhand des vermeintlichen Erweckungserlebnisses von Armin Mohler als technisches Hilfsmittel, das "Ruhm einbringt oder zumindest eine Biographie interessant macht". In Mohlers Schriften ließen sich "nicht die geringsten linken Rückstände finden" (189). Schildts Beitrag über den Publizisten Mohler ist auch deswegen lesenswert, weil es ihm gelingt, die Nachwirkungen von Mohlers neurechter Programmatik bis in die gesellschaftlich-politische Gegenwart hinein aufzuzeigen. Er verweist zudem auf einen Zusammenhang, dessen nähere gruppenbiografische Betrachtung aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive erkenntnisreich sein könnte: das biografische Ereignis vom Ende der Erwerbstätigkeit und vom Eintritt in den Ruhestand als Radikalisierungsmoment oder Auslöser einer geistigen Involution. Die Verschärfungen von Mohlers Ausführungen zur "Vergangenheitsbewältigung" datiert Schildt um das Jahr 1980, einhergehend mit einer deutlich erkennbaren politischen Isolation (202).

Das in den Beiträgen zu Mohler, Smuts und Sanger exemplarisch aufgezeigte individuelle Sendungsbewusstsein - von Sanger als "build beyond thyself" (77) bezeichnet -, unterscheidet sich von den Handlungsspielräumen und Lebensentwürfen anderer Individuen und Personengruppen. Christina von Hodenberg löst mit ihrer Betrachtung von Carolina Rahm (1893-1984) den zweiten Teil des Erkenntnisinteresses des Bandes ein, nämlich die Zusammenhänge des 20. Jahrhunderts durch einen nicht prominenten Akteur, sondern eine "durchschnittliche Frau" (167) sichtbar zu machen. Der Zugang zu Rahm, einer Hausfrau, Arbeiterin und Kleinunternehmerin, gelingt auch deshalb, weil Rahm von 1965 bis 1972 als eine von 104 weiblichen Befragten an der Bonner Längsschnittstudie des Alterns (BOLSA) teilgenommen hatte und ihre Interviews auf 32 Stunden Tonband festgehalten sind. Von Hodenberg sieht die Chance dieses Quellenmaterials insbesondere auch im "Widerspruchspotenzial [...] gegenüber verkürzten Generalisierungen" (170). Lutz Raphael beschließt den Band dann mit einer Betrachtung türkischer Bergmannsfamilien im Ruhrgebiet nach 1970. Seine lebensweltliche Skizze beruht auf Akten der kommunalen Ausländerbehörden und Informationen des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP). Raphaels und von Hodenbergs Beiträge verweisen auf die Quellenproblematik, die die Ausweitung biografischer Fragestellungen an die Geschichte des 20. Jahrhunderts mit sich bringt. Wo die Überlieferung von Nachlässen, Memoirenliteratur und Schriftzeugnissen einen genauen Blick auf die historisch Handelnden erlaubt, der sich zu einer ideengeschichtlichen Langzeitbetrachtung entfalten lässt, bleibt die Darstellung von Arbeiterbiografien zumeist auf statistisches Material zurückgeworfen, dem es an einer individuell-biografischen Perspektive mangelt, und die nur durch eine ungleich größere Konstruktionsanstrengung an strukturelle Hintergründe, die kontextbereitenden Bedingungen des Daseins, rückgebunden werden kann. Bestenfalls konnte Quellenmaterial im Rahmen der Oral History erzeugt werden, dieses ist - ähnlich wie die Memoiren "großer" Persönlichkeiten - aber nicht frei von persönlicher Sinngebung durch die historischen Akteurinnen und Akteure selbst.

Wie vielen Sammelbänden wird wohl auch diesem Band das Schicksal beschieden sein, dass ihn viele Leserinnen und Leser nur selektiv zu Kenntnis nehmen. So entgeht ihnen aber auch das globale Leseerlebnis eines 20. Jahrhunderts, in dem die Lebensläufe von Walther Rathenau, Thomas Mann und Ernst Troeltsch neben denen von Indira Ghandi und Salvador Allende stehen. Es ist insbesondere auch dieses Panorama der Unterschiedlichkeit, mit dem der Band überzeugt.

Anne-Kristin Hübner