Wolfgang Hardtwig: Freiheitliches Bürgertum in Deutschland. Der Weimarer Demokrat Eduard Hamm zwischen Kaiserreich und Widerstand (= Zeithistorische Impulse; Bd. 14), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2018, 500 S., 18 s/w-Abb., ISBN 978-3-515-12094-4, EUR 49,00
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Biographische Zugriffe haben, nachdem sie lange verpönt waren, in den letzten zwanzig Jahren eine regelrechte Konjunktur erlebt. Neben Kollektivbiographien sind in der Zeitgeschichtsforschung vor allem wirkmächtige Männer und - deutlich weniger intensiv - Frauen in den Blick genommen worden. Ein besonderes Interesse gilt nach wie vor Persönlichkeiten, die ihre Sozialisation im deutschen Kaiserreich erfahren haben und das Schicksal der Weimarer Republik durch ihr politisches Engagement mitprägten. Die zentrale Frage dieser Untersuchungen ist in der Regel, was einen Demokraten in der Weimarer Republik auszeichnete, wobei die jeweils konkrete Biographie als Folie oder Gegenfolie herangezogen wird. Die Studie zu Eduard Hamm stellt in dieser Hinsicht keine Ausnahme dar. Auch hier rückt das Verhältnis Eduard Hamms, der als bayerischer Staatsbeamter, dann Staatssekretär in der Reichskanzlei und Reichswirtschaftsminister die Geschicke der Weimarer Republik mitgelenkt hat und auch als Vorstand des Deutschen Industrie- und Handelstages gestaltete, zur Demokratie immer wieder in den Mittelpunkt. Die Tatsache, dass es sich bei Eduard Hamm um den Großvater des Autors handelt, macht diese Frage doppelt brisant. Bereits in der Einleitung legt Wolfgang Hardtwig dieses Problem offen und bekennt, dass es ihm nicht immer leicht gefallen sei, den notwendigen, kritischen Abstand zu seinem Untersuchungsgegenstand zu wahren - auch, weil "der Großvater in der familiären Überlieferung als reine Lichtgestalt präsentiert wurde" (20). Die Gliederung der Arbeit folgt insofern auch weniger Hamms Biographie als der Chronologie von Ereignissen und Zäsuren der Politik- und Wirtschaftsgeschichte, an denen Hamm beteiligt war oder die er maßgeblich kommentiert hat.
Die Darstellung beginnt mit der Sozialisation im Kaiserreich und den Anfängen von Hamms Karriere als bayerischer Staatsbeamter. Dann wird seine Rolle in den Höhen, aber vor allem in den Tiefen des politischen Systems der Weimarer Republik beleuchtet. Hamms politisches Wirken begann in Bayern. Sein dortiges Lavieren zwischen Revolution und Gegenrevolution 1918-1922 interpretiert Hardtwig als Kampf um die Demokratie und die eigene demokratische Orientierung, der durchaus noch von Zögern und Zaudern begleitet war. Sein Wechsel in die Reichpolitik als Staatssekretär in der Reichskanzlei des Kabinetts Cuno im "Katastrophenjahr 1923" - als katastrophal klassifiziert Hardtwig hier neben dem "Ruhrkampf" und der Inflation vor allem den Hitler-Putsch - wird als Ringen um Stabilität beschrieben, die Hamm als Wirtschaftsminister im Kabinett Marx nach 1923 mit Hilfe seiner Wirtschaftspolitik zu festigen geholfen habe.
Den größten Raum der Darstellung nimmt Eduard Hamms Tätigkeit als geschäftsführendes Präsidialmitglied des Deutschen Industrie- und Handelstages zwischen 1925 und 1933 ein. Ein tieferer Blick in die Landschaft der Wirtschafts- und Industrieverbände der Weimarer Republik über die Personen Paul Reusch und Paul Silverberg hinaus wäre der Einordnung von Hamms Positionen manchmal förderlich gewesen, sowohl was das Verhältnis zum Reichsverband der Deutschen Industrie und den regionalen Industrie- und Handelskammertagen angeht, als auch im Hinblick auf Vereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände, deren Mitgliedsverbände die Tarifverhandlungen in Weimar führten. [1] Die Gewichtung in der Beurteilung des Verhältnisses Hamms zum Reichswirtschaftsrat und seiner Auseinandersetzung mit dem Konzept einer Wirtschaftsdemokratie sowie den berufsständischen Entwürfen seit 1927 wäre vielleicht anders ausgefallen, wenn auch die in Weimar fast durchgehend diskutierte Umgestaltung der Industrie- und Handelskammern zu einem Unterbau des endgültigen Reichswirtschaftsrates unter Beteiligung von Arbeitnehmervertretern berücksichtigt worden wäre. Eine stärkere Kontextualisierung der "Europapolitik" (235-267), die Hamm mit den Streben nach einer Zollunion bzw. einem "Anschluss" Österreichs verband und ein Herausarbeiten des Stellenwerts der "Mitteleuropaidee" vor dem Hintergrund der internationalen Bemühungen um eine Konsolidierung der österreichischen Finanzen und mit Blick auf die Bankenkrise 1931 hätte zusätzlichen Erkenntnisgewinn versprochen. [2]
In einem abschließenden Kapitel werden Hamms Hinwendung zum Sperr-Kreis und seine Kontakte zu anderen Widerstandsgruppen beleuchtet. Ein besonderes Augenmerk gilt dabei den verfassungspolitischen Überlegungen des Sperr-Kreises. Die Sympathien Hamms für den "Anschluss" Österreichs, der ihm im Rahmen einer Zollunion schon früher ein Anliegen gewesen war und nicht getrennt zu denken ist von seiner Nähe zu Friedrich Naumanns Mitteleuropa-Konzept werden ebenso wenig verschwiegen wie seine Freude über die Revision der Ostgrenze.
"Das Ende" (424) markiert Hamms Verhaftung in der Folge des Attentats vom 20. Juli 1944 und sein mutmaßlicher Freitod während eines Verhörs. Hamm ist der einzige Reichsminister der Weimarer Republik, der im Zusammenhang mit dem 20. Juli 1944 sein Leben verlor. "Das deutsche Bürgertum hat wenige Persönlichkeiten von vergleichbarer Lebensleistung und politisch-moralischer Integrität aufzuweisen" (11), urteilt Wolfgang Hardtwig.
Zweifellos handelt es sich um eine beeindruckende Biographie. Hardtwigs Ziel war es, exemplarisch Denk- und Verhaltensmuster sowie ein handlungsleitendes Ethos Hamms, der von einer bürgerlichen Herkunft, bürgerlichen Leitbildern und bürgerlichen Zielvorstellungen geprägt gewesen sei, in drei politischen Systemen herauszuarbeiten. Vor dem Hintergrund der vielfach und vielseitig erwiesenen Expertise des Autors in der Bürgertumsforschung ist es etwas überraschend, wie selten ein direkter Bezug zwischen dem gesellig-gesellschaftlichen Leben der Familie Hamm in drei verschiedenen Systemen und den politischen Netzwerken sowie dem politischen Entscheidungshandeln hergestellt bzw. deren Verwobenheit herausgearbeitet wird. Die Frage, welche Rolle Kontakte und Treffen zum Beispiel im Rahmen der Gesellschaft von 1914 für die bürgerlichen Leitbilder und Zielvorstellungen Hamms gespielt und wie sie sein Entscheidungshandeln beeinflusst haben, bleibt insbesondere für die Zeit als Staatssekretär und Minister trotz des familienbiographischen Zugriffs und eines offensichtlich reichen Familienarchivs ebenso undeutlich wie die Rolle der Ehefrau Maria Hamm im Rahmen dieser Kontaktpflege, was insofern überraschend ist, als sie sich für das gesellschaftliche Privat- und Familienleben als wichtigste Chronistin erweist. Insgesamt ist es Wolfgang Hardtwig jedoch gelungen, eine lesenswerte Biographie seines Großvaters vorzulegen, die Ambivalenzen in dessen Person nicht aussparen will.
Anmerkungen:
[1] Vgl. u.a. Stephanie Wolff-Rohé: Der Reichsverband der Deutschen Industrie: 1919-1924/25, Frankfurt/M. 2001; Sandra Flatscher: Der Bayerische Industrie- und Handelskammertag 1909-1936. Entstehung - Entwicklung - Tätigkeit, Frankfurt/M. 2006; Wolfgang Schroeder/ Bernhard Weßels (Hgg.): Handbuch Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände in Deutschland, Wiesbaden, 2. vollständig überarbeitete Auflage 2017.
[2] Vgl. u. a. Patricia Clavin: Securing the World Economy. The Reinvention of the League of Nations, 1920-1946, Oxford 2013; Jürgen Elvert: Mitteleuropa! Deutsche Pläne zur europäischen Neuordnung (1918-1945), Stuttgart 1999.
Andrea Rehling