Franziska Hupfer: Das Wetter der Nation. Meteorologie, Klimatologie und der schweizerische Bundesstaat 1860-1914 (= Interferenzen. Studien zur Kulturgeschichte der Technik; Bd. 27), Zürich: Chronos Verlag 2019, 377 S., 44 s/w-Abb., ISBN 978-3-0340-1502-8, EUR 48,00
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Seit der Jahrtausendwende erlebt die Geschichte der Meteorologie und Klimatologie einen intellektuellen Aufschwung. Franziska Hupfers nun publizierte Dissertation, welche die Eidgenössisch Technische Hochschule in Zürich 2017 angenommen hat, setzt diese begrüßenswerte Entwicklung fort. Auf den ersten Blick mag Hupfers Fokus auf die Geschichte der Schweizerischen Meteorologischen Zentralanstalt zwischen 1860 und 1914 eine trockene Institutionengeschichte nahelegen. Doch löst die Autorin ihr eingangs formuliertes Versprechen ein, diese lediglich als "Fallbeispiel für die Entstehung wissenschaftlicher Einrichtungen innerhalb nationalstaatlicher Verwaltungen" zu betrachten (12). Über den konkreten Kontext hinaus ist das Buch daher gleichermaßen informativ für Leser, die sich für das Verhältnis von Wissenschaft und Staat oder die Geschichte der Meteorologie und Klimatologie interessieren.
Sehr souverän, gewissenhaft und trotzdem kritisch untersucht Hupfer von diesem Ansatz ausgehend die Interdependenz von Wissenschaft, politischen Akteuren und nationalstaatlicher Ideologie in der Schweiz. Methodisch knüpft Hupfer an Mitchell Ashs Beiträge zu dieser Thematik an [1], indem sie die wechselseitigen Ressourcenverhältnisse überprüft, die zwischen den meteorologisch-klimatologischen Tätigkeiten der Zentralanstalt und dem schweizerischen Nationalstaat bestanden. Wetterbeobachtungen hingen zu dieser Zeit noch wesentlich von staatlicher Finanzierung ab, sollten aber auch praktische Bedürfnisse (zum Beispiel in Form von Wettervorhersagen) bedienen. Die bürokratische Institution und die akademische Praxis waren laut Hupfer so eng miteinander verschränkt, dass die Zentralanstalt "Ausdruck und Katalysator einer Transformation des meteorologisch-klimatologischen Wissensfelds" war (14), innerhalb derer die beteiligten Akteure immer wieder ihre verschiedenen Interessen in Einklang bringen mussten. In drei Teilen, die das Buch thematisch gliedern, geht Hupfer zunächst strukturellen Veränderungen nach, wendet sich dann der Bearbeitung wissenschaftlicher Fragen in diesem Kontext zu und schließt mit verschiedenen Facetten der Nutzbarmachung des produzierten Wissens. Innerhalb der Subkapitel folgt sie einer ungefähr chronologischen Ordnung.
Die institutionelle Struktur der politisch-wissenschaftlichen Kooperation durchlief im Untersuchungszeitraum zwei Phasen. Zunächst gewährte die Bundesversammlung ab 1863 der Schweizerischen Naturforschenden Gesellschaft eine jährliche Subvention zum Unterhalt eines Beobachtungsnetzes. Dass dabei der hohe Anteil ehrenamtlicher Arbeit nicht dem republikanisch-partizipativen Geist des Schweizer Bürgertums entsprang, sondern länderübergreifend kennzeichnend für das Wissensfeld war, zeigt die Autorin gekonnt und entlarvt so die offiziell gepflegte Rhetorik als nationalistische Hülse. Ab 1881 war die Meteorologische Zentralanstalt eine Bundesbehörde mit einem sicheren Budget und festen Mitarbeitern. Hupfer schildert eindrücklich, wie es deren Direktoren gelang, die Unterstützung durch die Bundesversammlung nicht nur zu gewinnen und zu verstetigen, sondern sie schließlich dazu zu bewegen, das Aufgabengebiet der Anstalt und ihren Etat bis zum Ende des Untersuchungszeitraums deutlich zu vergrößern.
Anschließend widmet sich Hupfer vor allem der klimatologischen Forschung, die im Kontext der Zentralanstalt betrieben wurde (Teil 2), und verschiedenen Anwendungsgebiete von Klimatologie und Meteorologie (Teil 3). Dabei entwickelt sie mehrere Themen weiter, die in ähnlicher Form aus anderen nationalen Fallstudien bereits bekannt sind, zum Beispiel die Konkurrenz der empirisch basierten synoptischen Vorhersage mit astrologischen Ansätzen [2] oder die Verwendung von Gipfelobservatorien und Ballons, um die Atmosphäre auch vertikal zu erschließen. [3] Zusätzlich eröffnet sie jedoch ebenso neue Themenfelder. Das Kapitel über die kurzlebige Begeisterung für die Abwehr von Hagelschauern mithilfe sogenannter Wetterkanonen trägt dazu bei, die lange Tradition der Wetterbeeinflussung zu belegen, die bislang nur für die Zeit des Kalten Krieges gut erforscht ist. [4] Lehrreich ist außerdem ihr Kapitel zur Erforschung langfristiger Witterungsveränderungen, die in der Zentralanstalt unter anderem durch Gletscherbeobachtungen vorangetrieben wurde - damit ist ein wichtiger Beitrag zur Frühgeschichte der Historischen Klimatologie und ihrer Methoden geleistet. Besonders gelungen ist außerdem ein Kapitel, das sich mit der Beteiligung der Schweiz an den frühen internationalen Konferenzen des Fachgebiets befasst. Zwar bricht Hupfer ihre nationale Perspektive nicht, doch zeigt sie, dass der für die Schweiz nachteilige Vergleich mit anderen Ländern wichtiges rhetorisches Mittel war, um Ressourcen für die Zentralanstalt zu mobilisieren. Dass ihre Vertreter die Schweiz auf diesen Kongressen repräsentierten, festigte außerdem die wissenschaftliche Hegemonie der Zentralanstalt auf nationaler Ebene. Hupfer bestätigt damit für die meteorologischen Kongresse die bereits mehrfach geäußerte These, dass sich nationale und internationale Interessen in dieser Zeit gegenseitig bedingten und verstärkten.
Mit einer Mischung aus publizierten Fachtexten, Berichts-Lektüre der Zentralanstalt und Archivalien ist die Quellenbasis Hupfers zwar wenig überraschend, ihrer Fragestellung aber in jeder Hinsicht angemessen. Der Umfang ihrer Bibliografie ist beeindruckend, darüber hinaus sind ihre Analysen im Textverlauf klug gewählt, stets in der Quellenlektüre verankert und sorgfältig belegt. Ungewöhnlich ist die Entscheidung der Autorin, über den Forschungsstand und die verwendeten Quellen erst ganz am Schluss der Arbeit in zwei separaten Kapiteln zu berichten. Dies mag für ein breiteres Lesepublikum den Lesefluss in der Einleitung erleichtern. Fachleser jedoch, die erwarten, über beide Aspekte gleich zu Beginn aufgeklärt zu werden, kann dies irritieren. Insbesondere für den bibliographischen Essay gilt, dass Hupfer ihren zweifellos wichtigen Beitrag zur Forschungsdiskussion auf der Grundlage von und in Abgrenzung zu der bereits vorhandenen Literatur noch überzeugender hätte darlegen können.
Es bleibt zu wünschen, dass sich Wissens- und Wissenschaftsgeschichten der Atmosphärenwissenschaften künftig auch einmal von einzelnen Nationalstaaten als zentraler Bezugsgröße trennen und zum Beispiel inter- und transnationale Prozesse oder private Wissensträger wie Versicherungen stärker in den Blick nehmen. Als gründliche und reflektierte Geschichtsschreibung einer nationalen Institution setzt Franziska Hupfers Arbeit aber mit Sicherheit Maßstäbe.
Anmerkungen:
[1] Zuletzt Mitchell G. Ash: Reflexionen zum Ressourcenansatz, in: Sören Flachwosky / Rüdiger Hachtmann / Florian Schmaltz (Hgg.): Ressourcenmobilisierung: Wissenschaftspolitik und Forschungspraxis im NS-Herrschaftssystem. Göttingen 2017, 535-553.
[2] Vgl. etwa Katharine Anderson: Predicting the Weather. Victorians and the Science of Meteorology. Chicago / London 2005 (Kapitel 2) oder Fabien Locher: Le savant et la tempête: Étudier l'atmosphère et prévoir le temps au XIXe siècle. Rennes 2008 (Kapitel 4).
[3] Vgl. für Gipfelobservatorien Deborah R. Coen: Climate in Motion. Science, Empire, and the Problem of Scale. Chicago / London 2018 (Kapitel 4) und für die sogenannte Aerologie Robert-Jan Wille: Colonizing the Free Atmosphere: Wladimir Köppen's "Aerology", the German Maritime Observatory, and the Emergence of a Trans-Imperial Network of Weather Balloons and Kites, 1873-1906, in: History of Meteorology 8, 95-123.
[4] Vgl. James R. Fleming: Fixing the Sky: The Checkered History of Weather and Climate Control, New York 2010 und Kristine C. Harper: Make it Rain. State control of the atmosphere in twentieth-century America. Chicago / London 2017.
Linda Richter