Frank Bösch / Andreas Wirsching (Hgg.): Hüter der Ordnung. Die Innenministerien in Bonn und Ost-Berlin nach dem Nationalsozialismus (= Veröffentlichungen zur Geschichte der deutschen Innenministerien nach 1945; Bd. 1), Göttingen: Wallstein 2018, 837 S., 64 s/w-Abb., ISBN 978-3-8353-3206-5, EUR 34,90
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Julia Angster: Konsenskapitalismus und Sozialdemokratie. Die Westernisierung von SPD und DGB, München: Oldenbourg 2003
Hans-Jürgen Koch / Hermann Glaser: Ganz Ohr. Eine Kulturgeschichte des Radios in Deutschland, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2005
Peter Jochen Winters: Markus Wolf. Ein biografisches Porträt, Berlin: Metropol 2021
Frank Bösch (Hg.): Geteilte Geschichte. Ost- und Westdeutschland 1970-2000, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2015
Frank Bösch / Jürgen Danyel (Hgg.): Zeitgeschichte. Konzepte und Methoden, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2012
Andreas Wirsching (Hg.): Herausforderungen der parlamentarischen Demokratie. Die Weimarer Republik im europäischen Vergleich, München: Oldenbourg 2007
In ihrem Schlusswort zur Geschichte der Innenministerien in der Bundesrepublik und der DDR nach 1945 kommen die Herausgeber Frank Bösch und Andreas Wirsching unter anderem zu dem Ergebnis: "Der Anteil ehemaliger NSDAP-Mitglieder in Leitungspositionen war [...] in West- und Ostdeutschland höher als erwartet". (734) Wie in den zahlreichen bereits vorliegenden Studien zur Geschichte der Bundesministerien und ihrer NS-Vergangenheit, spielt die Frage nach der NS-Belastung des Personals nach 1945 auch hier eine zentrale Rolle. Allerdings wird in der Untersuchung zum Innenministerium, die von einem Autorenteam verfasst wurde, [1] der Fokus um wesentliche Aspekte erweitert: Zum besseren Verständnis der deutsch-deutschen Verflechtungsgeschichte wurde das DDR-Innenministerium mit in die Studie einbezogen. Darüber hinaus werden neben Personal und Personalpolitik auch die Verwaltungspraxis und die Verwaltungskultur sowie ausgewählte Politikfelder in der Zeit von 1949 bis 1970 untersucht.
Der Umgang mit dem Erbe des Nationalsozialismus war für beide deutsche Staaten - wenn auch auf unterschiedliche Weise - prägend und spielte in der Systemauseinandersetzung zwischen Ost und West eine wichtige Rolle. Im Hinblick auf die Innenministerien und deren Aufgaben in den Bereichen Sicherheit und Verwaltung des Staates galt es, nach 1945 neue Wege zu finden und sich von nationalsozialistischen Traditionen und Prägungen abzusetzen. Das betraf zum einem das Personal, zum anderen die Verwaltungskultur und die Sachpolitik. Dass diese Wege in Ost und West unterschiedlich waren, ist eine Binsenweisheit, aber wie sie sich konkret im Bundesinnenministerium und im Ministerium des Innern der DDR gestalteten, darauf gibt die Studie neue Antworten. Wissen wir mittlerweile relativ viel über die Vergangenheitspolitik in den Bundesministerien nach 1945, ist der Erkenntnisstand bezogen auf die DDR hingegen eher rudimentär.
Gemäß dem Diktum Konrad Adenauers "Vergangenes vergangen sein zu lassen", war der Anteil ehemaliger NSDAP-Mitglieder unter dem Führungspersonal des Bundesinnenministeriums sehr hoch. Untersucht wurden Leitungspositionen vom Referatsleiter aufwärts. Bereits mit Gründung des Ministeriums im Jahr 1949 griff man bei der Stellenbesetzung vor allem auf "erfahrene Beamte", alte Netzwerke und Kontakte aus der NS-Zeit zurück. Dabei wurde eine Verschleierungstaktik verfolgt: die neuen alten Beamten rekrutierten sich selten aus dem ehemaligen Reichsinnenministerium, sondern vor allem aus anderen ehemaligen NS-Behörden und Ministerien. Den Höhepunkt erreichte die Zahl NS-Belasteter im Bundesinnenministerium Anfang der sechziger Jahre als ca. zwei Drittel des Führungspersonals ehemalige NSDAP-Mitglieder waren, von denen wiederum die Hälfte zugleich in der SA und nicht wenige der SS angehört hatten. Die meisten von ihnen waren bereits 1933 bzw. 1937 in die NSDAP eingetreten, manche sogar vor 1933. Damit nahm das Innenministerium eine Spitzenposition unter den Bundesministerien ein. Das Nachsehen einer solchen Personalpolitik hatten besonders Sozialdemokraten, ehemals NS-Verfolgte und die jüngere Generation - ihre Karrierechancen blieben bis Ende der sechziger Jahre begrenzt.
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, welche Auswirkungen der hohe Anteil NS-Belasteter in einem sensiblen Ressort wie dem Innenministerium auf Selbstverständnis und Verwaltungshandeln hatte. Die ehemaligen NS-Parteigenossen, in der Regel ausgestattet mit Persilscheinen aus den Entnazifizierungsverfahren oder Entlastungsschreiben, waren mit sich im Reinen. Sie verstanden sich als unpolitische Experten, die im Nationalsozialismus rein technokratische Tätigkeiten ausgeführt hatten. Dieses Selbstverständnis eines vermeintlich "unpolitischen Beamten" transportierten sie in die Bundesrepublik. Es sollte noch bis weit in die sechziger Jahre dauern - so eine weiterer wichtiger Befund der Studie - bis sich vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Veränderungsprozesse und einem verstärkten Generationswechsel eine pluralistische Grundhaltung durchsetzte, die die politischen Implikationen des eigenen Handelns nicht nur sah, sondern auch akzeptierte. Die Verwaltungskultur im Bundesinnenministerium war grundsätzlich eher von Kontinuität bis zurück ins Kaiserreich geprägt. So war und blieb Schriftlichkeit und die vollständige Dokumentation von Entscheidungsprozessen durch Aktenführung ganz im Sinne preußischer Beamtentradition die erste Maßgabe für die Verwaltung.
Konstatiert die Studie in Bezug auf das Bundesinnenministerium bis in die sechziger Jahre hinein zahlreiche Kontinuitätslinien, so stellt sich die Situation im Ministerium des Innern der DDR wesentlich ambivalenter dar. Hier unterscheiden die Verfasser/innen zwischen dem zivilen Teil des Ministerium, den sie exemplarisch anhand der Meteorologischen Abteilung und des Archivwesens untersuchen, und den bewaffneten Organen, wie der Deutschen Volkspolizei. Gemäß des antifaschistischen Gründungsmythos der DDR, der politischen Relevanz, die den bewaffneten Organen beim Auf- und Ausbau der SED-Herrschaft zugeschrieben wurde und den sozio-politischen Anforderungen, die die SED-Führung an einen neuen sozialistischen Personalbestand stellte, unterschied sich die kadermäßige Zusammensetzung zwischen zivilen und bewaffneten Abteilungen des Ministeriums bis Ende der fünfziger Jahre in wesentlichen Punkten: Bei den bewaffneten Organen stand von Beginn an die "absolute Reinheit des Kaderbestandes" im Vordergrund, d.h. man stellte junge, unbelastete aus der Arbeiterklasse stammende SED-Mitglieder ein, die zunächst von erfahrenen Altkommunisten geführt wurden und nahm dabei fehlende Expertise und Fachwissen in Kauf. Ständige Personalsäuberungen sorgten dafür, dass selbst Angehörige der Blockparteien ausscheiden mussten. Dennoch war auch hier der Anteil von ehemaligen NSDAP-Mitgliedern unter dem Führungspersonal mit sechs Prozent 1950 bzw. elf Prozent 1955 höher als erwartet, was vor allem auf das Verschweigen dieser in der Regel nominellen und spät erfolgten NSDAP-Mitgliedschaft zurückzuführen ist. Dagegen lag der Anteil von ehemaligen NSDAP-Mitgliedern bei dem Führungspersonal der untersuchten zivilen Abteilungen bei bis zu 30 Prozent. In diesen vermeintlich unpolitischen Abteilungen war der SED-Staat in den ersten Jahren seiner Existenz nicht nur auf bürgerliche Experten angewiesen, sondern auch bereit, sie samt ihrer Vergangenheit zu akzeptieren. Dabei war im Gegensatz zur Bundesrepublik ein zentrales Moment, dass die Belastungen nicht öffentlich werden durften, damit sie den staatlich verordneten Antifaschismus nach innen und nach außen nicht diskreditieren konnten. Es sollte noch bis Ende der sechziger Jahre dauern, bis ein nach den Vorstellungen der SED-Führung kadermäßig homogenes Ministerium geschaffen war.
Nicht nur der Personalbestand sollte ausgetauscht, sondern auch ein Bruch mit der preußischen Verwaltungskultur vollzogen werden. Dazu bedurfte es mannigfacher, organisatorischer Veränderungen im Laufe der fünfziger Jahre. Die Autoren/innen konstatieren zwar die Beibehaltung der Schriftlichkeit als zentrales Element von Verwaltungshandeln, machen aber eine ausgeprägte Mündlichkeit bei Entscheidungsfindungen und Beschlussfassungen aus. Dabei heben sie die Bedeutung der 1952 eingeführten Kollegien als Beschlussfassungsorgane hervor, allerdings hatten die Kollegien nur beratende und keine Entscheidungsbefugnisse. Der Untersuchungszeitraum war auch in diesem Bereich durch eine ständige Anpassung und Verbesserung von Arbeitsabläufen gekennzeichnet, bis am Ende ein Ministerium entstanden war, das die Entscheidungen der SED ohne Reibungsverluste exekutierte.
Die sehr aufschlussreiche Untersuchung der beiden deutschen Innenministerien macht nochmals deutlich, dass in der Zeitgeschichte einerseits eine differenzierte Neubewertung der Demokratiedefizite der Ära Adenauer ansteht, andererseits die Rolle von Bürokratien bei der Etablierung, Durchsetzung und Sicherung der SED-Herrschaft in der zukünftigen Forschung eine größere Rolle spielen sollte. Darüber hinaus unterstreichen die Ergebnisse der Studie die Sinnhaftigkeit eines Ansatzes, der das geteilte Deutschland als Ganzes in den Blick nimmt. Sie machen aber auch deutlich, dass Prägungen und Traditionen in deutschen Ministerien überdauerten, die hinter die NS-Zeit zurückreichten. Dies ist auch ein Plädoyer dafür, den Untersuchungszeitraum solcher Studien auf das gesamte 20. Jahrhundert zu erweitern.
Anmerkung:
[1] Die Autoren und Autorinnen des Bandes sind: Martin Diebel, Frieder Günther, Franziska Kuschel, Lutz Maeke, Stefanie Palm, Maren Richter, Dominik Rigoll, Irina Stange, Jan Philipp Wölbern.
Daniela Münkel